25. März 2012

Tristan und Isolde – Daniel Barenboim.
Staatsoper im Schillertheater Berlin.

16:00 Uhr, Parkett links, Reihe 2, Platz 16












Auf höchstem Niveau enttäuscht es sich doch immer noch am besten. Oder: Vom prognostizierten Traum-Tristan zu den Festspielen der zerplatzten Erwartungen. Kein Roman Trekel, kein Rene Pape und vor allem keine Waltraud Meier – das ist der Stoff, aus dem Ernüchterung gemacht wird.

Es las sich ja auch zu schön um wahr zu sein. Als ich die Karte im letzten Jahr bestellte, sprach alles für einen außergewöhnlichen Abend, der meinen Münchner Erst-Tristan noch zu überbieten vorbestimmt schien: Ian Storey hatte in den Trojanern einen starken Eindruck hinterlassen, Pape und Gubanova durfte ich bereits in München bewundern, Trekel ein alles andere als unbeschriebenes Blatt und als Krönung Waltraud Meier, deren Bühnenmagie ich nach mehreren Konzerterlebnissen entgegenfieberte. Abgerundet sah ich das Luxuspaket durch die geschätzte Staatskapelle unter ihrem Wagner-Veteranen, als vielversprechenden Rahmen die Aussicht auf eine weitere Inszenierung des verehrten Herrn Kupfer.

So trat ich also nach den diversen Absagen bereits mit der Einstellung, um etwas ganz Besonderes gebracht worden zu sein, meinen Gang in die mir unbekannte Schilleroper an. Um es vorwegzunehmen: Es wurde ein grandioser Abend, der mich dennoch seltsam uninvolviert lies. Dabei hätte der gefundene „Ersatz“ jedem Spitzen-Haus zur Ehre gereicht, ebenso wenig mangelte es an Leidenschaft aus dem Graben. Warum also dies Gefühl außen vor geblieben zu sein? Nach längerem Grübeln habe ich schließlich in der Akustik des Schillertheaters den Übeltäter (oder Sündenbock?) ausersehen. Die Bemühungen zur Optimierung in Ehren, Holzvertäfelung hin, Orchestergrabenverschalung her – die Halle bringt es nicht.

Angefangen beim staubtrockenen, basslosen Klang, den man mit einigem guten Willen noch als „direkt“ bezeichnen könnte, über die gefühlte Schlucht, auf dessen Grund irgendwo entfernt ein Orchester zu erahnen ist, das, wie von einem Kippschalter bedient, entweder ganz oder gar nicht zu hören ist, bis hin zur Unmöglichkeit, Mischklänge zu realisieren, weist das Schiller-Portfolio alle Komponenten auf, um jegliche Form der Emphase bestmöglich zu unterbinden. Die Streicher erreichen trotz Ausnahmequalität nie die nötige (akustische!) Präsenz, einzig das Blech thront von Zeit zu Zeit eindrucksvoll über dem Ganzen. Böse Ahnung: Unter solchen Umständen hätten auch drei Meier-Isolden und ein halbes Dutzend Pape-Markes nichts ändern können. Vielleicht war es also gar nicht so ... Naja, man kann sich auch alles so hinbiegen, wie man es am besten erträgt.

Kommen wir also vom Wolkenkuckucks-Tristan zur realen Aufführung. Die wie gesagt nicht die Schlechteste war. Linda Watson besitzt in ihrer Stimme eigentlich alles, was man für die Irische Maid mitbringen sollte – Kraft und Durchsetzungsvermögen, Wohlklang und Wärme, selbst die Fähigkeit zu feiner Phrasierung. Doch wie ihr darstellerisches Vermögen nicht dazu berufen ist, die Isolde in Fleisch und Blut, ihr Wesen auf der Bühne erstehen zu lassen, geht ihr Singen nicht über bloßen Gesang hinaus. Was läßt sich alles in Tönen sagen, und wie ernüchternd ist es, wenn eben aus voller Kehle geschwiegen wird. Hinzu kommt, daß ich bei Frau Watson ein eigenes Timbre vermisse, das sie unverwechselbar macht – das gewisse Etwas, das gute und richtige Ergebnisse von elektrisierenden unterscheidet.

