29. Februar 2012

Benefizkonzert – Anna Netrebko.
Philharmonie Berlin.

20:00 Uhr, Block B rechts, Reihe 3, Platz 22














Richard Strauss – Till Eulenspiegel
Richard Strauss – Lieder für Sopran und Orchester: Wiegenlied / Morgen! / Caecilie

(Pause)

Hector Berlioz – Marche hongroise aus La Damnation de Faust

Arrigo Boito – L’altra notte (Romanze der Margherita aus Mefistofele)
Giuseppe Verdi – Ouvertüre zu I vespri siciliani
Giuseppe Verdi – Mercè, dilette amiche (Siciliana der Elena aus I vespri siciliani)
Zugaben: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky – zwei Lieder mit Klavierbegleitung


(Anna Netrebko – Sopran, Staatskapelle Berlin, Daniel Barenboim)



Etwa eine halbe Stunde vor Einlaß am Eingang der Philharmonie. Das muntere Treiben der örtlichen Ticket-Drückerkolonne sorgt für kurzweilige Unterhaltung. Offenbar sind noch genug Karten auf dem Markt, die Preise sinken mit den Mundwinkeln der Verkäufer. Einer hat seinen komischen Moment, als er das wartende Volk fragt, wie denn dieser Lang Lang so sei, der heute hier auftrete – kurzzeitig irritierte Blicke der grau ondulieren Schar.

Eine informative, gut strukturierte Einführung später sitze ich auf meinem Platz im Saal. Was zu diesem Zeitpunkt nicht alle Netrebko-Aficionados so halten. Da möchte man gleich in bester Eulenspiegel-Beckenschlagweise einfach mal reinschlagen, wenn das Pack erst nach den straussschen Narreteien aus seinen Löchern kommt. Einzelfälle sicher, aber offenbar werden diese von „Events“ wie der Stimmschau der berühmten Russin magisch angezogen. Apropos, Russen waren viele zugegen, worüber neben diversen aufgeschnappten Gesprächsfetzen insbesondere die dezent-geschmackvolle Erscheinung mancher Dame Zeugnis ablegte.

Die Akustik der Philharmonie und ich werden wohl keine Freunde mehr werden. Selbst eine so farbenreiche Partitur wie der Eulenspiegel wird von ihr leicht angegraut. Man hört die einzelnen Stimmen wunderbar durch, aber was nützt es, wenn der Gesamteindruck ein kalter, nüchterner, aseptischer ist. In der Musik hege ich nun mal keinerlei Interesse für Neutralität. Der Gesangsstimme hingegen bot der Saal deutlich mehr Berührungsmoment.

Dabei waren es gerade die reinen Orchesterstücke, die für mich die Höhepunkte des Abends ausmachten. Barenboim und die Staatskapelle sorgten für ganz großes symphonisches Kino. Ohne wieder auf die einzelnen Orchesterstimmen einzugehen – ich schwärme einfach für diesen Klangkörper. Und Barenboim hat sowohl bei Strauss, Berlioz als auch bei Verdi eine Interpretation vorgelegt, die schlicht und ergreifend Weltklasse war. Einfach Stöpsel rein, Aufnahmegerät an und fertig ist die Top-Einspielung. Die Charakteristika: weniger breit als vermutet, regelrecht forsch, knackig, zupackend, fesselnd, rhythmisch pointiert – aber nicht eckig, organisch, kontrastreich, in einem Wort: perfekt.

