20. Dezember 2012

NDR Sinfonieorchester – Semyon Bychkov.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, 1. Rang rechts, Loge 9, Reihe 1, Platz 2 bzw. 3



Paul Dukas – L’apprenti sorcier „Der Zauberlehrling“
Maurice Ravel – Klavierkonzert Nr. 2 D-Dur „Klavierkonzert für die linke Hand“ (Kirill Gerstein)

(Pause)

Igor Strawinsky – Petruschka (Fassung von 1947)



Eine naive Frage: Was hat die Liebe zur Musik mit der Liebe zu einem Menschen zu tun? Speist sich diese wie jene aus ein und derselben Quelle? Oder handelt es sich um gänzlich verschieden gelagerte Regungen? Liebe. Das ist ja auch kein kleines Wort, trotz seiner Kürze. Wie heißt es doch so schön im Tristan – „dies süße Wörtlein: und“. Die Verbindung zweier Pole, um (auch mit sich selbst) eins zu werden. Mensch und Musik, Mensch und Mensch, eben besagte Pole. Mitunter vielleicht Universen.

Ach ja richtig, es gab ein Konzert. Mit dem Zauberlehrling kann man ein Orchester von seiner besten Seite zeigen – wenn es denn eine solche hat. Nein im Ernst, das war schon ziemlich gut – differenziert, kraftvoll, mitreißend. Auf den Ravel hatte ich mich am meisten gefreut. Was für ein traumhaftes Stück. Nebenbei bemerkt enthält dies Werk nahezu alles, wofür ich auch Britten liebe. Die Kontraste. Das Auftrumpfende, das Zarte, das Groteske. Und gerade an den Kontrasten hätte man heute noch etwas drehen können. Mehr Gewalt, mehr Mechanik, mehr von diesem spröden Charme des kauzigen Herzensbasken. An dem Solisten hat es wohl nicht gelegen. Beherzt, zupackend, energisch – so soll es sein. Womit wir der unendlichen Geschichte „Warum das NDR SO nicht mein Lieblingsorchester ist“ ein weiteres Kapitel hinzufügen könnten und eine passende Überleitung zum schwächsten Teil des Abends – Strawinskys Petruschka – gefunden wäre.

Warum schwächster Teil? Semyon Bychkov ist ein guter Dirigent, der ein Orchester offenbar zu inspirieren und motivieren weiß. Aber auch jemand wie er kann bestimmte Klangfarben des NDR nicht einfach umlackieren. Dabei sind in meinen Ohren nach wie vor nur die Bläser das Problem, genauer: das Blech. Und es ist ja auch nicht so, daß ich hier am laufenden Band Enttäuschungen erlebt hätte. Ich erinnere noch mal an die fantastische Peer Gynt Aufführung unter Hengelbrock oder die Pathétique mit Honeck. Wobei auch bei letztgenanntem Konzert das Blech nicht vollends zu überzeugen wußte. Doch zurück zum heutigen Abend. Ich muß dazu sagen, daß Petruschka in meiner Gunst weit hinter den geliebten Schlagern Feuervogel und Sacre zurückbleibt. Dieses ganze Drehorgel- und Volkston-Geschnetzelte macht aus struktureller Sicht einen Riesenspaß, spricht mich vom musikalischen Material her aber nicht wirklich an.

Und nun der Knackpunkt: Wenn dann z.B. Das Blech, als in diesem Stück äußerst virtuos und im wahrsten Sinne tonangebend gehandhabte Einheit nicht über entsprechende Klangfarben verfügt, bleibt der Spaß doch irgendwo auf der Strecke. Bestes Beispiel dafür war die Tuba – da interessiert mich nicht, ob der Solist die Töne trifft, es klingt einfach nach Nichts. Es mag von Arroganz zeugen, aber in einem derart virtuosen Stück möchte ich nicht, daß es sich bei den Einsätzen der Hörner und Trompeten so schrecklich nach Arbeit anhört. Ich möchte nicht bangen sondern genießen. Und um die Posaunen nicht auszulassen – weitgehend harmlos. Richtig, aber harmlos. Sehr schade, bedenkt man zumal den traumhaften Streicherklang, den dieses Orchester seit Jahren abruft. Irgendwie ermüdet mich dieses Thema nur noch. Aber ich versuche es halt immer wieder. Warum auch nicht. Ich hörte, Menschen ändern sich bisweilen – warum dann nicht auch ganze Orchester?

14. Dezember 2012

Der Rosenkavalier – Simon Rattle.
Staatsoper im Schillertheater Berlin.

19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16



1. Akt
Klassische Inszenierung ohne weitere Deutungsebene. Funktioniert. Barocke Garderobe. Große Toilette. Pomp. Damien Hirst Toten-Ballmaske als Anspielung auf die Vergänglichkeit. Ein schräger Kronleuchter. Allerlei verhaltensauffälliges Volk beim Lever. Der Sänger ohne Beine und leider auch ohne Schmelz. Lerchenauische Provinz-Raubritter, Leopold mit Joker-Mund. Die personifizierte Unberechenbarkeit, durch sein bloßes Auftreten sehr intensiv. Ein Zwerg statt einem Mohr, dieser bedient sich dann aber eines Servierwagens in Form eines Mohren. Aha.

Röschmann und Kozená umwerfend. Von Rattle mit Hilfe der farbgewaltigen, edlen Staatskapelle in höchste Verzückungssphären erhoben. Monolog der Marschallin von ergreifendster Sensibilität. Rose etwas verhalten – Erkältung. Andere unauffällig.

2. Akt
Kurzweilige Inszenierung. Die Chaostruppe derer von Lerchenau sorgt für Stimmung. Ein wunderbares Schlussbild: Leopold blickt in den Kristall des Cognacstöpsels. Hübsche Wandlung des Bühnenbildes durch die illuminierten Harnische. Putzig: Die Weltkugel-Minibar – so säuft ein Mann von Welt.

Peter Rose muß nun doch aufgeben. Jürgen Linn leiht ihm von der Bühnenseite seine Stimme, der Brite gibt szenisch weiterhin einen mireißenden Ochs. Schade, daß er nicht auch stimmlich glänzen konnte, aber sein Einspringer macht seine Sache mehr als gut – sehr dialektsicher und textverständlich.

Duett Kozená / Prohaska genial. Zartest. Eine phänomenale Live-Leistung. Für solche Qualität muß man sonst tief in die Plattenkiste greifen. Faninal sehr gut, Top-Organ und Wohlklang.

3. Akt
Scharade nett gemacht, trotzdem ist das nicht mein Humor. Theaterstadl. Ich wiederhole mich. Terzett und vor allem Duett am Ende himmlisch.

Ein ganz großes Lob noch mal an Rattle. Feinheiten, wie sie heute an der Tagesordnung waren, ist man sonst im Idealfall vielleicht aus Konzert und Studio gewohnt, gehören in der Oper jedoch zu den ersehnten Ausnahmen.


Richard Strauss – Der Rosenkavalier
Musikalische Leitung – Simon Rattle
Inszenierung – Nicolas Brieger
Bühnenbild – Raimund Bauer
Kostüme – Joachim Herzog

Die Feldmarschallin – Dorothea Röschmann
Der Baron Ochs auf Lerchenau – Peter Rose / Jürgen Linn
Octavian – Magdalena Kozená
Herr von Faninal – Michael Kraus
Sophie – Anna Prohaska
Leitmetzerin – Carola Höhn
Valzacchi – Torsten Hofmann
Annina – Anna Lapkovskaja
Ein Polizeikommissar – Tobias Schabel
Der Haushofmeister der Ferldmarschallin – Torsten Süring
Der Haushofmeister bei Faninal – Michael Smallwood
Ein Sänger – Stephan Rügamer
Eine Modistin – Narine Yeghiyan
Diener der Marschallin – Michael Markfort
Ein Notar – Tobias Schabel

Kinderchor der Staatsoper unter den Linden
Staatsopernchor
Staatskapelle Berlin

9. Dezember 2012

Liederabend – Daniel Behle.
Laeiszhalle Hamburg, Kl. Saal.

19:30 Uhr, Parkett Mitte rechts, Reihe 10, Platz 8


















Franz Schubert – Die schöne Müllerin op. 25 / D795
Zugaben: Das Wandern / Am Feierabend / Ungeduld

(Daniel Behle – Tenor, Alexander Schmalcz – Klavier)



Wenn man in der U-Bahn nach Hause mit tauben Händen und pochendem Herzen sitzt, kann der Abend nicht ganz schlecht gewesen sein. Nun gibt es sicher generell schwächere Anwälte für die Musik als Schubert, aber selbst das Höchste will vermittelt werden. Und da kam heute Daniel Behle ins Spiel. Dachte ich anfangs noch, seine Stimme gerate neben dem allzu beherzt zupackenden Alexander Schmalcz etwas ins Hintertreffen, stellte sich doch sehr bald eine Balance zwischen beiden ein, die im Folgenden die Basis für einen Liederabend von größter Qualität und Intensität bildete.

Herr Behle besitzt eine dieser selten feinen, schlanken, dabei absolut durchsetzungsfähigen Tenorstimmen, mit denen der Liedvortrag zum lyrischen Triumph im doppelten Sinne wird. Wohlklang und Technik sind das eine, Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zur Gestaltung in Dienste der zu transportierenden Botschaft – semantisch wie emotional – mindestens ebenso wichtig. Glücklicherweise fühlt man sich auch in dieser Beziehung beim Solisten des Abends sehr gut aufgehoben.

Und was hält dieser Zyklus für Momente bereit! „Der Neugierige“, „Tränenregen“ ... Allein die Vertonung der Zeile „Mein Schatz hat‘s Grün so gern“ in „Die liebe Farbe“ trägt in ihrem Changieren zwischen leidenschaftlicher Sehnsucht und bitterster Verzweiflung so viel leise Wucht im Herzen, daß es einen darüber fast zerreißen mag. Und dann der Schluß mit „Des Baches Wiegenlied“: „Blickt nicht herein, Blaue Blümelein! Ihr macht meinem Schläfer die Träume so schwer.“ Eine wissende, friedvolle Trauer um das Vergangene, ein gelöstes, gleichsam schwermütiges Erinnern, wie es vor allem dann bei Mahler wieder zu Tage treten sollte. Im Wissen um solche Musik liegt ein Trost, der schwer in Worte zu fassen ist.

5. Dezember 2012

Ensemble Matheus – Jean-Christoph Spinosi.
Laeiszhalle Hamburg

19:15 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16



Georg Friedrich Händel – Der Messias

(Adriana Kucerova – Sopran, Sonia Prina – Alt, Topi Lehtipuu – Tenor, Christian Senn – Bass, les éléments)

Schneegestöber in Hamburg. Keine Lust, das Abokonzert wahrzunehmen. Man geht trotzdem hin. Wie oft schon hat sich ein erwartungsleerer Abend dann doch als Juwel entpuppt. Der heutige zeigte: Keine Regel ohne Ausnahme. Einen solchen Kampf aufs Blut mit dem Sandmann wünsche ich nicht dem schlimmsten Mozartfreund. Dabei machte die fesselnde Einführung – wieder mal brillant: Lars Entrich (geschliffen, informativ, anschaulich) – hoffen auf wahrhaft große Ereignisse. Groß war dann leider nur die Ernüchterung, es auch weiterhin frei nach Jochen Kowalski zu halten: „Ohne Händel kann ich leben.“

Und das lag sicher nicht an der Darbietung. Alle Faktoren sprachen für ein Spitzenkonzert – eben bis auf Händel. Welch ein Spielverderber! Orchester, Chor, Solisten, Dirigat – alles wunderbar, aber bis zur Pause lag mein Konzentrationsschwerpunkt eher darauf, nicht die Reise ins Traumland anzutreten. Für die zweite Halbzeit hatte ich mich dann gewissermaßen wachgestresst, es half aber trotzdem nicht weiter. Ich konnte mich zwar nun auf die Musik konzentrieren, begann jedoch, von stetig wachsender Langeweile in die Ecke gedrängt, aus Verzweiflung den Gesangstext mit- und das Ende förmlich herbeizulesen. Ist mir so noch nie passiert. Zumindest eine neue Erfahrung für mich.

Wie kann es nur in so vielen Noten so wenig Musik geben? Die Melodik? Die Harmonik? Schnarch! Und ständig diese nervtötenden Wiederholungen! Entweder war der Komponistennotstand auf der Insel weitaus ärger, als ohnehin immer kolportiert, oder die Briten haben nicht nur beim Essen eine niedrige Satisfaktionsschwelle. Wer solche Langweiler annektiert, hat sich das Mitleid der Musikwelt redlich verdient.

Fazit: Händels Messias mag tatsächlich Musik für die Ewigkeit sein – diese Erkenntnis wird mir jedoch für vermutlich selbige verschlossen bleiben, da ich nach dem heutigen Fiasko zukünftig einen großen Bogen darum zu machen gedenke. Luja sog i!

25. November 2012

Die Schneekönigin – David T. Heusel.
Opernhaus Halle.

15:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 13



Zwischenstopp in Halle. Auch ganz nett hier. Ein Café in Opernnähe verkürzt die Wartezeit bei durchwachsenem Wetter. Heute also Ballett – eine Inszenierung des hiesigen Ballettchefs, der im Anschluß an die Aufführung noch zu einer kleinen Nachbesprechung mit Ensemblemitgliedern lud.