Ein Mangel an darstellerischer Präsenz ist Ian Storey fürwahr nicht zu unterstellen. Der Begriff des Sängerdarstellers findet bei ihm – wie schon als Aeneas – die erhoffte Anwendung. Das Lyrische ist dabei nicht unbedingt seine Sache, dafür wird aber mit Hingabe geheldet und im dritten Akt grimmig-wahnhaft gestorben. Unterstützung findet er dabei in Martin Gantner, dessen Kurwenal angesichts seines zwischen Dies- und Jenseits oszillierenden Herrn ergreifend liebevolle, verzweifelt-zärtliche Töne anschlägt, die seine Leistung an diesem Abend bekrönen.

Kwangchul Youn ist eine der denkbar besten, vielleicht die beste Marke-Alternative zu Pape, kann diesen in letzter Konsequenz jedoch nicht ersetzen. Heute Abend wurde absolutes Top-Niveau geboten – leider drängt sich mir trotzdem ungerechterweise der Vergleich mit München auf, wo Pape einfach Unübertreffliches vorgelegt hatte. So einen intensiven Bass gibt es wohl nur einmal, dennoch war es eine ganz starke Leistung von Youn. Neben einem kantig-scharfen Melot komplettiert mit Frau Gubanova eine Brangäne das Sängerfeld, die ich als ideal, ach sei’s drum, als perfekt bezeichnen möchte. Auch hier noch einmal der Blick zurück nach München: bereits dort hatte mich diese Stimme, aber auch die ganze Erscheinung, tief beeindruckt, in Berlin durfte ich feststellen, daß sie jene Qualität offenbar bei jedem Auftritt abzurufen im Stande ist. Diese dunkle Färbung, dieser volle, leidenschaftsdurchpulste, um nicht zu sagen erotische Ton. Mit der richtigen Isolde wäre eine wahrhaft ekstatische Kombination denkbar. Auch darstellerisch ist alles da: die Sorge, die Zerrissenheit, das Mitgefühl – eine Idealbesetzung.

Die Inszenierung setzt voll und ganz auf die individuelle Wirkung der Akteure und stellt ihnen mit der poetisch-zarten Pose des Engels lediglich die eigene Seelenlandschaft als Manifestation für ihr Handeln zur Verfügung, dabei alle Facetten der Emotionen widerspiegelnd. Ohnmacht, Verzweiflung, Trauer, Enttäuschung, Hoffnung, Liebe. Gleichsam Todes- und Schutzengel, zu Boden geschleudert und doch mit kräftigen Schwingen das Wunder der Entweltlichung schirmend.

Bei der Führung durch das Theater im Anschluß an die Aufführung konnte ich der Demontage des Engels beiwohnen – ein Verbund aus Stahl und Kunststoff, wie er im Bootsbau eingesetzt wird, so verkündete der Techniker. In einer anderen Ecke warten graue Rösser darauf, ihrer Verwendung zugeführt zu werden. Morgen ist Walküre. Könnte ein ähnliches Material sein. Ob ihm wohl ähnlicher Zauber innewohnt?


Richard Wagner – Tristan und Isolde
Musikalische Leitung – Daniel Barenboim
Inszenierung – Harry Kupfer
Bühnenbild – Hans Schavernoch
Kostüme – Buki Schiff
Chöre – Eberhard Friedrich

Tristan – Ian Storey
König Marke – Kwangchul Youn
Isolde – Linda Watson
Kurwenal – Martin Gantner
Melot – Reiner Goldberg
Brangäne – Ekaterina Gubanova
Ein Hirt, ein junger Seemann – Florian Hoffmann
Ein Steuermann – Arttu Kataja

Staatsopernchor
Staatskapelle Berlin

21. März 2012

City of Birmingham SO – Andris Nelsons.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16


Benjamin Britten – Four Sea Interludes op. 33a
Ludwig van Beethoven – Klavierkonzert Nr. 4 (Anna Vinnitskaya)
Zugaben: Ludwig van Beethoven – Bagatelle / Johannes Brahms – Intermezzo Es-Dur op. 117/1

(Pause)


Jean Sibelius – Sinfonie Nr. 2

Zugabe: Jean Sibelius – Andante festivo



Am heutigen Tag wurde mein akustischer Fundamentalismus auf eine harte Probe gestellt. Eine saftige Erkältung nebst hartnäckigem Rachenreiz trat an, meine mehr als 350 Konzerte währende Hustenabstinenz jäh abreißen zu lassen. So weit kommt es noch! Wie soll ich denn dann bitte weiterhin meine inwändigen Haßtiraden gegenüber allen Konzert-Röchlern und Spontan-Auswürflern in bewährter Freude ausleben? Da könnte ich mich ja selbst nicht mehr im Spiegel anhusten. Gemach, gemach, es kam erst gar nicht zum Äußersten – auch, weil mich ein rundum gelungenes Konzert in seinen Bann zog.