Leider war Frau Netrebko heute nur bedingt in der Lage, ihrerseits Perfektion zu vermitteln. Hätte ich nur den ersten Teil des Konzerts besucht, stünde wohl ein sehr ernüchternder Ersteindruck der wohl berühmtesten Sängerin unserer Tage zu Buche. Strauss-Lieder und Netrebko, das geht für mich nicht zusammen. Abgesehen von der mangelnden Aussprache und einer verblüffend unpräzisen Intonation gibt mir ihr Vortrag nichts, das andere Sängerinnen nicht inniger, lebendiger, leidenschaftlicher formuliert hätten. Am ehesten zu überzeugen weiß sie in „Morgen“ – von einer aufs Ganze gehenden, im entscheidenden Moment brutalst heruntergeregelten Interpretation Barenboims beflügelt, entlockt es ihr die zartesten Töne des Abends. Aber selbst hier: so arrogant es klingen mag – nichts Ungehörtes/Unerhörtes.

In diese Kategorie stieß sie dann nach der Pause mit dem Boito vor. In dieser Opernszene blühte Frau Netrebko regelrecht auf, schien mir wie ausgewechselt. Intensiver Ausdruck, eine wunderschöne, volle Stimme, die sich ohne eine Spur an Wärme und Schmelz zu verlieren in höchste Höhen aufschwingt und tiefste Abgründe auslotet. Wie kann das sein? Offenbar ist die Netrebko in erster Linie eine dramatische Darstellerin, der die großen Bögen des Musiktheaters ungleich mehr liegen als die Miniaturen des Liedgesangs. Natürlich ist das eine nicht streng von dem anderen zu trennen, doch der Unterschied zwischen Strauss und Boito war einfach eklatant. Hat sie bei Strauss „nur“ gesungen, so ist sie bei Boito eben jene Margherita, nicht nur mit ihrer Stimme, mit ihrem ganzen Wesen, ihrer Körpersprache. Sehr, sehr beeindruckend. In der Verdi-Siciliana trat für meine Begriffe dieser Effekt weniger in Erscheinung, was aber für meinen Teil auch an der Musik selbst liegt, der ich den gleichen Grad an Tiefe absprechen möchte. Dennoch, auch hier eine beeindruckende Stimme, in der immer ein nicht zu leugnender Teil Erotik mitschwingt.

Die beiden Tschaikowsky-Zugaben, am Flügel begleitet durch Herrn Barenboim, haben zwar einiges an Liedreputation der Russin zurückgewonnen, mich unter dem Strich aber weder musikalisch noch stimmlich restlos überzeugt. Zumindest bin ich nun mit der Hebebühnentechnik der Philharmonie vertraut – welch ein Akt, um den Flügel aus den Eingeweiden des Baus ans Licht zu befördern.

Was gibt es sonst noch zu berichten? Die Netrebko besitzt ohne Zweifel das Charisma, einen Saal durch ihre bloße Präsenz zu begeistern. Ähnliches konnte ich seinerzeit beispielsweise auch bei Rolando Villazon beobachten. Wie sie hier Kußhände verteilt und dem Publikum Royal-like zuwinkt, das
ist schon fast filmreif. Generell scheint sie großen Wert darauf zu legen, es allen Recht machen zu wollen, weite Teile ihres Vortrags vollzieht sie in stetigem Wechsel der Singrichtung, damit jeder Winkel der Halle zumindest zeitweise direkter Beschallung habhaft wird. Im Zweifel fühlte ich mich durch dies Gebaren aber eher abgelenkt und als Erstkategorieler um den Lohn meiner Platzwahl gebracht. Der Beginn von „Morgen“ war mehr ein Ständchen für den solistisch tätigen Konzertmeister als ein ernst gemeinter Liedvortrag. Besonders nervig waren darüber hinaus nicht wenige Hobbyfotoreporter aus dem Publikum, die – allen Durchsagen zum Trotz – gern an allen möglichen und unmöglichen Stellen in die Ahnung von etwas wie Konzentration reinblitzten und -blinkten. Herrlich.

Fazit: Auf Barenboim und seine Staatskapelle ist Verlaß, Anna Netrebko ist eine außergewöhnliche, mit dem richtigen Material ohne Zweifel konkurrenzlos atemberaubende, genreübergreifend jedoch sicher nicht unfehlbare Sängerin.