Orchester und Dirigat wissen zu überzeugen, vor allem die Streicher klingen sehr gut. Die Akustik scheint mir gut, generell ist die musikalische Komponente mehr als brauchbar. Nicht zuletzt auch aufgrund der umsichtigen Verarbeitung und Verzahnung der Dvořák- und Schostakowitsch-Bruchstücke zu einem stringenten Fluß im Dienste der Handlungsentwicklung. Verblüffend: Ein bestimmter Abschnitt – wohl von Schostakowitsch – klang in meinen Ohren regelrecht nach einer Schwanensee-Kopie – aus welchem Werk mag das wohl stammen und welche Funktion nimmt es dort ein?

Bis auf ein, zwei technische Probleme lief die Vorstellung reibungslos. Einmal verhakte sich der Schlitten der Königin auf der Bühne und vereitelte ihren schwungvollen Abgang, zum anderen – und vielleicht nicht ungefährlich – versagte die Schnürboden-Aufhängung einer überdimensionalen Blüte, die dann mit einem Ruck einige Schrauben-Pollen auf die (belebte!) Bühne regnen lies.

Die Inszenierung an sich wartete mit starken Momenten auf – etwa die Steigerung zum Ende des ersten Aktes oder der unheilvolle Tanz der Schneekönigin mit ihren Sklaven – dennoch hat mir persönlich der ganz große Bogen gefehlt, der alle einzelnen Einfälle und Szenen zusammengehalten hätte. Zwischendurch war ich immer wieder nicht wirklich bei der Sache, zudem kam das Ende für meine Begriffe sehr unvermittelt. Und der brave Bursche hat die Episode als Eis-Schoßhündchen wohl doch nur mit Gefrierbrand überstanden. Naja, ich hätte den Herrn Regisseur ja darauf ansprechen können – hab’s dann aber gelassen. Miesmacher nach getaner Arbeit braucht eh kein Mensch.

Wobei das Hallenser Publikum sich generell eher frostig zeigte. Man wußte nicht so recht, wann und was zu beklatschen, Ankommer waren weniger die zauberhaft sensibel dargebotenen Passagen, sondern eher wenn es laut und bunt wurde auf der Bühne. Auch der Schlußapplaus wirkte irgendwie bemüht, unstimmig, zäh. Kann natürlich auch Einbildung gewesen sein.

Ganz und gar keine Einbildung war leider die nervige Familie hinter mir. Kinder im Theater. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, etwas Nettes, Verständnisvolles zu schreiben. Sowas in der Richtung: Die Kinder sind die Zukunft der Oper. Nur: Dazu fehlt mir der Nerv. Selbiger ist mir nämlich im dummdreisten Gebrabbel desinteressierter Blagen, deren bildungsbürgerliche Eltern ihrem Sproß geflissentlich die Handlung beipulen müssen, ohne zu realisieren, daß wir uns gerade nicht im Telekolleg Gefährliches Halbwissen befinden, abhanden gekommen. Dann doch lieber den ganzen Verein in Würde aussterben lassen. Oder Tablettenabgabe bei Einlaß. Ach was weiß denn ich.

Fazit: Ich hab noch vergessen, den Spruch „sich freuen, wie ein Schneekönig“ unterzubringen – nun denn, es war gut aber man muß ja auch nicht übertreiben.


Die Schneekönigin – Ballett von Ralf Rossa
Musik von Antonín Dvořák und Dmitri Schostakowitsch
Musikalische Leitung – David T. Heusel
Choreografie und Inszenierung – Ralf Rossa
Bühne und Licht – Matthias Hönig
Kostüme – Heike Becker

Die Schneekönigin – Michal Sedláček
Kay – Zdenko Galaba
Gerda – Hyona Lee
Die Fee im Garten – Markéta Šlapotová
Die Krähe – Dalier Burchanow
Die Hure – Denise Dumröse
Das Räubermädchen – Paloma Figueroa
Die Mutter – Johanna Raynaud
Prinz und Prinzessin – Andriy Holubovskyy, Marion Schwarz
Freunde von Kay und Gerda – Tobias Almási, Jonathan dos Santos, Pietro Chiappara

Staatskapelle Halle

24. November 2012

Kleider machen Leute – Ulrich Kern.
Theater Görlitz.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 102



Eine neue Stadt, ein neues Haus, ein neues Werk. Görlitz ist eine Reise wert! Wo andere Städte aus ein paar Vorkriegsüberbleibseln eine Altstadt halluzinieren, bleibt man hier Straßenzug um Straßenzug, Platz für Platz von der sogenannten Moderne verschont. Mit dem Material könnte man das halbe Ruhrgebiet wieder passabel herrichten – Kleider machen vielleicht Leute, aber Häuser eben auch Städte.

Warum nun dies seltene Werk in Görlitz? Nach der Konsultation der Inhaltsangabe fügt sich die Wahl in die deutsch-polnische Ausrichtung des Hauses (z.B. zweisprachige Übertitel) – offenbar wird über Wasserpolaken-Witze beiderseits der Neiße geschmunzelt. Die Oper hat mich musikalisch sehr überzeugt, auch wenn die Geschichte von eher leicht verdaulicher Art ist. Muß ja auch nicht immer Menschheitserlösung oder Weltenbrand sein. Das gesamte Ensemble zeigte sich in jedem Fall bestens aufgelegt, um das heitere Verwirrspiel um den falschen Grafen lebendig werden zu lassen.

Besonders gelungen geriet die phantasievolle Einbindung der Tänzergruppe, vor allem bei der Visualisierung der Zwischenmusik der langen Reise. Was man nicht alles mit ein paar Koffern anstellen kann. Der in stetigem Fluss vollzogene Wechsel von Stadt zu Stadt, bzw. von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit zeugte gleichermaßen von Witz und Kreativität. Generell hielt die Inszenierung eine Fülle humorvoller Seitenhiebe bereit. Beispielsweise die Charakterisierung der „feinen Gesellschaft“, die sich um den fremden Grafen scharrt. Erwähnt sei stellvertretend die Wandlung der Zigarre paffenden Würdenträger-Klone in ihren unförmigen Gummisesseln in hemmungsloses Partyvolk, oder ein Detail wie das allzu gut bekannte ignorante Bonbongeraschel des „Kunstfreundes“ bei der Konzertdarbietung in erlauchtem Kreise.

Die Einteilung der verschiedenen Gruppen durch mehr oder weniger uniforme Kostüme unterstreicht dabei das Beispielhafte und Kleinbürgerliche der parodierten Gesellschaft. Zudem spielt es mit dem Kern des Stückes, daß Menschen (scheinbar) über ihr Erscheinungsbild definiert werden können, bzw. eben doch nur wollen.

Fazit: Eine musikalische Entdeckung aus der Feder Zemlinskys, liebevoll und kurzweilig auf die Bühne gebracht.


Alexander von Zemlinsky – Kleider machen Leute
Musikalische Leitung – Ulrich Kern
Inszenierung – Klaus Arauner
Ausstattung – ÄNN
Choreografie – Dan Pelleg, Marko E. Weigert
Dramaturgie – Sebastian Ritschel
Choreinstudierung – Manuel Pujol
Musikalische Einstudierung – Olga Pujol, Tobias Kruse

Wenzel Strapinski – Jan Novotny
Erster Schneidergeselle – Tommaso Randazzo
Zweiter Schneidergeselle – Carsten Arbel
Der Kutscher / Der Amtsrat – Dieter Goffing
Nettchen – Audrey Larose Zicat
Melchior Böhni – Tim Stolte
Adam Litumlei – Won Jang
Frau Litumlei / Die Köchin – Patricia Bänsch
Polykarpus Federspiel – Michael Berner
Frau Häberlein / Die Wirtin – Özgecan Gencer
Sohn Häberlein – Tommaso Randazzo
Sohn Pütschli – Hans-Peter Struppe
Der Wirt „Zur Waage“ – Stefan Bley
Der Kellner – Keon Lee
Der Kellnerjunge – Laura Scherwitzl
Wenzels Meister – Niko van Harlekin, Dan Pelleg, Marko E. Weigert
Pianistin – Olga Dribas

Tanzcompany des GHT Görlitz-Zittau
Chor des GHT Görlitz-Zittau
Neue Lausitzer Philharmonie

21. Oktober 2012

Parsifal – Donald Runnicles.
Deutsche Oper Berlin

16:00 Uhr, Parkett links, Reihe 8, Platz 21



Mit den liebsten Werken ist es ja so eine Sache – zumindest bei mir. Je teurer der Gegenstand der Zuneigung, desto hehrer das abgespeicherte (Klang-) Ideal, umso unwahrscheinlicher das Eintreten ähnlich erfüllender Ereignisse im Opern- und Konzertalltag. Auch wenn Premieren sich landläufig nicht unbedingt in den Tatbestand des Alltags eingliedern, ist man in ihnen nicht mehr gegen Involvierungsmangel gefeit, als bei weniger beäugten Gelegenheiten. Was wiederum wenig mit musikalischer Güte zu tun haben muß, sondern in der Regel dem Rätsel der subjektiven Wahrnehmung geschuldet ist.

Um es kurz zu machen: Musikalisch gesehen war es ein Abend von hoher Qualität mit vergleichsweise niedriger Wirkung. Runnicles macht das alles andere als monoton oder zäh, ein wirklicher Klangzauber wollte sich für meine Ohren jedoch nur selten einstellen. Auch die Sängerriege ließ auf dem Papier keine Wünsche offen – auf mehreren Positionen wurde zur im Vorfeld angekündigten Besetzung gar ein „Upgrade“ vorgenommen – dennoch war es insgesamt nicht mein Ensemble.

Mit Matti Salminen konnte ich heute nicht viel anfangen, die Textverständlichkeit schien mir wenig berauschend und die allseits gepriesene Bühnenpräsenz (die in der Hamburger Chowanschtschina-Aufführung fraglos beeindruckte) konnte ich mir nicht herbeireden. Das Publikum liebt ihn auch ohne mich. Evelyn Herlitzius hat eine wunderbare Stimme, ist eine zwingende Kundry – nur leider nicht meine. Das hat nichts mit Technik oder Klangfarben zu tun, ihre Stimme ist halt nicht ganz mein Geschmack. Was ihre fantastische Leistung an diesem Abend um keinen Deut schmälert, insbesondere auch darstellerisch. An Intensität wurde sie allenfalls noch von Thomas J. Mayer übertroffen, der einen Gralskönig bot, wie ich ihn, gemessen am Grad der Selbstzerfleischung, gepaart mit erschütternder Stimmgewalt, live noch nicht gehört habe. Thomas Jesatko und Albert Pesendorfer hinterließen ebenfalls einen starken Eindruck.

Wie verhielt es sich da mit dem Titelhelhelden? Ich möchte mal sagen, es gestaltete sich schwierig für mich. Hätte ich bis relativ kurz vor dem Schluß des zweiten Aufzugs, von widrigen Umständen getrieben, die Vorstellung verlassen müssen, so wäre mein erster Direkt-Eindruck des Sängers Klaus Florian Vogt ein äußerst ernüchterter gewesen. Erst die Spitzentöne am Ende von Akt und Klingsorreich ließen mich – nun aber umso deutlicher – aufhorchen. Sehr ätherisch, entrückt, dabei klar und den Orchesterklang scheinbar mühelos durchschneidend. Momente wie diese sollten auch noch im dritten Aufzug folgen, dennoch ist Herr Vogt insgesamt leider auch nicht – man ahnt es – „mein“ Parsifal. Warum denn um Himmels Willen nicht, blickt er doch momentan als „neuer deutscher Heldentenor“ heldisch versonnen mit Brustpanzer und Schwert vom Albumcover? Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: ich zweifle keinesfalls am Ausnahmetalent dieses Sängers – sehr wohl jedoch an seiner Heldentauglichkeit. Ich kann mir diese Stimme sehr gut in Oratorien, vielleicht auch bei manchen Britten-Stücken vorstellen. Dort käme das fein Schwebende, geradezu Entkörperlichte zur Geltung – dieser Parsifal jedoch singt schön aber ohne Kern. Zumal mich die Stimme in den lang anhaltenden rezitativartigen Passagen eher ermüdet. Nun ja, Geschmäcker sind eben verschieden – um dieses Kapitel für heute abzuschließen.

Wobei – eigentlich geht es ja im gleichen Fahrwasser weiter: Die Inszenierung und der Geschmack. Ei, was war das für ein Buh und Bäh nach der Endweihe, beantwortet von erbitterten Jubelbezeugungen der Gegenpartei. Und was konnte man in den Tagen danach nicht alles Putziges über wahlweise Oberammergau-, Indiana Jones- oder Mottenkistenästhetik lesen. Gemeint und kritisiert war jeweils immer das Gleiche: Die opulente, angeblich konservative Ausstattung und Tableauxbildung im Stile von Monumentalfilmen oder lebendigen Gemälden. In mir hat diese ästhetische „Kontroverse“ nichts als Verblüffung verursacht. Beispielsweise diese oftmals mitschwingende Frage „darf man das so inszenieren?“ – Bitte? Was soll hier denn für ein Problem konstruiert werden? Den einzig für mich halbwegs überdenkenswerten Kritikpunkt, daß mit der bibeltreu ausinszenierten Kreuzigungsszene religiöse Gefühle verletzt werden könnten, sehe ich persönlich völlig ins Leere laufen, weil gerade diese Szene in ihrer „Authentizität“ auf mich äußerst sensibel umgesetzt wirkte. Und wer die wagnersche Verquickung von tradierten religiösen Symbolen und Privatreligion bzw. –Ideologie nicht ertragen kann, sollte sich generell fragen, was er oder sie im Parsifal verloren hat.