Das City of Birmingham Symphony Orchestra ist für meine Begriffe eines der besten Orchester für Sibelius. Insbesondere sein herb schneidender, leicht spröder Klang der Streicher scheint sich seit den Zeiten mit Rattle – die ich allerdings nur von den Mitschnitten her kenne – konserviert zu haben. Diese EMI-Aufnahmen stellen für mich nach wie vor die Referenz in Sachen Sibelius dar, interpretationstechnisch wie klanglich. Umso schöner festzustellen, daß dieser Sibelius-Sound auch heute noch live erlebbar ist.

Doch zuerst stand Anderes auf dem Programm. Zuvor bewies man auch in den Sea Interludes seine tönende Eignung für Britten, wenn ich auch mit Nelsons Interpretation nicht in allen Einzelheiten mitgehen konnte. Aus einem erfrischend schwungvollen, von Elan geprägten Ansatz heraus unterstelle ich ihm in schnellen Passagen (beispielsweise in „Sunday morning“) eine Tendenz zum Davongaloppieren, das rhythmische Gefüge gerät für mein Empfinden aus den Fugen, ins Kurzatmige, läuft Gefahr zu stolpern. Trotz dieser Irritationen stehen spannungsreich gestaltete Ergebnisse Nelsons zu Buche.

Dem Beethoven konnte ich allerdings weniger abgewinnen, auch die Solistin vermochte daran zunächst nichts ändern, obwohl sie spätestens im Finalsatz und erst recht in den Zugaben ihre Extraklasse demonstrierte. Wahrscheinlich war ich doch nicht ganz in Form. Frau Vinnitskaya ging den Schluß des Beethoven-Finales aber mit einer derart Aufhorchen machenden eleganten Agilität an, daß auch bei mir der Groschen fiel. Die Bagatelle überzeugte vollends, nach Verklingen des Brahms-Intermezzo war ein Aggregatszustand wohliger Wehmut erreicht – einem zarten Anschlag und sensibler Spielweise sei Dank.

Nach der Pause nun Sibelius. Wann immer es zu den spärlichen Aufführungen des Finnen kommt, ist die Wahrscheinlichkeit überaus hoch, seine zweite Sinfonie kredenzt zu bekommen. Oder halt Finlandia als Programmauffüller oder Rausschmeißer. Warum also immer die Zweite? Sicher weil sie Kraft ihrer Ausdehnung als vollwertiger Hauptgang taugt und darüber hinaus noch nicht so viel mit dem zu tun hat, was mir Sibelius so faszinierend und unverwechselbar erscheinen läßt. Das ist natürlich stark vereinfachend zu verstehen. Nichts desto trotz fristet die Zweite in der heimischen Sibelius-Jukebox ein Schattendasein und wird von ihren Geschwistern Vier bis Sieben hoffnungslos ausgespielt. Nun denn, mein Plattenschrank ist (noch) nicht Vorbild für Programmgestalter, somit kehren wir zurück ins Reich der unumschränkt herrschenden Nummer Zwei.

Wie schon gesagt, bezüglich des Klangs gab es heute rein gar nichts zu beanstanden. Streicher schroff-scharf; Blech präsent – nicht ultradrohend aber sehr brauchbar, insbesondere ein klar schneidender Trompetenstahl; Holz ohne Fehl und Tadel. Schönes Cellosolo. Zwar muß ich gestehen, die Sinfonie in ihrer Struktur nicht besonders gut auf dem Schirm zu haben, dennoch war mir phasenweise ein Abgleich mit schon Vertrautem möglich. Und auch ohne diesen Vergleich war ich sehr von Nelsons Herangehensweise angetan. Manch ruhige Passage hätte man behutsamer, kontemplativer lösen können, im Großen und Ganzen empfand ich die Interpretation als absolut schlüssig.