21. Februar 2012

Faust – Alfred Eschwé.
Staatsoper Hamburg.

19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 15


Nachdem ich vor einiger Zeit mittels Met-Liveübertragung – wenn auch zugegeben eher mit einem Ohr – den Gounodschen Faustklängen gelauscht hatte, stand nun der erste Selbstversuch vor Ort auf der Agenda. Als Konsument eher rechtsrheinisch beheimateten Liedgutes, vorgewarnt durch manch teutonische Schmähschrift über die Sirup-Sangesfreuden des vermeintlichen Goethe-Trivialisateurs, den Meyerbeer-Gegenbeweis im gedanklichen Reisegepäck, war ich dementsprechend auf alles vorbereitet. Nun ja, vielleicht auf alles mit Ausnahme der zäh dahinplätschernden Nichtigkeiten, die den Abend musikalisch dominieren sollten. Selten habe ich eine größere Diskrepanz zwischen äußerlichem, alle Ebenen der Darbietung durchwirkendem Glanz und innerer, will meinen musikalischer Hohlheit erleben dürfen.

Wo bei Meyerbeer die sauertöpfische Wagnerianer-Beckmesserei an der schieren Überfülle an melodischen, dramatischen und instrumentationstechnischen Genialitäten aus der Sicht eines jeden abprallen muß, der Musik fernab irgendwelcher konstruierten Dogmen und nationalen Sandkastenspiele liebt, läßt mich die lauwarme Langeweile der Faust-Musik angesichts ihrer unbestreitbaren Beliebtheit gleichsam verblüfft und befremdet zurück. Das ist sie also, die erfolgreichste Faustumsetzung, die je für die Opernbühne komponiert wurde – drei Stunden heiße Luft, in Hamburg offenbar noch gekürzt, wie ich dem Programmheft entnehmen konnte. Aber so genau möchte ich mich in diesem Fall gar nicht mit irgendwelchen Strichen oder Fassungen befassen, das macht den Pudel auch nicht fett. Insbesondere im ersten Teil säuselt die Musik dermaßen undramatisch am geneigten Ohr vorbei, daß ich von Glück sagen konnte, mit einer solch vollendeten Darreichung entschädigt worden zu sein.

Gleich ab den ersten Takten der Ouvertüre wird klar, daß Herr Eschwé willens und fähig ist, mit den Philharmonikern eine erstklassige Leistung abzurufen. Sensible Einsätze, zarte Phrasierungen, ein geschlossener, farbenreicher Klang, lassen mich beruhigt in meinen Sessel sinken. Dirigat und Orchesterleistung ließen an diesem Abend dann auch keine Wünsche offen. Ob Tutti oder Solo, die Ausformulierung feinster Nuancen oder der zupackende Elan in den Tableaus, der zarte, samtige Klang der gedämpften Streicher oder das sonor drohende Blech – heute paßte es einfach im Graben der Staatsoper. Woran das ungemein vielschichtige, stets regulierende und gestaltende Dirigat Eschwés sicher nicht unschuldig war. Einzig der in einigen Szenen etwas unpräzise agierende Chor war leider nicht immer gewillt, das Bild musikalischer Perfektion abzurunden. Sei’s drum.

Demgegenüber schlug die Sängerriege mit einer solch geschlossen starken Leistung zu Buche, wie sie für eine Nicht-Premierenbesetzung kaum besser zu denken ist. Da war der mitunter leicht hölzerne, etwas schmelzlose Tenor des titelgebenden Charakters angesichts der stückgemäß von ihm auszugehen habenden Suggestivkraft noch das größte Manko. Zugegeben ein Luxusproblem, verfügte er doch insgesamt über eine schöne Stimme und – schreibt man den einen, brutal verunfallten Spitzenton höherer Gewalt zu – das nötige Rüstzeug für eine solche Titelpartie. Besondere Erwähnung verdient noch der üblicherweise selten anzutreffende, in diesem Falle sehr gelungene Einsatz der Kopfstimme als behutsamste Äußerung des Liebenden.