Ja aber die Musik ist doch so schön. Schon klar. Was mir an der Inszenierung gefallen hat, war gerade die Tatsache, daß Stölzl das Werk und seinen Text ernst nimmt. Ob seine Schlüsse daraus dann die richtigen, oder tiefgreifend genug sind – oder ob er es überhaupt darauf anlegen will oder kann – das wär dann eher meine Fragestellung. Die scheinbar reaktionäre Ästhetik der Inszenierung, die allein schon durch ihre fast allzu offensichtlich zelebrierte Brechung – erst in der „modernen“ Einfassung des Bühnenbildes, betont kulissenhaften Elementen wie der Gralsburg oder dem Kostümfremdkörper Parsifal, dann stärker noch im als Bruch ausgestalteten Zeitsprung zum dritten Aufzug – ist vieles, nur nicht plump.

Natürlich kann man sich fragen, ob es eine Frage von Konsequenz oder Penetranz ist, all die herrlichen Monologe und verbalen Rückblenden ausnahmslos auch visuell vor-(und wieder-)gekaut zu bekommen. Mich hat das absolut nicht gestört, ich bin mir sogar sicher, daß diese Methode einem Parsifal-Neuling (und wahrscheinlich auch nicht wenigen treuen Abonnenten) deutlich mehr von der Handlung ohne Handlung mitgibt als gewöhnlich und heute sicher manchen Schlummermoment durch Aktion vereitelt hat. Sind die Tableaux vivants unbedingt nötig? Natürlich nicht. Aber in dieser Inszenierung muß ich sagen: kann man so machen!

Womit ich beim Problem angelangt bin, das ich mit der Produktion habe. Gemessen am ästhetischen Potenzial der Inszenierung bin ich ratlos ob ihrer unter dem Strich mittelprächtigen Wirkung bei mir. Alles sieht wunderbar aus, die Kostüme erlesen und aufwändig, die Ausleuchtung von plastischer Finesse. Selbst dieser Möchtegern-Zeitlupen-Effekt, den ich eigentlich hasse wie die Pest, gelang hier mehrfach richtig gut. Vor allem in den Massenszenen mit ihrem organisiert-organischen Chaos. Der Aufbruch der kriegslüsternen Gralsritter ist schon auch optisch ein Knaller. Da möchte man fast mitmeucheln – man reiche mir ein Schwert! Ne, das ist natürlich sicher alles irre kritisch gemeint. Ist ja insgesamt betrachtet auch eher ein mittelcooler Haufen, diese Gralsjunkieselbstshilfegruppe. Aber noch mal: am Schluß bleibe ich mit dem gleichen Gefühl einer verpaßten Chance wie beim Rienzi aus selbiger Feder zurück. Dessen Ästhetik war ähnlich zwingend und der Gesamteindruck ebenfalls mit deutlichen Einbußen. Was ist also das Problem? Oder was ist meines, um im Duktus dieses Schriebs zu bleiben?

Ich weiß es nicht. Was ich weiß: ich habe nichts gegen Gralsritter, die wie Gralsritter aussehen, eine Klingsorwelt zwischen Voodoo und Azteken-Opferkult (im Gegenteil – ein schlüssiger Griff, den Gralskult mit einem ähnlich blutigen als Gegenkonzept zu kontrastieren), nichts gegen einen Erlöser im Anzug und nichts gegen ausinszenierten Weihrauch. Vielleicht stand doch in erster Linie das etwas kryptische Ende der Regiearbeit einem szenischen Triumph im Weg. Warum begeht Amfortas Selbstmord? Ist Kundrys Zwangstaufe als Fundamentalismuskritik zu verstehen? Wen verlacht sie am Schluß? Die neue Gralsgeneration? Eine Art Endlosschleife der Geschichte? Ihr eigenes Schicksal? Ist ihr Lachen Ausdruck von Verzweiflung? So ganz klar wurde das nicht. Und dabei war es unerheblich, ob die Fanatiker in Kettenhemd oder Parka eiferten.

Fazit: Ein bemerkenswerter Abend, der aus vielerlei Gründen am denkwürdigen vorbeigeschrammt ist. Ich werde die Produktion nach Möglichkeit mit anderer Besetzung noch einmal auf mich wirken lassen.


Richard Wagner – Parsifal
Musikalische Leitung – Donald Runnicles
Inszenierung – Philipp Stölzl
Co-Regie – Mara Kurotschka
Bühnenbild – Philipp Stölzl, Conrad Moritz Reinhardt
Kostüme – Kathi Maurer
Licht – Ulrich Niepel
Chöre – William Spaulding
Kinderchor – Christian Lindhorst
Dramaturgie – Dorothea Hartmann

Amfortas – Thomas Johannes Mayer
Titurel – Albert Pesendorfer
Gurnemanz – Matti Salminen
Parsifal – Klaus Florian Vogt
Klingsor – Thomas Jesatko
Kundry – Evelyn Herlitzius
1. Gralsritter – Burkhard Ulrich
2. Gralsritter – Andrew Harris
1. Knappe – Kim-Lillian Strebel
2. Knappe – Annie Rosen
3. Knappe – Paul Kaufmann
4. Knappe – Matthew Pena
Blumenmädchen (1. Gruppe) – Hulkar Sabirova, Martina Welschenbach, Rachel Hauge
Blumenmädchen (2. Gruppe) – Hila Fahima, Annie Rosen, Dana Beth Miller
Stimme aus der Höhe – Dana Beth Miller

Chor der Deutschen Oper Berlin
Kinderchor der Deutschen Oper Berlin
Orchester der Deutschen Oper Berlin
Opernballett der Deutschen Oper Berlin

20. Oktober 2012

Konzerthausorchester Berlin – Gennadi Rozhdestvensky.
Konzerthaus Berlin.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 8, Platz 15



Pjotr Iljitsch Tschaikowsky – Klavierkonzert Nr. 2 G-Dur, op. 44 (Viktoria Postnikova)

(Pause)

Pjotr Iljitsch Tschaikowsky – Manfred-Sinfonie h-Moll, op. 58



Launige Einführung mit einem Kauz, der gefühlt alle halbe Minute die Mahnung von sich gibt, daß uns allen ein anstrengendes Konzert bevorstünde. Inhaltlich und vom Unterhaltungswert aber sehr zu gebrauchen. Der Präsentationsstil ruft in mir leichte Wacker-Reminiszenzen hervor. Apropos, wann ist eigentlich die nächste Opernwerkstatt?

Zum Konzert selbst ist nicht viel zu sagen, außer daß es – Überraschung – recht anstrengend wurde. Allerdings weniger aufgrund des angekündigten zweistündigen romantischen Aufwühlpotentials, sondern mehr durch den Umstand, daß mich weder das Klavierkonzert noch die Manfred-Sinfonie zwingend zu fesseln wußten. Zur Ehrenrettung (und optionaler zukünftiger Behauptung des Gegenteils) sei gesagt, daß es sich bei beiden Werken um meinen Erstkontakt handelte. Urteilsstand heute bleibt jedoch, daß ich dem allgemeinen Konzertbetrieb seine weitgehende Vernachlässigung dieser Stücke nicht zur Anklage stellen kann. Darüber hinaus konnte ich mit Maestro Rozhdestvensky nebst Gattin zwei weitere prominente Vertreter meiner Plattensammlung in Fleisch und Blut erleben. Erkenntnisse: Er bevorzugt es extrabreit, aber durchaus nicht spannungslos, sie sollte man ruhig mal gehört haben. Das Konzerthausorchester wie gewohnt.

Sonst noch was? Ach ja, hinter mir ein paar dummschwätzende Hohlbirnen, die sich unter anderem darüber mokieren, daß das Programm vor „Fehlinformationen“ strotze – was denn die beiden Streichersolisten in einem Klavierkonzert verloren hätten und warum es statt der Dirigentin nun einen Dirigenten gäbe. Und wie so oft geht Sachverstand mit Fingerspitzengefühl einher: immer schön in den Satzanfang reinlabern. Ein Traum.

Im Anschluß an das Konzert gab es noch eine lockere Diskussionsrunde mit dem Herrn der Einführung und zwei Orchestermitgliedern. Ein kurzweiliger, interessanter Plausch über Werk, Probenprozess, verschiedene russische Dirigenten sowie das Russische in der Musik im Allgemeinen. Für zwei Tage Arbeit mit dem Maestro konnte sich das Ergebnis absolut hören lassen.

Fazit: Tschaikowsky ist und bleibt ein Guter, aber die Symphonie Fantastique höre ich mir doch lieber im Original an.

7. Oktober 2012

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny –
Markus Poschner. Theater Bremen.

18:00 Uhr, Stehplatz, Reihe 10, Platz 15



Der Opern- und Konzertbetrieb ist ja bekanntlich eine recht konservative, in höchstem Maße ritualisierte Angelegenheit. Abweichungen von der Norm, dem Altbekannten, seien es programmatische oder inszenatorische, laufen häufig Gefahr, eher mit Ablehnung oder Desinteresse denn mit Enthusiasmus vergütet zu werden. Umso tröstlicher, daß man hin und wieder dennoch Versuche erleben kann, aus der Präsentationsroutine auszubrechen.

Am Theater Bremen hat man dazu diese Spielzeit in der Mahagonny-Produktion besonders eindrucksvolle Gelegenheit. Das Regiekonzept sieht vereinfacht ausgedrückt die Verlagerung bzw. Ausweitung der Bühne auf verschiedene Räumlichkeiten in und vor dem Theater bei gleichzeitiger Einbindung des Publikums in die Handlung vor. Das Parkett ist bis auf einige löbliche Zugeständnisplätze für ältere Semester seiner Bestuhlung beraubt, das Orchester hat auf der eigentlichen Bühne Platz genommen, die abgedunkelten Foyers und Gänge sind als zusätzliche Spielorte von heimeligen Retrolampen illuminiert. Im ganzen Haus sind Monitore und Projektoren angebracht, auf denen das dezentrale Geschehen Dank mobiler Kamerateams verfolgt werden kann. Wer stets live am Puls der Handlung sein möchte, sollte besser gut zu Fuß sein, denn die Gründung der Netzestadt vollzieht sich in stetigem Ortswechsel.

Ich muß zugeben, daß mich dieses Konzept anfangs eher abgeschreckt hat. Als großer Verehrer des Stücks und seiner schier unerschöpflichen Reichtümer unterschiedlichster musikalischer Formen und Formeln befürchtete ich, daß hier einem großen Werk in übermotiviertem Aktionismus großes Leid zugefügt werden würde. So nahm ich in den ersten Minuten wie aus altem Trotz auf einem der wenigen vorhandenen Sitze Platz, ließ Konzept Konzept bleiben und schmollte ein wenig verunsichert in die Runde. Glücklicherweise überstimmten mich meine Neugier und die Erkenntnis, daß sich ja schließlich nicht allzu oft die Gelegenheit böte, ungestraft in einer Vorstellung herumzulatschen. Wenn schon, denn schon.

Mein Wagemut sollte belohnt werden: es folgte die Teilnahme an einer inspirierten, schlüssigen, im Wortsinne involvierenden Inszenierung, die vor allem für ihre vielschichtige Choreografie aller Beteiligten größten Respekt verdient. Insbesondere die Leistung der Choristen, die sich als Bewohner der Stadt unter das Publikum zu mischen hatten, teilweise in Interaktion zu ihm traten, kann in Bezug auf Konzentration und Aktivierung gar nicht hoch genug bewertet werden. Keine Ahnung, wie oder ob das geprobt werden konnte, aber faszinierend, wie aus kalkuliertem, dramaturgisch motiviertem, kein musikalisches Chaos wurde.

Die Regiearbeit im Detail sprüht nur so vor intelligenten Einfällen bzw. Umsetzungen des Librettos. Die Saufszenen finden standesgemäß an der Bar im Gastrobereich des Hauses statt, passenderweise wird die preisliche Entwicklung des Alkohols gleich am lebenden Objekt in Form des allerorten munter vollzogenen Sektausschanks umgesetzt. Die Holzfällertruppe um Jim betritt nach der Vorfahrt im Taxi den roten Teppich, der sie in die Mahagonny-Seligkeit führt. In Erwartung des nahenden Hurrikans werden alle Beteiligten inklusive Besucher in den Schutz des Zuschauerraums getrieben. Man verschanzt sich. Wärmende Decken und Klappstühle werden verteilt. So viel Nähe und Fürsorge im Angesicht der Gefahr schweißt zusammen. Vom Saalhimmel regnet es Flugblätter zum gemeinsamen Mitsingen. Das Treiben des verschonten Sündenpfuhls wird fortan äußerst plastisch und intensiv geschildert. Viel „realer“ kann im Theater kaum totgefressen oder –geschlagen werden. Auch hier: mein Respekt an die intensive Darstellung der Solisten und Choristen, die trotz aller szenischen Entäußerung das Singen nicht vergessen. Wenn beispielsweise Jakob zwischen den Fleischbrocken hindurch das nächste Kalb herbeisingt-sehnt, ist ein Grad der Verschmelzung von Theaterkunst, Anklage wider Voyeurismus und Tatenlosigkeit sowie Empathiegewinnung erreicht, wie sie Brecht und Weill im Sinn gehabt haben mögen.