Besser noch als die Sinfonie selbst eignet sich vielleicht die Zugabe, das Andante festivo, um Nelsons Zugang zu beschreiben. Dieses Stück wird ja immer mal wieder als Nachtrag gegeben, in solch einem freudigen, schwungvollen – wahrhaft festlich glänzenden – Gewand habe ich es jedoch noch nie gehört. Nelsons schürt die Energie, betont das Schwungvolle, auch hier mit einer gewissen Tendenz zur Eile, das Ergebnis ist glückselig umarmend anstatt elegant oder gar melancholisch. Ob diese Art auch auf eine vierte oder siebte Sinfonie angewendet funktionieren könnte, kann ich nicht sagen. Nicht, daß mit der Zweiten heute keine Tiefe übertragen worden wäre, aber so ein monumentales Triumphfinale ist schon etwas Anderes als das dünne Eis der späten Sinfonien.

So oder so geben Nelsons und sein Orchester eine Kombination ab, die Eindruck und Freude macht – bitte wiederkommen!

11. März 2012

Der Rosenkavalier – Markus Poschner.
Theater Bremen.

15:30 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 14














„Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding“, sinniert die Marschallin auch in dieser Inszenierung, die auf kompromisslose Weise Ernst macht in der Beleuchtung der nachdenklichen, Grundfragen der Existenz berührenden Ebene eines Werkes, das allzu oft ein Harnisch an parfümiertem Plunder und Schenkelklopfereien auf Schwankniveau niederdrückt. Davon heute keine Spur. Ich muß dazu sagen, daß ein solcher durchdringender Ansatz der Regie bei mir offene Türen einrennt, da ich mit der Substanz des Stückes als Komödie nicht viel anfangen kann. Das ist einfach nicht mein Humor.

Auf der anderen Seite darf es (mich) dann auch nicht verwundern, wenn die offenkundige Mehrheit der Besucher sich spätestens ab dem zweiten Akt (ja, ja ein paar „historische“ Kostüme helfen schon dabei, die Regiearbeit zu ignorieren) um ihre erhoffte Kuschelkitschklamaukseligkeit gebracht fühlt. Dabei ist es eigentlich keine Frage von fescher Uniform oder T-Shirt vom Grabbeltisch, ob Botschaften – so denn überhaupt der Versuch unternommen wird, welche auszusenden – das Herz des Zuschauers treffen oder nicht.

Doch für die Mehrzahl stellt sich das scheinbar so dar: die Zeit mag ein sonderbar Ding sein, aber man verschone uns bitte auf der Bühne mit jener, die unsere eigene ist. Warum ist das so? Ästhetische Vorlieben mögen eine Rolle spielen, verbunden mit dem Wunsch, „etwas Schönes“ zu Gesicht zu bekommen, zumal doch die Musik auch so schön ist. Was letztendlich die Frage provoziert, warum unser Heute demnach nicht für das Schöne einzustehen in der Lage gesehen wird bzw. andere, uns ferne Zeiten als trefflichere Anwälte des Schönen gelten. Die gute alte Zeit.

Eine tiefere Ursache der Ablehnung liegt wahrscheinlich in der jeweils persönlichen Definition dessen, was Oper zu leisten hat. Zum Glück besteht in der Kunst keine Konsenspflicht, so bleibt nur festzuhalten, daß der Wunsch nach einem kurzweiligen, unterhaltsamen Abend nicht mehr zu belächeln ist als das Verlangen nach einer Inszenierung, die ein Werk ernst nimmt und mehr daraus ableiten möchte als eine möglichst irritationsfreie Staffage zum Dreivierteltakt.

Und nochmal: die gute alte Zeit. Der erste Akt ist anstelle des librettogemäßen Wiens des 18. Jahrhunderts etwa zur Entstehung der Oper verortet und etabliert dieses Zeitalter als Startpunkt für die beiden großen Themen der Inszenierung: das Verhältnis der Menschen zu Besitz und Status und auf der anderen Seite der Umgang mit der unausweichlichen Vergänglichkeit. Im Laufe des Abends ergeben sich daraus neben einer Konsumkritik-Zeitreise immer wieder Momente schmerzlichster, aber auch tröstlichster Konfrontation mit den letzen Dingen.