Angesichts einer stimmlichen und darstellerischen Ausnahmeerscheinung, der Faust sich hier in Gestalt von Ailyn Pérez gegenüber sehen durfte, war das auch wohl das Mindeste! Margerite war nicht nur Dreh- und Angelpunkt, sondern Krone des Abends. Ein lyrischer Sopran, dessen zart verhauchte Stimmungsbilder in einer schon fast mezzohaften dunklen Fülle ein selten anzutreffendes Gegengewicht erhielten. Einzig mancher forcierte Spitzenton wollte dann doch nicht in ebenso scheinbar müheloser Weise gelingen. Aber was wiegt ein einzelner Ton verglichen mit dieser Doppelbegabung als Stimm- und Bühnendarstellerin? Margerites Sehnen, Schwanken, Lieben, ihre Verzweiflung, schließlich ihr Wahnsinn – Frau Pérez’ Spiel und ihre Stimme legten eindringliches Zeugnis darüber ab.

Peter Rose als Mephisto ist eine sichere Bank – auch wenn die Rolle, wie sie im Stück angelegt zu sein scheint, ihn fast unterfordert. Auch er verdient bekanntermaßen die Bezeichnung Sängerdarsteller, heute ließ er mit einer Mephisto-Arie darüber hinaus eine Flexibilität seiner Stimme aufblitzen, die ich in dieser Form bei ihm nie vermutet hätte. Der Sänger des Valentin hat mich besonders beeindruckt. Welch ein klangschöner, intensiver Bariton, der die Zerrissenheit und Verzweiflung des Charakters einem förmlich entgegen schleuderte. Und auch die weiteren Nebenfiguren waren ohne Schwäche besetzt, so hätte ich dem kurzen Auftritt Wagners gern eine Verlängerung bewilligt.

Die Inszenierung durch Andreas Homoki hat nach meinem Dafürhalten das Optimum aus dem Stück herausgeholt. Wie schon gesagt, hat mich das Werk musikalisch und auch vom Aufbau her über weite Strecken teilnahmslos gelassen, aber die Inszenierung würde ich ohne Zweifel den besten Ergebnissen, die ich bislang sehen durfte, an die Seite stellen. Ein die Handlung trotz seiner vordergründigen Kargheit stetig widerspiegelndes, sie mehr noch vorantreibendes Bühnenbild, klare, verständliche, aussagekräftige Bilder, sinnhafte Kostüme, subtil gesetzte Lichtstimmungen, eine Personenregie, die in Einzel-, Ensemble- und Chorführung eine planvolle, intelligente Handschrift offenbart – wie oft trifft all dies so glücklich zusammen?

Ich möchte nur einige Aspekte aus dieser Regiearbeit anreißen, die für sich genommen sicher keinen Anspruch auf Originalität im eigentlichen Sinne erheben können oder wollen, in der vorliegenden Gesamtkonzeption aber die vorbehaltlos gelungene von der nichtigen Inszenierung trennen: Mephisto als Spiegelbild des alten Faust; das Böse kommt gleichsam zur Tür herein, wie aus ihm selbst heraus. Im Folgenden Mephisto als Bilderbuchteufel mit Hörnern und blutunterlaufenen Augen – Karikatur, Klischee, (Opern-)Tradition? Die Puppe Margerite als Männerphantasie und -Spielzeug. Bei ihrem Erscheinen unbeseelt und manipulierbar, vollzieht sie doch als einzige Figur eine wirkliche Entwicklung. Die Akteure tragen Masken, die sie im Moment der Entäußerung (oder besser doch Verinnerlichung?) abstreifen. Und der Teufel ist auch nur ein Mensch. Küchenstuhl-Variationen: Orte der Geborgenheit, Orte des Verlusts, Orte der Überhöhung. Man spielt mit der Puppe, man reißt die Puppe in Stücke. Ein gewaltiger Puppenblick nach oben; ein naiver, unschuldiger Blick – ein hohler, monströser Blick. Und am Ende ist alles wie im Anfang.