Es ist keine Übertreibung, diesen Abend als (Theater-)Erlebnis von selten erreichter Intensität zu bezeichnen. Das kraft- und gehaltvolle Dirigat des GMD Markus Poschner hat daran – wie so oft im auch in dieser Hinsicht Glück behafteten Bremen – seinen Anteil. Beim Ensemble fällt neben sängerischer Qualität die zwingend typgerechte Rollenbesetzung und -Gestaltung auf. So ist Identifikation ein Leichtes. Eine Anmerkung noch zur Fassung: die ein oder andere Nummer (z.B. „Spiel von Gott in Mahagonny“) habe ich vermißt, dies ist wahrscheinlich dem Konzept der Aufführung ohne Pause geschuldet.

Fazit: Die ganze Produktion spiegelt die Liebe und Hingabe aller Beteiligten zu ihrer Arbeit wider und ist ein gelungenes Beispiel dafür, daß es sich von Zeit zu Zeit lohnt, die gewohnten Pfade zu verlassen, um Altbekanntes neu strahlen zu lassen.


Kurt Weill – Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Musikalische Leitung – Markus Poschner
Regie – Benedikt von Peter
Bühne – Katrin Wittig
Kostüme – Geraldine Arnold
Video – Bert Zander
Chor – Daniel Mayr
Werktätigenchor – Thomas Ohlendorf
Choreografische Mitarbeit – Jacqueline Davenport
Licht – Christian Kemmetmüller
Dramaturgie – Sylvia Roth

Leokadja Begbick – Nadja Stefanoff
Fatty, der Prokurist – Luis Olivares Sandoval
Dreieinigkeitsmoses – Karsten Küsters
Jenny Hill – Marysol Schalit
Jim Mahoney – Michael Zabanoff
Jakob Schmidt – Christian-Andreas Engelhardt
Bill, genannt Sparbüchsenbill – Loren Lang
Joe, genannt Alaskawolfjoe – Christoph Heinrich
Sechs Mädchen von Jenny – Karin Maria Brenner, Cordula Fritz-Karsten, Lusine Ghazaryan, Anna-mária Melkovics-Féher, Irina Ostrovskaia, Alina Wodnicka, Anne-Kathrin Auch, Caroline Klöckner

Chor des Theater Bremen
Werktätigenchor des Theater Bremen
Bremer Philharmoniker

27. September 2012

Liederabend – Jonas Kaufmann.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 9, Platz 15



Franz Liszt – Vergiftet sind meine Lieder S 289
Franz Liszt – Im Rhein, im schönen Strome S 272/1
Franz Liszt – Freudvoll und leidvoll S 280
Franz Liszt – Es war ein König in Thule S 278/2
Franz Liszt – Ihr Glocken von Marling S 328
Franz Liszt – Die drei Zigeuner S 320
Gustav Mahler – Ich atmet' einen linden Duft (Rückert-Lieder)
Gustav Mahler – Liebst du um Schönheit (Rückert-Lieder)
Gustav Mahler – Blicke mir nicht in die Lieder (Rückert-Lieder)
Gustav Mahler – Ich bin der Welt abhanden gekommen (Rückert-Lieder)
Gustav Mahler – Um Mitternacht (Rückert-Lieder)

(Pause)

Henri Duparc – L'Invitation au Voyage (Mélodies)
Henri Duparc – Phidylé
Henri Duparc – Le manoir de Rosemonde / Das Schloß von Rosemonde
Henri Duparc – Chanson triste / Trauriges Lied
Henri Duparc – La vie antérieure (Mélodies)
Richard Strauss – Schlechtes Wetter op. 69/5
Richard Strauss – Schön sind, doch kalt die Himmelssterne op. 19/3
Richard Strauss – Befreit op. 39/4
Richard Strauss – Heimliche Aufforderung op. 27/3
Richard Strauss – Morgen op. 27/4
Richard Strauss – Cäcilie op. 27/2

Zugaben:
Richard Strauss – Ach weh mir unglückhaftem Mann op. 21/4
Richard Strauss – Freundliche Vision, op. 48/1
Richard Strauss – Wie sollten wir geheim sie halten, op. 19/4
Richard Strauss – Nichts, op. 10/2
Richard Strauss – Zueignung, op. 10/1



Als Jonas Kaufmann die Worte „... und ich geh’ mit Einer, die mich lieb hat ... in den Frieden ...“ aus der zweiten von insgesamt fünf Strauss-Zugaben sang, wurde mir klar, daß man diese – und so viele weitere zuvor an diesem Abend gehörte Stellen – wohl kaum würde aus anderer Kehle jemals so berührend schön vernehmen werden. Durch einen Liederabend im Prinzregententheater vor einigen Jahren und den Münchner Lohengrin zwar vorgewarnt, trifft doch die Ausnahmequalität dieser Stimme bei jedem Hören aufs Neue ins Mark.

Das unverwechselbare, baritonale Timbre, ein Bombenorgan, gefächert von feinst zerstäubtem Schmelz bis triumphalem Stahl, mal kaum mehr als ein süßes Flüstern, dann wieder ein Glanz, der die gesamte Laeiszhalle erfüllt. Überhaupt ein Abend der extremen Kontraste. Immer wieder regelt Kaufmann die Dynamik an den Rand des Möglichen zurück, um das gebannt lauschende Publikum nach solchen Momenten innigster Spannung mit einer Entladung in strahlendster Weise vollends zu berauschen.

Bezüglich der Interpretation hat mir Strauss insgesamt etwas mehr zugesagt als die Rückert-Lieder, wobei das sehr breit angelegte „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ in seiner kaum zu steigernden Intensität unzweifelhaft einen, wen nicht den Gipfelpunkt des Abends markierte. Gerade auch in diesem Fall stellte Helmut Deutsch wieder einmal seine kongeniale Sensibilität unter Beweis. In „Um Mitternacht“ konnte Kaufmann dann vollends seinen Heldenton ausspielen.

In der Darbietung der Duparc-Stücke zeigte sich, wie wunderbar der Sänger auch für das französische Fach geeignet ist – diese Zartheit, diese Lyrik! Aber auch die Liszt-Werke boten reiche Entfaltungsmöglichkeiten, etwa in dem entrückt entschwebenden „Die Glocken von Marling“ oder der bildhaften Beschreibung in „Die drei Zigeuner“.

An Kaufmanns Strauss-Interpretationen gefällt mir besonders die ungezwungene, selbstverständliche Realisation des humorvollen, ironischen Moments – der Mann bringt einfach auch darstellerisch alles mit, und sei es eben in diesen Miniaturen, um das Auditorium für sich zu gewinnen – ohne dafür in die Klamaukschublade greifen zu müssen, wohlgemerkt. Und wenn man dann noch einen Liederabend-Klassiker wie „Morgen“ so scheu, so zärtlich, neu vor dem verwöhnten Ohr erstanden weiß, herrschen nur noch Gewißheit, Erfüllung, Dankbarkeit.

22. August 2012

Amoretti (CD-Präsentation) – Christiane Karg.
Villa Jako Hamburg.

19:30 Uhr, freie Platzwahl



Arien von Wolfgang Amadeus Mozart, Christoph Willibald Gluck und André Grétry

 

Wenn man schon auf den letzten Drücker im Taxi zu einer Veranstaltung braust, bzw. gebraust wird, dann hilft es einem Zuspätkommpaniker wie mir doch ungemein, an einen musisch interessierten Taxifahrer zu geraten. So konnte man die verrinnenden Minuten Richtung Elbchaussee mit einer netten Unterhaltung über Musik, Theater und vieles mehr zumindest zeitweise aus dem Sinn bekommen. Am Ende wurde die nervöse Fracht natürlich doch rechtzeitig am Bestimmungsort abgeliefert.

Besagten Ort, die efeuberankt verwunschen hinter einem alten Portal am Ende eines Privatweges gelegene Villa Jako, den fast schon unscheinbaren Eingang von Säulen gesäumt, hatte ich durch einen Zufall bereits vor einigen Jahren kennengelernt. Die ehemalige Lagerfeld-Behausung diente damals als Kulisse für ein Fotoshooting. Repräsentativ ist das Areal in jedem Fall, so daß der Rahmen der Präsentation der neuen CD „Amoretti“ von Christiane Karg kaum festlicher hätte ausfallen können. So vernahm man im zum Musikzimmer umfunktionierten, wenn auch akustisch nur bedingt geeigneten Wohnsaal Auszüge des Arienprogramms, dargeboten von Frau Karg in Begleitung durch Jonathan Cohen am Flügel, den Dirigenten der CD-Einspielung.

Das Experiment, in kleinem Kreis einen Einblick in das Programm der Aufnahme zu bieten, darf als äußerst geglückt bewertet werden. Dies lag nicht allein am wunderbaren, warmherzigen Vortrag der Sopranistin, sondern auch an Frau Kargs Talent, dem Publikum in kleinen Zwischenmoderationen und Anekdoten den Entstehungsprozeß und ihre Beweggründe bei der Stückauswahl auf interessante, ungezwungene Art nahe zu bringen. Schön zu wissen, wenn sich hinter einer zauberhaften Stimme auch eine sympathische Persönlichkeit verbirgt. Die Vorzüge ihres Gesangs durfte ich ja bereits bei mehreren Gelegenheiten im Konzert- und Opernsaal genießen. Eine zarte, stets warme Stimme, die auch in energischer Höhe nie hart oder schrill klingt, lieblich, wohlig, flexibel – um nur ein paar Attribute zu nennen. Keine sphärische Nymphe, sondern gelebte Emotion.

Schön auch, daß die Künstlerin beim abschließenden Ausklang des Abends im imposanten Garten mit unverbaubarem Elbblick noch zugegen war und für das ein oder andere Gespräch zur Verfügung stand. Genau diese unaufgesetzte Nähe sollten Künstler heute eigentlich viel häufiger zu ihrem Publikum suchen, aber das ist natürlich auch eine Frage der Persönlichkeit.

19. August 2012

Sardanapalus – Bernhard Epstein.
Ekhof-Theater Gotha.

15:00 Uhr, Fürstenloge, Reihe 1, Platz 7



Es mag kreislauffreundlichere Fleckchen geben, um den offiziell heißesten Tag des Jahres zu verbringen, als den Saal des schmucken Ekhof-Theaters mit seiner historisch informierten Klimaanlagenlosigkeit. Auch die Aussicht, vier Stunden Barockoper unter diesen Umstanden als einer von vielen tapferen Transpirateuren auf sich wirken zu lassen, dürfte nicht in jedem das Bild optimaler Sommergestaltung heraufbeschwören. Und selbst in einem Sonnenverächter wie mir keimten leise Zweifel. Mittlerweile weiß ich: völlig unbegründet.

Natürlich ist eine derartige Temperatur der Konzentration schon eher abträglich – Mitfiebern bekommt da eine ganz neue Bedeutung. Auf der anderen Seite erfährt der Begriff Hoftheater an einem solchen Tage eine ungeahnte Demokratisierung: In der Königsloge zählt man nicht weniger Schweißperlen als auf anderen Plätzen. Viel mehr jedoch ist die Aufführung ein schönes Beispiel dafür, wie relevantes, interessantes Theater – und sei es mehr als dreihundert Jahre unaufgeführt – solchen Widrigkeiten zum Trotz in den Bann schlägt, anregt, begeistert.

Dies lag in erster Linie am inspirierten Zusammenwirken aller Teilaspekte der Produktion. Hatte im Vorfeld vor allem die in Gotha zu bestaunende, original erhaltene Bühnenmaschinerie mit ihren fliegenden Kulissenwechseln mein Interesse geweckt, zeigte sich vor Ort jedoch schnell, daß es sich bei dem Festival hier nicht um eine Museumsvorführung mit Musikbegleitung, sondern um eine lebendige Zeitreise in die Welt barocker Opernpraxis handelt. Natürlich gibt es auch hier Zugeständnisse an aktuelle Gepflogenheiten, wie die Verdunklung des Zuschauerraums, jedoch wohl eher, um den Fokus auf das zu stärken, was man hier erarbeitet hat. Und das kann sich in jeder Beziehung hören und sehen lassen.

Dabei gerät die tadellose musikalische Darbietung mit dem Instrumentarium und in Spielweise des 17. Jahrhunderts angesichts einer ebenfalls historisch informierten Aufführungsweise des Szenischen, Darstellerischen für mich als absoluten Barocklaien fast schon in den Hintergrund. Das für mich Beeindruckendste war zweifellos das Erleben der – soweit dies heute überhaupt möglich ist – authentischen Inszenierung inklusive barocker Personenregie. Gerade das Agieren der Darsteller nach einem ausgefeilten Gestenkatalog gehört zum Faszinierendsten, dem ich in letzter Zeit beiwohnen durfte. Wo heute häufig im Theater der Ruf nach Authentizität und Nahbarkeit im Dienste einer Einbindung der Zuschauer ertönt, kann man hier den aus meiner Sicht nicht weniger involvierenden kompletten Gegenentwurf erleben.