Schön und gut, aber handelt es sich bei besagter Kapitalismuskritik nicht wieder mal um eine dieser aufgepfropften Schlaumeiereien selbstverliebter Regisseure? Ein klares Nein von meiner Seite. Einerseits ist die ganze Oper in ihrer Genese als kalkulierter Erfolg selbst ein Paradebeispiel für – wenn auch künstlerisch begründeten – Vermarktungswillen, auf der anderen Seite verdienen die in ihr gezeigten gesellschaftlichen Konventionen des bestimmenden Blut- und Geldadels einen Blick fernab verniedlichender Royal-Romantik. Besitzstände und Status definieren und legitimieren die handelnden Personen, erst die unplanmäßige Liebe der jungen Leute streut Sand ins Getriebe einer Welt, in der Seitensprünge ebenso wie Vernunfthochzeiten gefälligst ihre Ordnung haben.

Ich sehe die Gefahr, mich in meinem Überschwang für diese Arbeit, in der schieren Begeisterung angesichts einer solchen Flut an Anregungen und Einzelheiten zu verfransen. Wo anfangen und wo aufhören? Jeder Akt für sich betrachtet wartet mit mehr Regiearbeit im eigentlichen Sinne auf als manch kompletter Abend. Dreimal sehen wir bei offenem Vorhang eine Art Schaufenster, das als Vorgeschmack auf die jeweilige Epoche fungiert, in der der Akt angesiedelt ist. Wir starten unsere Zeitreise in einem Einkaufspalast der ausgehenden KuK-Ära mit seiner überreichen, detail- und materialverliebten Inneneinrichtung. Ein Triumph der Bühnenbildner. Der Beginn mit der Marschallin und Octavian findet in der Bekleidungsabteilung des Warenhauses statt, bei der morgendlichen Aufwartung weitet sich dann der Blick auf die Lobby mit imposantem Aufgang zu den anderen Abteilungen, bekrönt von einer gewaltigen Uhr. Ich wiederhole mich: welch eine Liebe zum Detail! Und so viele Ideen.

Gleich zu Beginn wird die Hosenrollen-Ambivalenz des Octavian, der ja ohnehin im Dienste der Verkleidungsposse mehrfach „die Seiten wechselt“, weitergedacht, indem er als Umkleiden-Spiegelbild der Marschallin an ihrer Reflexion Teil hat. Die Stumme Rolle des Ochs-Anhängsels Leopold gewinnt durch sein irreal-reales Auftreten und Handeln als weinseliger Amor an Witz und Poesie. Boten der Vergänglichkeit sind, neben der stets präsenten Uhr, Valzacchi und Annina, die als Todesengel und Sensenfrau in Erscheinung treten, was ihrem auf der reinen Handlungsebene eher undurchsichtigen Verhalten eine völlig andere Dimension verleiht. So betrachtet sind sie es, die auf einer zweiten Ebene die Fäden in der Hand halten. Einzig der Macht der Liebe scheinen sie sich beugen zu müssen, dies wird vor allem in den Konfrontationen mit Amor klar.

Von Werdenberg, von Lerchenau, von Faninal, dreimal „von“ und gleichzeitig drei verschiedene Vertreter einer Gesellschaft des Seins und Habens. Folgerichtig tritt Faninal als Besitzer des Kaufhauses auf, jemand, der über Besitz zu Ansehen und Titel gekommen ist. Es geht um Geltung und Güter. Die Liebe mag das höchste Gut sein, aber hier wird alles korrekt bezahlt. Davon zeugen die blitzenden Registrierkassen, davon kündet ihr Klang. Die silberne Rose als kostspieligstes Schmuckstück der Geschmeideabteilung. Beim Morgenempfang der Fürstin wird nicht allein gebuckelt und gebettelt, es wird geworben, besser noch, Werbung betrieben. Die Arie des Tenors, von Strauss vielleicht als Karikatur auf die Auskopplungsfähigkeit der Puccini-Schlager angebracht, wird denn auch gleich grammophonwirksam vermarktet, die beschwörenden Gesten und verzückten Blicke des weiblichen Verkaufspersonals tun ihr Übriges. Auch hier: absolute Akribie in der Personenregie selbst der kleinsten Nebenrollen. Dem kolonialen Großwildjäger mit seinen zimmerreinen Bettvorlegern in der Auslage möchte man am liebsten ermutigend zurufen, wenn er auf den Barden anlegt, aber halt, Konkurrenz belebt schließlich das Geschäft.