Ein großer Abend, dem kleine Musik nichts anhaben kann.


Charles Gounod – Faust
Musikalische Leitung – Alfred Eschwé
Inszenierung – Andreas Homoki
Bühnenbild und Kostüme – Wolfgang Gussmann
Licht – Frank Evin
Chor – Christian Günther
Spielleitung – Petra Ingeborg Beyerlein

Faust – Giuseppe Filianoti
Méphistophélès – Peter Rose
Valentin – Ljubomir Puskaric
Wagner – Alexander Tsymbalyuk
Margerite – Ailyn Pérez
Siébel – Juhee Min
Marthe – Renate Spingler

Philharmoniker Hamburg
Chor der Staatsoper Hamburg

19. Februar 2012

Hamburger Symphoniker – Jeffrey Tate.
Laeiszhalle Hamburg.

19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 8, Platz 16


Igor Strawinsky – Apollon Musagète

(Pause)

Richard Wagner – Auszüge aus „Götterdämmerung“: Sonnenaufgang, Siegfrieds Rheinfahrt, Siegfrieds Tod und Trauermarsch, Brünnhildes Schlußgesang (Deborah Voigt – Sopran)



Für das Strawinsky-Ballett konnte ich mich nicht besonders erwärmen, sehr wohl aber für den gewohnt warmen, feinen Streicherklang der Symphoniker. In einigen schnellen Passagen hätte es eine kleine Schippe Virtuosität mehr sein können, unter dem Strich wieder eine mustergültige Darbietung, fein geregelt von Jeffrey Tate. Seiner nuancierten Gestaltung verdanke ich dann auch, daß die halbe Stunde zumindest kognitive, wenn schon keine emotionale, Stimulanz gewährleistet war. Eine unglaublich anstrengende, weil kaltlassende Musik.

Der Kontrast der Halbzeiten wurde ja bereits in der Einführung (diesmal ungewohnt launig!) beschworen und hätte in der Tat kaum eklatanter ausfallen können. Eines vorweg: Tates Wagner ist nicht immer mein Wagner, aber es ist ein ununterbrochen beeindruckender, bis ins letzte Detail ausgetüftelter Wagner. Auch hier fällt mir nichts Besseres ein, als die üblichen Tate-Attribute zu bemühen: transparent, nuanciert, gestaltet, plastisch, homogen, bestechend. Ungeachtet der schieren Wucht, die in den dargebotenen Passagen der Götterdämmerung nun einmal dominiert, geht Tate auch hier konsequent seinen Weg der differenzierten Interpretation. Dabei hört sich meine Beschreibung seines Stils analytischer an, als es das eigentliche Ergebnis tut. Die Art der Darbietung trat vielmehr wieder einmal den Gegenbeweis an, bei Wagner handele es sich unter dem Strich um eine brutale, lärmende Angelegenheit.

Wenn Maßlosigkeit in der Musik eine Schwäche darstellt, dann bin ich gerne ein Anhänger des Schwachen. Ich liebe Musik, die „von ... bis“ ist. Von den zartesten Streicherstrahlen des Sonnenaufgangs der Götterdämmerung bis zu den (im Idealfall) markerschütternden Schlägen des Trauermarsches. Musik von hoch bis tief, von leise bis laut, von langsam bis schnell und so weiter und so fort. Auf den Punkt gebracht ist das eine Musik der Kontraste. Nun ja, eine Musik, die gänzlich auf Kontraste verzichtet, ist sicher selten bis nie anzutreffen, mir liegt aber insbesondere das Maß, gewissermaßen die Amplitude der Kontraste am Herzen. Und in diesem Zusammenhang kann ich meine Vorliebe für Superlative nicht verhehlen, wobei beispielsweise „leisest“ und „zartest“ eine mindestens ebenso große Anziehungskraft auf mich ausüben wie ihre Spiegelbilder.