Musiktheater als unbestreitbar künstliche Form der Vermittlung geht hier den Weg durch und durch artifizieller, strenger Formelhaftigkeit, um dem Publikum auch gerade auf visueller Ebene den Zugang zu erleichtern. Eine Art Informationschoreografie, die Gesungenes unterstützt, Beziehungen zwischen den Handelnden verdeutlicht, das Geschehen organisiert. Manche Geste läßt mich an Gebärdensprache denken, andere tragen ungemein dazu bei, auch optisch Spannung aufzubauen bzw. zu halten. Wer sich auf dieses Ballett der Gesten und Körper im Raum einläßt, entdeckt an diesem Nachmittag ein ganz neues – uraltes – Konzept für Musiktheater, dem nichts Antiquiertes anhaftet.

Natürlich, die Kostüme und Maske, auch die bemalten Prospekte verweisen auf eine vergangene Zeit, die emotionale Wirkung der Aufführung widerlegt jedoch den ersten Eindruck des Musealen. Es stellt sich mir daher die Frage, ob diese Art der szenischen Choreografie nicht auch beispielsweise in zeitgenössischen Werken – in welcher Form auch immer – Anwendung finden könnte, um auf diese Art die Brücke zum Publikum zu schlagen (Robert Wilson kommt mir da in den Sinn).

Bei aller Begeisterung für das Visuelle (inklusive diverser Balletteinlagen) soll nicht unter den Tisch fallen, daß die Musik selbst ihren Anteil an dieser fast schon kurzweiligen Veranstaltung hatte. Für ein Stück dieser Länge hält es überraschend reiche Beute musikalischer Abwechslung und Erbauung bereit. Höhepunkte an Inspiration und Intensität waren beispielsweise die Klage der Agrina, der Tod der Salomena oder die Arien bzw. Duette mit Countertenor-Beteiligung (Belochus). Das Ensemble lies kaum Wünsche offen, besonderen Eindruck machten neben den Sängern der genannten Rollen noch Markus Flaig als kraftvoller Arbaces sowie Jan Kobow in der bizarren Ausgestaltung der mäßig sympathischen Titelfigur. Zumindest mir erging es so, daß zu seinem selbstgewählten Ende doch Mitgefühl für den reichen armen Irren aufkeimte.

Dem Ekhof-Theater gilt mein Dank, mit dieser Produktion mein Verständnis für Barockes Musiktheater erheblich gemehrt zu haben, dem Stück mein Wunsch, daß es in den nächsten dreihundert Jahren häufiger zum Einsatz kommen möge.


Christian Ludwig Boxberg – Sardanapalus
Musikalische Leitung – Bernhard Epstein
Inszenierung und Choreographie – Milo Pablo Momm
Ausstattung und Kostüme – Jörg Meder
Bühnenbild – Jürgen Weiss, Bettina Schünemann
Szenische Beratung – David Matthäus Zurbuchen

Sardanapalus – Jan Kobow
Salomena – Antje Rux
Didonia / Diana – Elisabeth Göckeritz
Agrina / Juno – Theodora Baka
Belochus – Franz Vitzthum
Misius / Cupido – Kathleen Danke
Atrax – Sören Richter
Arbaces / Mars – Markus Flaig
Saropes – Johannes Weiss
Belesius – Felix Schwandtke

Orchester der Compagnie Opéra Baroque
United Continuo Ensemble
Tänzer der Compagnie l’espace

18. August 2012

S-H Festival Orchester – Manfred Honeck.
MUK Lübeck.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 7, Platz 20



Wolfgang Amadeus Mozart – Violinkonzert A-Dur KV 219 (Arabella Steinbacher)
Zugabe: Eugène Ysaÿe – Sonate für Violine solo Nr. 2, 1. Satz (Obsession)

(Pause)

Anton Bruckner – Sinfonie Nr. 7



Wie schön könnten Konzerte doch sein, wäre da nicht diese leidige Kleinigkeit, die allzu häufig wahren Genuss unmöglich macht – das Publikum. Andererseits kommt der Katalog der Verfehlungen nicht ohne ein gehöriges Maß Abwechslung daher – gehört man nicht zu der verschrobenen Minderheit, die sich unbedingt mit dem Konzert beschäftigen möchte, wird es so schnell nicht langweilig.

Ich notiere für den heutigen Abend: Eine solistisch in die Stille scheppernde Platzmarke. Ein leider etwas undeutlicher Handyton. Nach jedem Brucknersatz die akustische Simulation eines lauschigen Sommerregens mit Niederschlagsüberhang in den jeweils folgenden Satz hinein mittels vorbildlich synchron agierender Bonbonentfaltungsbrigaden. Das Erlebnis ursprünglicher Kommunikationsmuster anhand primitiver Hust-, Schnaub-, Grunz- und Röchelstafetten. Ein einsamer Recke, der den verdutzten Pünktlichsitzern der von ihm umgepflügten ersten Reihe eindrucksvoll demonstriert, daß es nie zu spät ist. Und schließlich der vielleicht berührendste Moment: Rechtzeitig zum Einsatz der Solistin läßt ein umsichtiger Musikliebhaber im ersten Rang etwas Großes, Klirrendes fallen, um noch mal die Konzentration seiner Hörgenossen zu schärfen – herrlich!

Ganz nebenbei wurde dann auch noch musiziert. Ein Violinkonzert des göttlichen Langweilers und nach der Pause zur Entschädigung Bruckner. Steinbacher und Honeck bewahren mich vor der üblichen einschläfernden Wirkung. Die Solistin mit feinem Ton, zerbrechlich, zart, intonationsrein, kontrolliert, teilweise fast zu gesittet – im entsprechenden Moment schon zupackend, dabei aber nie grob oder unbeherrscht. Bezeichnend: die immer wiederkehrende, weiche Bewegung des Arms beim Zurücknehmen des Bogens. Müßte ich ihr Spiel in einem Wort beschreiben, würde ich wohl ein „nobel“ aus der Attribute-Schublade fischen.

Dieser feine Zugang harmoniert vortrefflich mit Honecks Interpretation, die deutlich milder ausfällt, als erwartet. Wenn man es genau bedenkt aber eigentlich ganz in seiner Tradition, nur eben auf Mozart gemünzt. Leicht und luftig der erste Satz, dazu das Honeck-typische Herunterregeln der Lautstärke an die Grenzen der Verflüchtigung, um größtmögliche Kontraste zu erzielen. Im Final-Marsch wieder gewohnt energisch, geladen, federnd. Über die drei Sätze betrachtet aber eher elegisch-versonnen. Wenn schon Mozart, dann beispielsweise so.

Der ersehnte Bruckner hinterließ einen gemischten Eindruck. Ein äußerst interessantes Dirigat trifft auf die Gegebenheiten eines Orchesters, das in letzter Konsequenz nicht die nötigen Feinheiten aufzubieten vermag. Dabei ist das Schleswig-Holstein Festival Orchester beileibe kein schlechtes. Das stellt es vor allem im rhythmischen Taumel des Scherzo und dem knackigen Finale unter Beweis, wenn Honeck auf sein akzentuiertes Hochspannungs-Dirigat umschaltet. Das Besondere seiner Interpretation liegt – wie bereits im Mozart – jedoch nicht im Auftrumpfen, sondern in der Ausgestaltung leiser und leisester Passagen – hier durch die Einbindung in das schluchtartige dynamische Gefälle mit der Wirkung brutalster Fragilität. Für diesen behutsamen, fast schon kammermusikalischen Bruckner mangelt es dem Orchester – vor allem im Adagio – an Klangfarben, um jene Nuancen zum Blühen zu bringen. Insbesondere die Bläser werden dem Anspruch dieses Konzeptes nicht immer gerecht.

Doch auch wenn Blech und Holz sich mitunter allzu irdisch betrugen und nicht jedes Streicherunisono die Schwere des Profanen abzustreifen gewillt war, verbuche ich den Abend als Gewinn, da er mir wieder einmal die bestechende Kunst Honecks vor Augen und (mehrheitlich inneren) Ohren geführt hat.




3. August 2012

A Cavalier’s Tour (CD-Präsentation) – Concerto Grosso Berlin.
Zentralbibliothek Hamburg.

20:00 Uhr, freie Platzwahl



Johann Heinrich Schmelzer – Sonata G-Dur für Violine, Fagott und Basso continuo
Michel Corrette – Sonata F-Dur für Violine und Basso continuo
Willem de Fesch – Sonata op. 8,1 D-Dur für Violine und Basso continuo

(Pause)

Antonio Vivaldi – Sonata RV 12 d–Moll für Violine und Basso continuo
Georg Philipp Telemann – Duetto B-Dur TWV 40: 111 aus „Der getreue Musik-Meister“ für Blockflöte und Violino piccolo
Georg Friedrich Händel – Sonata HWV 392 F-Dur für Blockflöte, Violine und Basso continuo
Zugabe: Johan Helmich Roman – Ballo turcese für Violine, Fagott und Basso continuo

(Bea Hellhammer – Barockvioline und Violino piccolo, Thomas Rink – Barockfagott und Blockflöte, Gero Parmentier – Laute)


An Tagen wie diesem wird mir wieder mal bewußt, was ich an anderen besonders schätze: Begeisterungsfähigkeit. Der Gegenstand der Begeisterung spielt dabei für mich eine untergeordnete Rolle. Bildende Kunst, Mode, Gartenbau, Modelleisenbahnwesen, traditionelles Weidenkorbflechten – oder eben Barockmusik. Wo immer sich Menschen einer Sache verschrieben haben, die ihnen Freude bereitet, und in der Lage sind, dies plastisch zu vermitteln, springt der Funke für gewöhnlich auf mich über.

Um es deutlich zu sagen: So sehr ich Musik liebe, ist der sogenannten „alten Musik“ nur ein kleines Fleckchen auf meiner persönlichen Landkarte der Tonkunst beschieden. Ausreißer wie Bach oder Buxtehude – vor allem vor dem Hintergrund meiner Schwäche für Orgelklänge – bestätigen insgesamt doch nur die Regel: richtig heimisch in der Musik fühle ich mich erst ab Beethoven. Keine idealen Voraussetzungen für einen Abend mit reinem Barockprogramm, sollte man meinen.

Auch wenn es meinen Ausführungen sicher ein deutliches Dramatik-Plus verliehen hätte, kann ich an dieser Stelle zwar nicht mit einer Saulus zu Paulus-Episode aufwarten, wohl aber mit einem erfreulichen Fall erlebter Begeisterungsvermittlung. Es waren weniger die Werke selbst oder der stetige Kampf der Ausführenden mit der Intonationssensibilität ihrer launisch-knorrigen Werkzeuge, sondern vielmehr die nerdig-verzückt zum Besten gegebenen Zwischenansprachen des Herrn Rink, die mir diese Welt der Ausgrabungen und Ahnenpflege etwas näher gebracht haben.

Wenn vielleicht auch nicht jede Aussage dabei den Anspruch auf Überzeitlichkeit besaß, wahrscheinlich nie besitzen wollte, schwang in diesen kleinen Erklärungen, Überleitungen und Anekdoten doch außerordentlich viel von der Freude an Barockmusik mit. Freude an Entdeckungen, Freude an Vergleichen und Querverweisen, Freude an der Musik und nicht zuletzt am Musizieren. Letzteres erschloß sich dem Besucher im Spiel selbst nicht nur auditiv, sondern auch rein visuell, wenn man beispielsweise nur darauf achtete, mit welchem symbiotischem Behagen Einsätze vorbereitet und aufeinander abgestimmt wurden.

Noch einmal: Ich preise die Errungenschaften des neuzeitlichen Instrumentenbaus und seine klangliche Entwicklung. Aber wenn ich mich – für den einen oder anderen Moment – den barocken Meistern ein wenig näher zu fühlen glaubte, dann durch den engagierten Vortrag der Mitglieder des Concerto Grosso Berlin in den gänzlich unbarocken Hallen des Hamburger Hühnerpostens. Darauf einen Kratzfuß.

22. Juli 2012

Wozzeck – Lothar Koenigs.
Nationaltheater München.

19:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 6, Platz 220



Oper ist nüchtern betrachtet doch ein Ding der Unmöglichkeit, besser: der Unwahrscheinlichkeit. Vergegenwärtigt man sich die Vielzahl der Faktoren, die im Detail und in der Gesamtheit glücken und ineinandergreifen müssen, um potenzielle Vollkommenheit in stattfindende zu überführen, könnte man fast von einem hoffnungslosen Unterfangen sprechen. Sofern man überhaupt Vollkommenheit als mögliche Option in Betracht zieht. Der heutige Abend bewies wieder einmal, daß es sich allen Stochastikern zum Trotz lohnt, jederzeit mit der Einlösung des Unwahrscheinlichen zu rechnen.