Die eindringlichste Szene des Aktes indes vollzieht sich, als der Todesengel wie in einer entrückten Vision greise Damen, nackt bis auf ihre repräsentativen Hüte, die große Treppe hinabwandeln läßt. Keine Provokation, sondern schlicht ein ebenso anrührendes wie behutsames Bildnis der Vergänglichkeit, zerbrechlich und gleichermaßen kraftvoll in seiner Wirkung. Die Zeit verrinnt, nicht allein im Zeitraffer der großen Uhr, auch in den Vorzeichen einer Zeitenwende erkennbar. In schneller Folge schreiben wir das Jahr 1912 (Titanic-Schlagzeile), dann 1914 (Sarajewo-Attentat), Octavian tauscht seine Uniform gegen das feldgraue Gegenstück, schließlich die Kappe gegen den Stahlhelm.

Mit dem zweiten Akt ist ein deutlicher Anstieg an Irritation im Publikum zu spüren. Hach, die Fünfziger. Vielleicht fühlt sich ein guter Teil der Zuschauer (zu) sehr an seine eigene Kindheit bzw. Jugend erinnert, in jedem Fall ist für Erheiterung bis Ablehnung gesorgt. Dabei paßt die Einordnung der Prinzessinentraum-Schwärmereien Sophies perfekt in das kitschig-bunt-naive Ambiente des Nachkriegsjahrzehnts, nicht bloß als visuelle Entsprechung, sondern auch als gedankliche Parallele zu ihrer von Hoffnung und Aufbruchsstreben geprägten Sicht, umgeben von einer in seinen Grundfesten weiterhin konservativen, biederen und normierten Gesellschaft. Sophie, und nicht nur sie, sehnt sich nach einem schönen Leben, bonbonfarbene Insignien und frohe Werbebotschaften verheißen eine wunderbare Zukunft. Es darf konsumiert werden!

Die übrigen Rollen in diesem Gefüge sind klar verteilt: Ochs als Biedermann, dem außer an einer guten Partie vor allem an einer guten Aussteuer gelegen ist, Octavian übernimmt den Gegenpol des schmalztollenen „Halbstarken“, des lederbejackten Rebells, der Sophie aus ihrer Puppenhauswelt entführen wird. Das Kaufhaus besitzt architektonisch noch Rudimente der alten Zeit, bietet aber die ganze Wirtschaftswunder-Palette. Statt der silbernen Rose wird dementsprechend eine Porzellanfigurine überbracht, man ist begeistert, insbesondere Ochs, der auch eigens das Herstellersiegel des Geschenk-Services in Augenschein nimmt. Folglich wird er von Octavian nicht körperlich, sondern materiell verletzt – der junge Draufgänger zerschmettert die Porzellanfigur und trifft den Baron damit ins Mark.

Alle sind außer sich, als der Rocker dann mit den Produktschachteln herumwirft. Sophie übernimmt später sein Rebellentum, streift die Lederjacke über, zündet sich eine Zigarette an. Wie gleichsam naiv und treffend ist dieses Bild, in der Flucht vor den Verständnislosen per Vespa gipfelnd. Ochs selbst wittert schließlich durch die briefliche Aussicht auf das Stelldichein Morgenluft, wobei er das Schreiben aus den Händen eines durchaus reizvollen Todes erhält. Der Möchtegernverführer als Verführter – aber wer würde angesichts einer derart sinnlichen Schnitterin nicht auch einen Walzer wagen? So ist es wie bereits angesprochen der Leopold-Amor, der den Herrn davor bewahrt, sein Leben mit einem Seit-Schluß zu beenden.

Der dritte Akt – Heute. Das Schaufenster proklamiert den Ausverkauf, davor singt ein Bettler, begleitet von einem Kofferradio, die Arie des Tenors in der Hoffnung auf etwas Kleingeld. Ausverkauf der Waren, Ausverkauf der Kunst, Ausverkauf des Menschen. Ochs trifft sich mit einer Prostituierten (der als Mariandl verkleidete Octavian, nochmals „verkleidet“), er ist sichtlich gealtert. In der nächtlichen Halle des Kaufhauses ereilt ihn unter den Augen der Schaufensterpuppenzombies sein Scheitern, das in dieser Inszenierung als Impotenz, letztlich als Sterben formuliert wird.