Tate liefert diese Kontraste, nicht holzschnittartig, sondern organisch wachsend und vergehend. Ein relativ langsames Grundtempo läßt den Spielraum, sich am Reichtum der Partitur zu weiden. Steigerungen entstehen bei ihm als durchhörbare, soghafte Entwicklungen, zum Höhepunkt hin nochmals verlangsamend schichtend, bei denen ich vielleicht höchstens die letzte Zündstufe der Entäußerung vermisse, im Zweifel auch auf Kosten der hier nie in Frage stehenden Homogenität. Aber ist nicht die bloße Suche nach dem I-Tüpfelchen, dem letzten bißchen Klangfarbe und Intensität, dem ich hier hinterherjage, in Zusammenhang gesetzt mit der Tatsache, daß hier weder die Berliner noch Wiener Orchestereliten am Werk waren, sondern ein dem Renommee nach eher unbeschriebener Klangkörper, die eigentliche, unzweifelhafte Sensation des Abends?

Die im Vorfeld nach allen Regeln der Vermarktung (und angestrebten Realisation der DVD-Produktion) angekündigte personelle Sensation, die deutsche Erstbrünnhilde von Deborah Voigt, geriet mir da zwar nicht zur Randnotiz, fügte sich aber vielmehr als ein wichtiger Baustein zum gelungenen Ganzen der Aufführung. Ich würde meinem tatsächlichen Eindruck nicht gerecht, schmisse ich auch hier mit Superlativen um mich, aber sie ist definitiv eine Brünnhilde, wie man sie nicht so häufig – auch an sogenannten ersten Häusern – zu Gehör bekommt. Nicht schrill, keine Spur des üblichen Gekeifes, eine sehr warme, schlanke, dennoch durchdringende Stimme, vielleicht mit etwas viel Vibrato, bemerkenswert textverständlich und akzentneutral. Ich bin gespannt auf die DVD.

Die Hamburger Symphoniker verdanken Jeffrey Tate eine Menge, soviel ist sicher. Ich verdanke allen Beteiligten einen äußerst intensiven, im Wortsinne musikalischen Abend.

18. Februar 2012

Peter Grimes – Alexander Kalajdzic.
Stadttheater Bielefeld.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 4, Platz 12














Das war wieder einer dieser Abende, wie man sie gar nicht haben möchte: nicht wirklich schlecht, nicht wirklich gut, beschwörte er das Schreckgespenst der Durchschnittlichkeit herauf, den natürlichen Feind der Intensität. Erlebnisse wie diese bestätigen mir jedes mal aufs Neue die Richtigkeit meiner Entscheidung, mein berufliches Glück nicht im musikalischen Bereich gesucht, sondern mir diese Welt als Refugium rein autokratischer Prägung bewahrt zu haben. Meine Hochachtung vor dem Kritiker, der auch einer Magerkost wie dieser mit der seines Berufsauftrag gemäßen Routine und Gründlichkeit zu Leibe rückt. Ich sähe mich – die Frage der tatsächlichen beruflichen Befähigung frech ausklammernd – einfach nicht in der Lage, gerade diese kargen Pfade jenseits der lichten Alleen der persönlichen Begeisterung mit der gebührenden Gelassenheit abzuschreiten.