Womit soll ich anfangen? Mit dem zauberischen Orchester vielleicht, das diesen Albtraum eines Menschenlebens auf das Differenzierteste, Bedrohlichste, Erschütterndste akustisch begleitet? Mit dem geradezu suggestiven Dirigat Lothar Koenigs, das fesselnder nicht hätte ausfallen können, die dynamischen Spitzen sorgsam aufsparend, die Last des grausigen Gewebes in stetiger Steigerung über den Zuhörern ausbreitend?

Wie gesagt, so gut eine Aufführung in Teilen häufig auch ist, trübt in der Regel doch immer irgendetwas das Ganze. Ausfälle, Abfälle, mitunter Kleinigkeiten. Nichts von alledem heute. Über die tadellose Orchesterleistung hinaus war eine Sängerriege, für die der Begriff Idealbesetzung schon fast eine Untertreibung darstellt, Garant für musikalische Weltklasse. Welch Glücksfall, daß an diesem Abend ausnahmslos alle Beteiligen nicht nur stimmlich, sondern gerade auch szenisch eine kollektive Meisterleistung boten.

Allein die Kombination Wolfgang Schmidt (Hauptmann) / Clive Bayley (Doktor) dürfte an Kälte, Boshaftigkeit und Häme kaum zu überbieten sein. Sozusagen das Traumpaar der Menschenverachtung. Die morbide, zombiehafte Kostümierung trägt das Ihrige dazu bei. Wie gesagt, jeder einzelne Sänger auch der kleinsten Rolle hat an diesem Abend ein Sonderlob verdient, gemäß dem Gewicht ihrer Partien hallt dabei die Leistung von Waltraut Meier als Marie und Simon Keenlyside als Wozzeck besonders lange nach. Beide eint eine Zerrissenheit, die geradezu physisch erlebbar ist. Marie in ihrem Schwanken zwischen dem ersehnten kleinen Glück der Familie und den Verlockungen eines besseren Lebens an der Seite des Tambourmajors, Wozzeck unter dem Druck, in dieser mitleidlosen Gesellschaft funktionieren zu wollen, der sich, durch all die grausamen Einflüsse auf ihn stetig erhöhend, schließlich in Gewalt sein Ventil sucht.

Gerade in der Betrachtung dieser beiden Hauptrollen greifen gängige Bewertungskriterien einer Opernaufführung nur bedingt – die Größe und Wucht der Leistung leitet sich weniger von einer schönen Phrasierung hier und einem geglückten Spitzenton dort ab, als vielmehr aus bedingungsloser Hingabe im Sinne einer Charakterdarstellung, zu der in diesem Fall vom Autor auch das gesungene Wort vorgesehen ist. Schwer vorstellbar der Eindruck, den diese Art des Musiktheaters bei seinem ersten Erscheinen auf Augen und Ohren gemacht hat. Meine Sinne jedenfalls erfuhren an diesem Abend einen wahren Taumel, nicht zuletzt auch aufgrund der genialen Inszenierung.

Das schwebende Zimmer vor dem Schwarz des Bühnenschlundes ist für sich genommen schon von unglaublicher, bannender Wirkung. Der eigentlich einfache Effekt, den Raum in diesem Nichts in den Vorder- oder Hintergrund bewegen zu können, entfaltet einen optischen Sog sondergleichen. Doch über diesen Rahmen hinaus hält die Inszenierung eine Unzahl faszinierender, verstörender Elemente und Details bereit, die diese Produktion hoch über das übliche Maß heben. Die permanent bedrückende Stimmung einer Schreckenswelt – umherirrende Gruppen, mal wird Brot, mal Geld vor ihnen hingeworfen, sie stürzen sich darauf wie Tiere bei der Fütterung.

Das Wasser, in dem Wozzeck sein Ende finden wird, ist von Anfang an da, es bedeckt den Boden, es tropft von der Decke, das Geräusch des Wassers begleitet uns unentwegt. Die Akteure scheinen eher Untote, einer Welt des Expressionismus entsprungen, ihre grotesken Masken und Kostüme klammern das menschliche Moment aus. Dennoch ist Wozzecks Welt (unterdrückte) Emotion pur. Viele Messer werden ihm symbolisch gereicht, um seinem Hass, seiner Verzweiflung Ausdruck zu verleihen. Viele Matratzen für den umherirrenden Geist, der im Leben nicht zur Ruhe kommen kann.

Das Band zwischen ihm und Marie, der Junge, wird in dieser Regiearbeit besonders ins Zentrum gerückt, ist nicht Requisit, sondern füllt trotz oder gerade wegen seiner Wortlosigkeit die Rolle des zwischen dem emotionalen Unvermögen der Erwachsenen aufgeriebenen eigentlichen Opfers besonders nahegehend aus. Am Ende bleibt dem Waisen nichts als der Spott der anderen Kinder.

Fazit: Erschütterndes Musiktheater in München, eine Sternstunde: Schreckliche Vollkommenheit – Vollkommenheit des Schreckens.


Alban Berg – Wozzeck
Musikalische Leitung – Lothar Koenigs
Inszenierung – Andreas Kriegenburg
Bühne – Harald B. Thor
Kostüme – Andrea Schraad
Licht – Stefan Bolliger
Choreographie – Zenta Haerter
Chor – Sören Eckhoff
Dramaturgie – Miron Hakenbeck
Kinderchor – Kinderchor der Bayerischen Staatsoper

Wozzeck – Simon Keenlyside
Tambourmajor – Roman Sadnik
Andres – Kevin Conners
Hauptmann – Wolfgang Schmidt
Doktor – Clive Bayley
1. Handwerksbursche – Christoph Stephinger
2. Handwerksbursche – Francesco Petrozzi
Der Narr – Kenneth Roberson
Marie – Waltraud Meier
Margret – Heike Grötzinger
Mariens Knabe – Alexander Lakatár
Bursche – Jochen Schäfer
Soldat – Jason A. Smith

Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper

21. Juli 2012

Tosca – Marco Armiliato.
Nationaltheater München.

19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 4, Platz 137












Meine Erwartungshaltung in Bezug auf Herrn Terfel war angesichts eines Rufs wie Donnerhall und den jüngsten Lorbeeren als Met-Wotan nicht gerade verhalten, aber gleich mit dem ohnehin bühnenwirksam angelegten Auftritt des Barons ist klar, daß dieser Scarpia nicht nur Rom, sondern auch das Münchner Auditorium im Sack hat. Der Waliser teilt eben jenes Phänomen mit den Besten seines Fachs, über größtmögliche stimmliche Präsenz (nicht zu verwechseln mit bloßer Lautstärke) hinaus mit einem Gleichmaß an physischer, szenischer Wirkungskraft gesegnet zu sein.

Terfels Scarpia beläßt es nicht beim üblichen Poltern und Drohen, er lauscht dem Charakter eine Vielzahl leiser, keinen Deut weniger bedrohlicher Töne ab, die den Abend zu etwas Besonderem werden lassen. Wenn er beispielsweise gewissermaßen zwischen den Zähnen hindurch singt, ohne dabei übrigens an Deutlichkeit zu verlieren, transportiert dies eine stetig schwelende Aggression und unterdrückte Lust am Leiden anderer, wie ich sie selten gehört habe. Überhaupt, unterdrückte Seiten und Selbstkontrolle könnte man als Fixpunkte von Terfels Interpretation bestimmen. Das bigotte Moment ist zum zerreißen gespannt in einem Mann, der nach außen hin zwar strenger Verwalter der Ordnung, in seinem Inneren selbst jedoch zügellosen Trieben unterworfen ist.

Bietet insbesondere das pompöse Finale des ersten Aktes mit dem Te Deum die Bühne für Scarpias Tosca-Obsession und schließlich Zerknirschung im Angesicht der überlieferten klerikalen Macht, der er sich zumindest öffentlich beugen muß, läßt ihn die Inszenierung zu Beginn des zweiten Aktes in seinem Palast diese Maske weitgehend ablegen. Umgarnt von seinen Konkubinen, die er wie Spielzeug behandelt, oder besser wie ein sadistisches Kind, dessen größte Freude darin besteht, seine treu ergebenen Tiere zu quälen, kann er endlich sein, wie er ist. Auch hier läßt Terfel nicht den Hauch eines Zweifels, wer die Situation kontrolliert.

Das I-Tüpfelchen in dieser Scarpia-Interpretation besteht meiner Ansicht nach darin, daß Terfel die Rolle trotz aller Monstrosität nicht ohne einen gewissen Funken Charme spielt – was die Dämonie-Stellschraube noch deutlich weitertreibt. In der Kirchenszene des ersten Aktes, als Scarpia Tosca die Eifersucht einpflanzt, schafft es der Baron – zumindest für einen Moment – die Maske des Fürsorglichen und Galanten tatsächlich mit lebendigen Zügen zu tragen. Es scheint am Ende fast so, als wäre er selbst dieser Täuschung erlegen, wenn seine Tosca entgegen gestreckte Hand nach ihrem Fortlaufen einen Augenblick in der Höhe verweilt. Glaubhafter kann man die Initiation seiner Besessenheit gegenüber dieser Frau kaum darstellen.

Wobei mit „darstellen“ bei Herrn Terfel immer das Szenische und Stimmliche in Personalunion gemeint ist. Welch wundervolle Stimme! Abgesehen davon, daß hier, wie bereits angedeutet, nie allein Tonhöhen, sondern immer auch Gemütszustände übermittelt werden, hat Terfels Gesang alles, um den geneigten Stimmfeinschmecker mit der Zunge schnalzen zu lassen. Phrasierungssensibilität, Legatofähigheit, Klangfarbenreichtum und Präsenz auf jeder Dynamikstufe gepaart mit einem unverwechselbaren, schlicht als balsamig zusammenzufassenden Charakter, ermöglichen es diesem Sängerdarsteller, als unerschütterliche Säule einer jeden Produktion zu brillieren.

Umso erfreulicher, daß auch seine Ensemblekollegen diesen starken Eindruck weitgehend unterstützten. Catherine Naglestads Tosca hat mir ausgesprochen gut gefallen. Ihre Stimme ist warm und weich, darüber hinaus scheint sie mir für das Sinnliche geradezu prädestiniert. Die berühmte Arie im zweiten Akt gestaltet sie erfreulich uneffektheischend, ganz aus der Verfassung der verzweifelten Frau heraus – innig, zart, fast gebrochen. Darüber hinaus trägt ihr beseeltes Spiel generell viel zur Glaubwürdigkeit der Inszenierung bei.

Zusammen mit Massimo Giordano bildet sie zudem optisch wie szenisch ein Traumpaar (es wird viel geküßt bei Bondy!), obgleich ihr Recke stimmlich den Vergleich nicht ganz aushält. Zwar verfügt Herr Giordano über ein klangschönes Organ, rechte Schmelzwonnen wollen sich heute jedoch nicht einstellen. Die Spitzentöne kommen kraftvoll und präzise, aber spürbar bemüht. Insgesamt eine gute Leistung, die nur durch das unfaire Gedankenspiel getrübt wird, wer – mit einem Seitenblick auf Herrn Kaufmann in der Proszeniumsloge – als theoretische Alternative bereit stünde. Auch die Nebenrollen können sich hören lassen. Christoph Stephinger als profunder Messner, Goran Jurić als energischer Flüchtling oder der herrlich servile Spoletta von Francesco Petrozzi.

Das Staatsorchester unter Marco Armiliato spielt zum Dahinschmelzen. Für meine Begriffe hätte man hier und da ruhig noch knackiger, rauer zu Werke gehen können, aber das ist sicher Geschmacksache. Die Gewißheit, an diesem Abend Takt für Takt Weltklasse präsentiert zu bekommen, ficht das nicht an. Die Hörnerstelle zu Beginn des dritten Aktes beispielsweise ist schwerlich schöner zu denken. Das Blech ist insgesamt bärenstark. Aber was soll man sich mit der Hervorhebung von gelungenen Einzelteilen aufhalten, wo doch das Ganze den Abglanz des Vollkommenen liefert.

Kaum zu wünschen übrig ließ auch die Inszenierung. Ausgesprochen gelungen erscheint mir die Illustration des Alltäglichen an den Nahtstellen zwischen den einzelnen Szenen, da sie einen subtilen Rahmen der Authentizität schafft, der den Realismus der eigentlichen Handlung noch verstärkt. Ob wir dem Messner dabei zusehen, wie er Weihwasserbecken und Malerbottich aus dem selben Eimer speist und beinahe die ent- weil unterscheidende Geste der Segnung versäumt oder wir dem Exekutionskommando am Morgen bei seinem noch etwas unaufgeräumten Exerzieren beiwohnen, beides konturiert die Normalität und unterstützt dabei den Handlungsfluß.

Die Lichtregie folgt nur bedingt diesem naturalistischen Credo, sondern akzentuiert den emotionalen Gehalt bestimmter Szenen – besonders deutlich beim gleißenden Schein, der mit jeder Öffnung der Tür aus der Folterkammer dringt und die blutverschmierten Wände hervorhebt. In Scarpias Palast nimmt die Lichtstimmung zum Ende des Aktes einen unwirklichen gelb-orangen Charakter an, auch als Tosca nach ihrer Tat kurz mit dem Gedanken spielt, aus dem Fenster zu springen und dann gefühlsmäßig zusammenbricht. In der Kirchenszene wird viel mit Licht und Schatten gearbeitet, im dritten Akt bleibt das Morgengrauen dann gänzlich aus.