Auch Faninal und die Fürstin sind alt geworden, Vertreter einer vergangenen Zeit. Die große Uhr wurde durch ein digitales Exemplar ersetzt. Rosen gibt es für 99 Cent vom Grabbeltisch, Ramschware. Aber das junge Paar macht Hoffnung, den Zwang des Geldes durch ihre Liebe durchbrochen zu haben. Die Feldmarschallin hingegen bleibt sich treu und verschwindet mit dem „Mohren“ in der Umkleide, nicht ohne ihn dafür zu bezahlen, natürlich. Nachdem Faninal den letzten Aktenordner gepackt hat, das Licht gelöscht wurde und die Uhr längst aufgehört hat, eine Zeit vorzugeben, erobern am Ende spielende Kinder die abgesperrte Konsumhalle. Die Boten einer neuen, besseren Zeit? – keine Sorge, der geflügelte Freund mit dem Stundenglas kümmert sich auch um die jüngste Generation.

Dies alles ist nur eine grobe Zusammenfassung dessen, was die Regie an diesem überwältigenden Abend für den Zuschauer bereithält. Viele Feinheiten und Andeutungen habe ich dabei sicher unterschlagen, aber diese Inszenierung schreit ohnehin danach, mehr als einmal bestaunt, ach was, durchlebt zu werden. Höchste Theaterkunst in Bremen.

Und als wäre das allein noch nicht genug, steht die musikalische Umsetzung der szenischen in nichts nach. Die Besetzung stimmlich wie darstellerisch von erster Güte, die Marschallin wunderbar warm und innig, Octavian voller Leidenschaft, Sophie mit der gebotenen Zartheit, Ochs einzig in der Höhe etwas dünn. Selbst eine kleine Rolle wie der Notar ist erstaunlich stark besetzt. Und dann erst Poschner und sein Orchester – eine Wonne. Den Mann zähle ich weiterhin zu den energiereichsten Vertretern seiner Zunft. Gleich zu Beginn mit recht flottem Tempo, aber immer mit sensiblem Gespür für die Balance zwischen Druck und Innigkeit. Direkt in den ersten Takten erzeugt das Orchester ein unerhörtes Flirren, einen Farbenüberschwang, der ein Versprechen für den Abend abgibt, das im himmlischen Terzett den Triumph seiner stetig strömenden Einlösung feiert. Sicher, zum Teil führt Poschner den Klangkörper an seine Grenzen und darüber hinaus, darin liegt jedoch kein Mangel, sondern der Kern seiner Strahlkraft.

Warum wird so etwas nicht mitgeschnitten? Wo bleibt die DVD? Fest steht: die Inszenierung scheint kein Renner zu sein, viele Plätze bleiben leer, nach jeder Pause kommen noch ein paar hochgeklappte Polster hinzu. Was soll ich sagen? Wer nicht will, der hat schon. Wär nur schade, wenn solch ambitionierte Produktionen dem Diktat der Gleichmut zum Opfer fielen. Schade für Bremen, schade für das Haus und natürlich auch schade für Spinner wie mich.


Richard Strauss – Der Rosenkavalier
Musikalische Leitung – Markus Poschner
Inszenierung – Tobias Kratzer
Bühne und Kostüme – Rainer Sellmaier
Licht – Christian Kemmetmüller
Chor und Kinderchor – Daniel Mayr
Dramaturgie – Hans-Georg Wegner