Konkret auf den Abend bezogen heißt das: Ich möchte mich nicht groß mit den Sängern beschäftigen, schon gar nicht im Einzelnen, die allesamt ihre Rollen gesanglich wie darstellerisch mehr oder weniger passabel abgeliefert haben. Und womöglich tue ich gerade dem Einzelnen oder meinetwegen auch dem gesamten Ensemble Unrecht, überhaupt von „abliefern“ zu sprechen. Aber für mich war da wenig, das im eigentlichen Sinne der Rede wert gewesen wäre. Dies bitte nicht falsch verstehen – es war keine miese Leistung, aber eben auch nichts, das dem vorhandenen Reichtum dieser vielschichtigen Partien der Partitur wirklich Leben eingehaucht hätte. Sicher, der Kapitän hat ein gutes Organ, das man sicher auch weitergehend einordnen könnte – aber warum, wenn das Ganze einfach „nichts bringt“? Einzig Peter Bronder entreißt die Aufführung dem permanenten Verdikt des bloßen Handwerks – wenn auch nur selten und kurz. Nun beißt man sich mit elfenbeinturmverorteter Schwarzweißmalerei erfahrungsgemäß bei einer Kunstform, in der in jedem Moment so viel gelingen, aber eben auch scheitern kann, sicher die Zähne aus, aber die Sehnsucht nach dem schlichten „Ja“ als Fazit für einen Abend ist zumindest bei mir weiterhin ungebrochen.

Ein schlichtes „Nein“ möchte ich dem Dirigat und der Orchesterleistung an diesem spezifischen Abend entgegnen. Ebenso hochtrabend formuliert wie unzweifelhaft war dies keine Äußerung im Dienste Brittens, soweit lehne ich mich mal aus dem Fenster. Der Begriff „Entstellung“ trifft es am besten. In weiten Teilen hatte das schlicht und ergreifend nicht viel mit Britten zu tun. Es gab nur eine kurze Phase im zweiten Akt, von etwa gegen Ende der sich steigernden Hysterie der Dorfbewohner bis einschließlich der folgenden Klage der Frauen, in der ich mich dem Komponisten an diesem Abend nah gefühlt habe, sieht man mal von diversen unkaputtbaren, einzelnen, meist Chormomenten ab.

Ich habe zwischenzeitlich immer wieder darüber nachgedacht (ich hatte ja sonst wenig zu tun), wie sich ein stärkerer musikalischer Eindruck auf meine Beurteilung der Inszenierung ausgewirkt hätte. Es gab sicher Elemente, die nie den Anstrich des Ungeschickten oder Belanglosen verloren hätten, insgesamt hänge ich aber dem Gedanken nach, das hier etwas sehr Brauchbares vor die Wand gefahren wurde. Als Beispiel sei dafür die letzte Szene Grimes’ herangezogen, in welcher dem Sänger unzweifelhaft im besten und einen Abglanz des Metaphysischen evozierenden Sinne, die Bühne für einen Abschied größter Intensität bereitet wurde. Da war es wieder, das kleine Wörtchen Intensität. Heute war es nur ein flüchtiger Gast, aber ich bleibe ihm auf den Fersen.


Benjamin Britten – Peter Grimes
Musikalische Leitung – Alexander Kalajdzic
Inszenierung – Helen Maikowsky
Kostüme – Henrike Bromber
Bühne – Saskia Wunsch
Choreinstudierung – Hagen Enke
Dramaturgie – Jón Philipp von Linden
Licht – Gregor Fritz
Regieassistenz und Abendspielleitung – Annette Nora Wolf
Musikalische Einstudierung – Christian van den Berg-Bremer, Narah Chung, Merjin van Driesten, Witold Werner
Bühnenbildassistenz – Olga Gromova

Peter Grimes – Peter Bronder
Ellen Orford – Sarah Kuffner
Balstrode – Jacek Strauch
Auntie – Ceri Williams
1. Nichte – Cornelie Isenbürger
2. Nichte – Christiane Linke
Boles – Michael Pflumm
Swallow – Jacek Janiszewski
Mrs. Sedley – Xenia Maria Mann
Pastor Adams – Reto Raphael Rosine
Ned Keene – Daniel Billings
Hobson – Torben Jürgens

Bielefelder Philharmoniker
Bielefelder Opernchor und Extrachor des Theater Bielefelds