Insgesamt betrachtet eine sehr sehenswerte Inszenierung mit starken Bildern und einer zum Teil geradezu verschwenderischen Ausstattung (Klerus beim Te Deum). Leider geriet gerade Toscas angedeuteter Sprung in den Tod ganz am Schluß nicht optimal – wahrscheinlich wurde das Licht einen Hauch zu spät gelöscht, so daß die Sprungbewegung deutlich sichtbar durch die Sicherungsgurte abgebrochen und die Illusion somit aufgehoben wurde. In der Rückschau auf diesen wundervollen Abend ist das jedoch ein marginales Detail.

Fazit: Wo in München Festspiel draufsteht, ist definitiv Festspiel drin. Bravi!


Giacomo Puccini – Tosca
Musikalische Leitung – Marco Armiliato
Inszenierung – Luc Bondy
Bühne – Richard Peduzzi
Kostüme – Milena Canonero
Licht – Michael Bauer
Chor – Stellario Fagone

Florian Tosca – Catherine Naglestad
Mario Cavaradossi – Massimo Giordano
Baron Scarpia – Bryn Terfel
Cesare Angelotti – Goran Jurić
Der Messner – Christoph Stephinger
Spoletta – Francesco Petrozzi
Sciarrone – Christian Rieger
Ein Gefängniswärter – Tim Kuypers
Stimme eines Hirten – Solist des Tölzer Knabenchor

Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper

8. Juli 2012

Operngala. Osnabrücker Symphonieorchester.
Theater Osnabrück.

19:30 Uhr, Orchesterreihe links, B 24














Louis Joseph Ferdinand Hérold – Zampa, Ouvertüre
(Daniel Inbal – Dirigent)
Georg Friedrich Händel – Ezio, „Già risonar“
(Genadijus Bergorulko – Varo, Benjamin Schneider – Dirigent)
Wolfgang Amadeus Mozart – Konzertarien
„Così dunque tradisci“ – „Aspri rimorsi atroci“ KV 432
(Mark Sampson – Bass, Markus Lafleur – Dirigent)
„Ah se in ciel, benigne stelle“ KV 538
(Marie-Christine Haase – Sopran, Till Drömann – Dirigent)
Ambroise Thomas – Hamlet, „Coeur des Comédiens“ und „Chanson Bachique“
(Marco Vassalli – Hamlet, Herrenchor, Till Drömann – Dirigent)
Camille Saint-Saëns – Samson et Dalila, „Amour! viens aider ma faiblesse!“
(Eva Schneidereit – Dalila, Till Drömann – Dirigent)
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky – Pique Dame, „Ja vas ljublju“
(Jan Friedrich Eggers – Fürst Jeletzki, Fabian Liesenfeld – Dirigent)
Umberto Giordano – Andrea Chénier, „Nemico della patria“
(Daniel Moon – Gérard, Daniel Inbal – Dirigent)

(Pause)


Jerónimo Giménez – La boda de Luís Alonso, Intermedio

(Till Drömann – Dirigent)
Franz Lehár – Giuditta, „Meine Lippen, sie küssen so heiß“
(Lina Liu – Giuditta, Daniel Inbal – Dirigent)
Johann Strauß – Eine Nacht in Venedig, „Ach, wie so herrlich zu schau’n“
(Mark Hamman – Herzog, Fabian Liesenfeld – Dirigent)
Franz Lehár – Der Zarewitsch, „Allein, wieder allein“
(Daniel Wagner – Zarewitsch, Benjamin Schneider – Dirigent)
Johann Strauß – Die Fledermaus, „Klänge der Heimat“
(Astrid Kessler – Rosalinde, Daniel Inbal – Dirigent)
Emmerich Kálmán – Die Csárdásfürstin, „Weißt du es noch“
(Eva Schneidereit – Sylva, Marco Vassalli – Edwin, Daniel Inbal – Dirigent)
Franz Lehár – Paganini, „Gern hab’ ich die Frau’n geküsst ...“
(Hans-Hermann Ehrich – Paganini, Till Drömann – Dirigent)
Carl Orff – Carmina burana, „Fortuna Imperatrix Mundi“
(Chor des Theaters Osnabrück, Markus Lafleur – Dirigent)

(Herbert Hähnel – Moderation)



Tag der Erkenntnisse in Osnabrück.

Erkenntnis 1: In einem eher kleinen Haus kann die Platznahme in der Orchesterreihe – in diesem Falle gewissermaßen fast auf dem Schoß der Mitwirkenden – zu wahrhaft ohrenbetäubenden Eindrücken führen. Hätte man sich denken können. Leider hatte ich mir bei meiner Kartenwahl seinerzeit offenbar recht wenig gedacht.

Erkenntnis 2: Es ist durchaus hilfreich und im Sinne des eigenen Ruhepulses, die Information über den letzten Zug Richtung Heimat mit einem voraussichtlichen Ende der Veranstaltung in Abgleich zu bringen. Andernfalls sitzt man bei der nicht einberechneten feierlichen Verabschiedung einiger Ensemblemitglieder durch den Herrn Intendanten kurz vor dem Finale auf sprichwörtlich glühendem, wenn auch faktisch angenehm gepolstertem Platze und sieht sich gezwungen, selbigen direkt mit dem Einsetzen des Schlußapplauses fluchtartig gen Bahnhof zu verlassen. Die gerechte Strafe erfolgt durch das Schicksal, das nach einem nächtlichen Sprint durch Osnabrück beim gerade noch rechtzeitigen Eintreffen am Gleis durch eine freundliche Stimme vermelden läßt, der betreffende Zug habe eine Verspätung von 25 Minuten. Röchel.

Erkenntnis 3: Ungeachtet der selbst verschuldeten Umstände besitzt das Theater Osnabrück offenbar alles, um seine Besucher mit angenehmen Abenden zu versorgen. Das müßte man natürlich noch mal unter Spielzeitbedingungen testen, aber die heutige Gala hat schon Lust auf mehr gemacht. Dabei entsprach das Programm, welches ich banausigerweise im Vorwege gar nicht in Erfahrung gebracht hatte, nicht unbedingt meiner Vorstellung davon, unter Garantie ekstatischen Zuckungen der Anteilnahme entgegen zu sehen. Trotzdem entpuppte sich die Zusammenstellung als beschwingte Mischung mit sorgsam integriertem Spannungsbogen. Eine schöne Art, das Orchester mit unterschiedlichen Dirigenten, die Vertreter der verschiedenen Stimmfächer sowie den Chor kennenzulernen. Die Nummern wurden durch die kurzen Ansprachen von Herrn Hähnel auf betont trocken-humorvolle Weise verknüpft.

Ein paar Notizen zu einigen Programmpunkten bzw. Mitwirkenden: Gleich die Hérold-Ouvertüre hat mir sehr zugesagt, enorm abwechslungsreich und kurzweilig mit markigen Blecheinwürfen. Das Orchester offenbart durchaus virtuose Qualitäten und hält diesen positiven Ersteindruck den ganzen Abend hindurch aufrecht. Aus der Dirigentenriege stechen Daniel Inbal und Till Drömann in puncto Elan und Energieübertragung hervor. Ich glaube, da hat sich Herr Cambreling einen Guten nach Stuttgart geholt.

Von den Sängern haben mich persönlich am meisten beeindruckt: bei den Herren Marco Vassalli mit Schönklang, Schmelz und Präsenz sowie Daniel Moon mit Inbrunst, Ausdruck und einem Mordsorgan. Bei den Damen wußten aus meiner Sicht Lina Liu als kokette Giuditta und Eva Schneidereit als leidenschaftliche Dalila besonders zu überzeugen. Aber wie schon eingangs erwähnt, wirkliche Ausfälle waren bei den Stimmen ohnehin nicht zu vermelden. Wer das Haar in der Suppe sucht, wurde sicher mit einer Intonationsschwäche hier oder einem etwas blasseren Auftritt dort fündig – ich für meinen Teil habe das Gefühl, daß sich das Theater Osnabrück mit seinen Sängern nicht zu verstecken braucht.

Abschließende Erkenntnis: nach der Spielzeit ist vor der Spielzeit und eine Gala dauert länger als 90 Minuten. Im nächsten Jahr gibt es hier drei Hindemith-Einakter an einem Abend – ich freu mich drauf!

7. Juli 2012

NDR Sinfonieorchester – Thomas Hengelbrock.
MUK Lübeck.

20:00 Uhr, Block B, 1. Rang links, Reihe 1, Platz 30












Edvard Grieg – Peer Gynt

(Klaus Maria Brandauer – Rezitation, Christiane Karg – Sopran (Solveig), Adrineh Simonian – Mezzosopran (Anitra), Estonian Philharmonic Chamber Choir, NDR Chor)


In einer Dokumentation über Operngesang sprach ein kluger Kopf einmal von der Sucht der Opernliebhaber, Tränen zu vergießen. Wobei diese Regung untrügliches Zeugnis von empfundenem Glück ablege. Das Sehnen nach solchem Zustand ließe besagte Existenzen zahllose stumpfe Erlebnisse über sich ergehen, motiviert allein durch das Wissen um die Möglichkeit der Ausnahmesituation.

Obgleich Tränen aus meiner eigenen Erfahrung nicht allein durch Gesang zu provozieren sind und nur eine von vielen Wegmarken auf dem mysteriösen Pfad zum Glück darstellen, geht ihr Erscheinen doch in der Regel tatsächlich mit einer besonders gelungenen Darbietung einher. Nicht anders heute. Peers letzte Momente mit seiner Mutter und schließlich seine Rückkehr zu Solveig stellten die emotionalen Höhepunkte eines grandios geglückten Aufführungsexperiments dar, das neben der beliebten Bühnenmusik Griegs nicht weniger als eine komprimierte szenische Wiedergabe des Theaterstücks beinhaltete.

Beeindruckend, wenn auf so viel Wollen ein mindestens gleiches Maß an Können folgt. Nehmen wir das NDR Sinfonieorchester unter seinem neuen Chefdirigenten. Von mir früher gern mal als etwas hölzern agierende Beamtentruppe wahrgenommen, lieferte der Klangkörper hier eine Leistung ab, die begeisterte und mitriß. In dieser Form kann es das Orchester mit den Besten aufnehmen. Nach nur einer Kostprobe ist es vielleicht verfrüht zu urteilen, doch ich glaube, mit Hengelbrock hat man nicht die schlechteste Wahl getroffen.

Von energisch-virtuos bis lieblichst-versonnen führt er die NDRler differenziert und spannungsvoll durch die Partitur. Dabei sind es nicht allein die einzelnen Evergreens des Stückes, die beeindrucken, sondern das große Ganze, gerade im Zusammenwirken mit dem Schauspiel. Szenen von anrührendster menschlicher Tiefe, die Seelenwelt der Protagonisten auslotend, sind das Ergebnis.

Und Brandauer? Es nützt nichts, da muß ich leider wieder pathetisch werden. Ich bin einfach wahnsinnig dankbar, diesen großen Darsteller – und sein wunderbares Schauspiel-Ensemble – bei der Verrichtung seiner Kunst erlebt zu haben. Brandauer ist Peer Gynt. Der übermütige Bursche, der Jungmünchhausen, der Dreiste, der Verführer, der Möchtegernkaiser, der Geschlagene, der Angekommene. Da braucht es keine Schminke und keine Roben, die Verwandlung könnte nicht ergreifender sein.

Wenn schließlich Christiane Kargs lupenreiner Sopran den Heimkehrer umschließt, all seiner Verfehlungen zum Trotz, umgibt alles eine wehmütige Ahnung von Güte und Treue. Mag es sich auch um ein Wiedersehen handeln, für mich überwiegt dennoch die emotionale Parallele zum Abschied von der Mutter. Hier wie dort kommt Peer an einen Endpunkt seines Lebens, in beiden Fällen geht es um Unausgesprochenes, Versäumtes. Auch wenn sein Leben eine Aneinanderreihung von Oberflächlichkeiten und Träumereien darstellen mag, in diesen beiden Momenten erfährt Peer – und wir durch ihn – wie kostbar und verletzlich wahres Glück ist.

Nichts Neues? Mag sein, aber das unmittelbare Erleben, die gelungene Übertragung eines überzeitlichen Gedankens in persönliches Empfinden, scheint mir Beleg genug dafür, daß der heutige Abend mehr bot als alte Musik und alte Verse. Schön, daß ich an dieser Erfahrung teilhaben durfte.

24. Juni 2012

West Side Story – Ju Hyun Jeong.
Landestheater Coburg.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 10


















Wird in Musicals eigentlich generell so viel gelabert? Also im Publikum meine ich ... auf der Bühne ist das ja ok ... Ne, anfangs war der Geräuschpegel, der von den Nichtmitwirkenden ausging, schon unerträglich. Da herrscht im Kino während des Werbeblocks mehr Aufmerksamkeit als beim Erklingen der wunderbaren Ouvertüre. Aber das Orchester gibt ordentlich Stoff, insbesondere das Blech darf sich mal so richtig austoben. Da muß man als geneigter Ignorant den Nebensitzer regelrecht anschreien, um den Kaffeeklatsch aufrecht zu halten. Nun denn, mit Beginn der Handlung stellte man diese Unart glücklicherweise (weitgehend) ab.

Bleiben wir gleich beim Orchester. Ju Hyun Jeong gewinnt den bekannten Klängen mit seinen Musikern eine knackig-herbe, im positiven Sinne schroffe, gleichsam unverkitschte Lesart ab, die vor allem die Urgewalt der Rhythmen betont, ohne jedoch an entsprechender Stelle Intimität und Wohllaut einzubüßen. In jedem Fall ist gewaltig Dampf auf dem Kessel, alles strotzt vor Vitalität, darüber hinaus schwingt eine gute Portion Aggressivität mit – eine Herangehensweise, die dem wenig verklärungswürdigen Konflikt der Banden und somit dem Faktor Realität sinnvoll Rechnung trägt.

Bernsteins Musik tritt unter dieser Behandlung, vielleicht mehr noch als sonst, als Hauptkraft in Erscheinung, schafft für jede Seite einen unverwechselbaren Kosmos. Vom schroffen Skandieren der Jets-Musik zum berstenden Überschwang der Latino-Gegenwelt gelingt den Coburgern heute alles in bemerkenswerter Intensität. Wobei sich diese Energie zu gleichen Teilen auch aus dem vorzüglichen Ensemble speist. Hierbei überzeugt vor allem das Zusammenspiel der Vertreter unterschiedlicher Darsteller-Gewerke. Je nach Anforderung füllen Opernsänger, Musicaldarsteller, Schauspieler und Tänzer die Rollen aus, was nicht nur den musikalischen, sondern vor allem auch den szenischen Belangen zu Gute kommt. Die akustische Verstärkung – auch beim Singen – war anfangs etwas gewöhnungsbedürftig für mich, ist aber wohl Musical-Usus.

Das Darstellerische ist enorm wichtig für die Glaubwürdigkeit des Ganzen und wird größtenteils sehr gut gemeistert. Auf der Opernbühne gern und mit unbelehrbarem Peinlichkeitsgespür eingesetzte „Jugendgesten“, wie Abklatschen oder den Stinkefinger zeigen, wirken hier tatsächlich einmal aus dem Leben und nicht einfach nur danebengegriffen. Die Körperlichkeit der Gangs, die Ausgelassenheit im Tanz – das alles kommt so selbstverständlich und ungekünstelt daher, daß man über die bemühten Kulturstereotypen hinaus ganz leicht den Zugang zur individuellen Tragödie findet. Die Inszenierung schafft dabei einen bemerkenswerten Spagat zwischen (Theater-)Kunst-Welt und authentischem Drama. In einigen Punkten scheint die Regie zudem auf eine Verdeutlichung der Konflikte durch Verschärfung abzuzielen.

So wird Officer Krupke während ihres beschwingten Liedchens über soziale Mißstände von den Jets nicht nur aufs Übelste zugerichtet, sondern am Ende mit Freuden erschossen. Der frech-ironische Ton der Äußerungen (an dieser Stelle wird bewußt auf die Originalsprache verzichtet) verzerrt sich in Sadismus und blanke Menschenverachtung. Die Beinahe-Vergewaltigung der Anita ist ein weiteres Beispiel für den Ansatz der Regie, den gewalttätigen Ernst eines Stückes zu transportieren, das häufig nur als gefälliges Folklore-Allerlei mit Hitgarantie herhalten muß. Daß es seinen Machern einmal um mehr gegangen sein mag, wurde heute in vielen eindringlichen Momenten in Erinnerung gerufen. Der hinzugefügte Selbstmord Marias am Schluß geht dann noch einen Schritt weiter und erstickt auch den letzten Funken Versöhnungshoffnung.

Neben guten Darstellern wartet das Landestheater auch mit starken Stimmen auf. Die Partien der Maria und des Tony bündeln naturgemäß das Hauptinteresse und erhalten mit Marie Smolka und Christian Alexander Müller nicht nur szenisch sondern auch stimmlich vortreffliche Repräsentanten. Beide Sänger verfügen insbesondere über jenes Feingefühl, das bei der Gestaltung gerade der leisen, sinnlichen Augenblicke unabdingbar ist. Qualitativ zum Triumvirat komplettiert werden die beiden durch Ulrike Barz, deren Anita feuriger kaum zu denken ist.

Noch einmal zurück zum Stück selbst. Mit dieser persönlichen Musicalpremiere habe ich es erwartungsgemäß sehr gut getroffen. Die Partitur hält eine derartige Fülle unkaputtbarer Klassiker bereit, daß es einem beinahe unheimlich wird. Als Höhepunkt des ersten Aktes empfand ich das Duett zwischen Tony und Maria, im zweiten Akt ging von Marias Liebesappell und ihrem anschließenden Duett mit Anita eine unglaubliche Wirkung aus. Schon kein ganz Schlechter, der Lenny. Läßt der Gute tatsächlich eine Celesta beim ersten Zusammentreffen der Liebenden erklingen? Er befände sich damit schließlich in guter Gesellschaft. Der Song „Somewhere“ – eine Art Mischung aus Harold Arlen und Aaron Copland – scheint in seinem hymnischen Pathos den Amerikanischen Traum beschwören zu wollen, oder in diesem Fall eine Amerikanische Utopie. Das Finale, zumindest dieser Produktion, ist erstaunlich musikarm, das Drama behält gewissermaßen das letzte Wort.

So schließt meine Dreistädtetour also mit einem besonders gelungenen Abend – ein Urteil, bei dem ich das Coburger Publikum offenkundig auf meiner Seite wissen durfte, läßt man die überschwängliche, ehrliche Begeisterung meiner Saalgenossen für sich sprechen. Nach meiner ersten Operette vor zwei Tagen nun also Musical – wohin das noch führen mag? Am Ende landet man gar bei Kammermusik! Ich kann für nichts garantieren.


Leonard Bernstein – West Side Story
Musikalische Leitung – Ju Hyun Jeong
Inszenierung – Pascale Chevroton
Bühnenbild – Alexandra Burgstaller
Kostüme – Tanja Liebermann
Choreographie – Mark McClain
Dramaturgie – Susanne von Tobien

Jets
Tony, Gründer der Jets – Christian Alexander Müller
Riff, ihr Anführer – Benjamin Werth
Action – Vivian Frey
A-rab – Maximilian Widmann
Baby John – Jörn Ortmann
Snowboy – Philipp Georgopoulos
Diesel – Simon van Rensburg
Big Deal – Adrian Stock
Gee-Tar – Niko Ilias König
Mouthpiece – Takashi Yamamoto

Jets’ Girls
Velma – Jana Kristina Lobreyer
Anybody’s – Friederike Pasch
Graziella – Johanna Mertl / Paulina Mertl
Clarice – Emily Downs

Erwachsene
Doc – Thomas Straus
Leutenant Schrank – Helmut Jakobi
Officer Krupke – Boris Stark
Glad Hand – Boris Stark

Sharks
Bernardo, ihr Anführer – Thorsten Ritz
Chino, sein Freund – Frederik Leberle
Pepe – Marcello Mejia-Mejia
Indio – Po-Sheng Yeh
Louis – Marius Czochrowski
Anxious – Martin Trepl
Nibbles – Tae-Kwon Chu
Juano – Kostas Bafas

Sharks’ Girls
Maria, Bernardos Schwester – Marie Smolka
Anita, Bernardos Freundin – Ulrike Barz
Rosalia – Hayley Sugars
Consuela – Vanessa Atuh
Teresita – Anastasia Scheller
Francisca – Chih-Lin Chan
Estella – Eriko Ampuko
Marguerita – Miki Nakamura

Philharmonisches Orchester Landestheater Coburg

23. Juni 2012

Das Liebesverbot – Philippe Bach.
Theater Meiningen.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 1, Platz 11


















Das Meininger Theater ist wahrlich ein Kleinod. Malerisch gelegen am Großen Teich des Englischen Gartens, das Eingangsportal zur von klassizistischen Nachbarn reich gesäumten Straße gereckt, legt es imposantes Zeugnis von historisch gewachsener, aber bis heute spürbarer kultureller Strahlkraft ab. Außen wie innen erst kürzlich liebevoll saniert, rangiert es auf meiner imaginären Liste besonders schöner Theaterbauten auf einem der vorderen Plätze.

Doch was nützt die glanzvollste Hülle ohne entsprechenden Inhalt? Daß an diesem Ort solch ein Museumseffekt nicht zu befürchten ist, spürt man deutlich. Diverse angesetzte Premieren unterschiedlichster Richtungen, dazu ein ambitioniertes Wagner-Programm zum kommenden Jubiläumsjahr. Andreas Schager, der triumphale Rienzi-Einspringer an der Deutschen Oper Berlin, hatte zuvor an dieser Stätte bereits den Tribun verkörpert und wird auch im nächsten Jahr hier zu erleben sein.

Von Wagners Liebesverbot war mir bislang nur die schmissige Ouvertüre bekannt, die meiner Ansicht nach durchaus Ohrwurmpotential besitzt. Ob sich diese Einschätzung auf die gesamte Oper übertragen läßt, möchte ich nach erstmaliger Begegnung lieber offen lassen. Sicher gab es diverse musikalische Kostbarkeiten, insbesondere in Passagen der Ruhe, die insgesamt jedoch in einem naiv-lärmenden Ganzen unterzugehen drohten. Die ätherische Klosterszene mit den Glocken, die suggestive Überzeugung des Friedrich durch Isabella oder die düstere Arie des Friedrich allein in seinen Amtsgemächern sind Beispiele für musikalische Eindrücke, die hängen blieben – vieles andere rauschte nur so an mir vorbei.

Was sicher nicht aus der Darbietung zu begründen ist. Orchester und Ensemble führten wie schon beim gestrigen Eisenacher Gastspiel ohne nennenswerte Schwächen durch den Abend, einzig die Bühnenmusik am Schluß war meilenweit von der Taktgebung des Dirigenten entfernt – sofern die jungen Herren diesen überhaupt wahrgenommen haben. Äußerst direkt hingegen ereilte mich der Klang in Reihe 1, in der man gefühlt fast schon über den Musikern im Graben thront, auch die Distanz zur Bühne ist ungewöhnlich gering. Da bin ich wohl bei der Platzwahl ein wenig auf meine Hamburger Gewohnheiten reingefallen.

Von den Sängern möchte ich Dae-Hee Shin als profunden und stimmschönen Friedrich, Rodrigo Porras Garulo als schmelzstrahlenden Claudio und wiederum Camila Ribero-Souza – leider nur in einer kleinen Rolle – hervorheben, deren Arie auch heute das Maß der Dinge in Bezug auf Phrasierung und Ausdruck war. Vielleicht ist es etwas unfair, ihre Leistung mit der immensen Partie der Isabella-Sängerin zu vergleichen, dennoch möchte ich nicht verschweigen, daß jene im Laufe des Abends ungeachtet ihrer an sich schönen Stimme ein ums andere mal deutliche Intonationsprobleme vernehmen ließ. Generell kann man aber von einem sehr homogenen Ensemble sprechen, das auch szenisch zu überzeugen wußte – Bettine Kampp als leidenschaftliche Novizin und Stan Meus als verschlagener Pontio Pilato seien da nur als zwei Beispiele von vielen genannt.

Zur Inszenierung: Wieder mal ermöglichte die Umpflanzung der Handlung in die End-Weimarer Republik, mit dem beliebten Nazi-Aufreger aufzuwarten. In diesem Falle am Schluß in Form einer Braunhemden-Bühnenkapelle – wobei mich persönlich hier mehr die etwas konstruierte Happy-End-Sabotage als Rausschmeißer-Überraschung irritiert hat. Klar, kann man machen. Viel interessanter fand ich jedoch die generelle Einbettung der Geschichte in eine Zeit, in der es gärt. Vor diesem Hintergrund eine absolut plausible Wahl. Sehr beeindruckend übrigens der Einsatz der Drehbühne mit ihren Versenkungselementen, um verschiedenste Räume zu schaffen (Offener Platz, Tribünen, Gefängnis ...)

Was bleibt vom Erstkontakt mit dem Wagnerschen Frühwerk? Bereits hier fungiert die Frau als Erlöserfigur. Das Moment der Erotik, oder besser der Erotisierung, ist allgegenwärtig. Der Rienzi winkt hier und da am Horizont, das Musikdrama schlummert noch fest. Alles in allem kein musikalisches Erweckungserlebnis, aber ein rauschhafter, bunter Abend ohne Katergefahr.


Richard Wagner – Das Liebesverbot
Musikalische Leitung – Philippe Bach
Regie – Ansgar Haag
Bühnenbild – Helge Ullmann
Kostüme – Renate Schmitzer
Dramaturgie – Dr. Klaus Rak
Chor – Sierd Quarré

Friedrich – Dae-Hee Shin
Luzio – Xu Chang
Claudio – Rodrigo Porras Garulo
Antonio – Maximilian Argmann
Angelo – Steffen Köllner
Isabella — Bettine Kampp
Mariana – Camila Ribero-Souza
Brighella – KS Roland Hartmann
Danieli – Ernst Garstenauer
Dorella – Sonja Freitag
Pontio Pilato – Stan Meus

Chor und Extrachor des Meininger Theaters
Meininger Hofkapelle
Big Band des Martin-Pollich-Gymnasiums Mellrichstadt