Die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg – Kelly Cae Hogan
Der Baron Ochs auf Lerchenau – Rúni Brattaberg
Octavian, genannt Quinquin, ein junger Herr – Nadja Stefanoff
Herr von Faninal, ein reicher Neugeadelter – Martin Kronthaler
Sophie, seine Tochter – Alexandra Scherrmann
Jungfer Marianne Leitmetzerin – Nadine Lehner
Valzacchi, ein Intrigant – Christian-Andreas Engelhardt
Annina, seine Begleiterin – Barbara Buffy
Ein Polizeikommissar – Christoph Heinrich
Der Haushofmeister bei der Marschallin – Bert Coumans
Der Haushofmeister bei Faninal – Kejia Xiong
Ein Notar – Daniel Wynarski
Ein Sänger – Randall Bills
Drei adlige Waisen – Lusine Ghazaryan, Martina Parkes, Astrid Kunert
Eine Modistin – Anne-Kathrin Auch
Ein Tierhändler – Robert Lichtenberger
Vier Lakaien der Feldmarschallin – Sangmin Jeon, Can Tufan, Wolfgang von Borries, Allan Parkes
Vier Kellner – Achim Rikus, Zoltán Melkovics, Johannes Scheffler, Daniel Wynarski
Ein Hausknecht – Daniel Ratchev
Mohammed – Michael Davies
Amor – Leander Dewan

Der Chor des Theater Bremen
Statisterie des Theater Bremen
Bremer Philharmoniker






10. März 2012

Lady Macbeth von Mzensk – Stephan Tetzlaff.
Stadttheater Bremerhaven.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 13


















Bremerhaven scheint mir nicht gerade eine Schönheit, profitiert in meiner hanseatischen Wahrnehmung aber von seiner Lage direkt am Deich gegenüber anderen grauen Flecken der bundesdeutschen Landkarte. Ist der einstige Charme des Stadttheaters noch in Fassadenresten zu erahnen, bleibt dem architekturkonservativen Auge ansonsten wenig Blickfläche zum verweilen. Aber es kommt ja auf die inneren Werte an.

Mit Schostakowitschs Lady Macbeth (wohlgemerkt in deutscher Sprache) stand nach Greifswald schließlich der zweite Premierenbesuch an einem kleinen Haus innerhalb weniger Wochen an, an dieser Stätte offenbar gar eine Erstaufführung des Werkes. Leider gab es nach der rauschenden Greifswalder Nacht hier nur ein laues Lüftchen an der Küste.

Angefangen bei der seltsamen Akustik, die insgesamt zwar schon präsent war, das Schlagwerk jedoch in einer Art merkwürdigem Echo abbildete und unter dem Strich – zumindest auf meinem Platz – Druck vermissen ließ. Vielleicht lag es aber auch am Orchester oder vielmehr am Dirigat, daß aus dieser eruptionsreichen, wallungsgesegneten Partitur so wenig herüberwallte. Für das Protokoll: kein schlechtes Orchester aber mit einem Wort – harmlos.

Auch die Sänger waren durchweg zu hölzern, insbesondere die Hauptpartie. Keine wirklich schöne Stimme, ziemlich hart, szenisch engagiert aber wirkungslos. In Braunschweig waren es vor allem Katerinas Oasen zerbrechlicher Zartheit innerhalb dieser Orgie des Brutalen, die die musikalische Sensibilität des Komponisten und seines Werkes immer wieder ohrenscheinlich werden ließen – hier war davon kaum etwas zu spüren. Sergei zwar mit recht ordentlichem Organ, aber auch bei ihm: nur ein Kratzen an der Oberfläche dessen, was die Oper an Potential bereithält. Physisch nicht präsent genug, obwohl noch einer der besten. Vater nicht schlecht, auch darstellerisch, Sohn zu vernachlässigen. Pope und Polizeichef brachten mit ihren skurrilen Auftritten jeweils etwas Leben in die Bude. Die Sängerin der Sonjetka darstellerisch nicht übel – lasziv.

Die Inszenierung besitzt von allem ein bißchen, von öde bis treffend – hätte mit besserer musikalischer Leistung was werden können. Amüsante Szene: die Polizeisauna. Ganz schwach: die Umsetzung der verzweifelten Tat Katerinas zum Schluß (Warum erschlägt sie Sonjetka mit einem Stein – für das bißchen Theaterblut? Sie selbst kann sich danach nur zum Sterben legen. Natürlich nicht zu den anderen Toten des Abends. Eine seltsam unentschlossene Szene). Ganz stark: die Umsetzung des Gefangenenzuges im gleichen Akt (Die Häftlinge tragen ihr Gefängnis mit sich. Die Gitter werden je nach dramatischer Konstellation angepaßt: zuerst als Trenner zwischen den Geschlechtern, dann als frontale Schaumauer für die höhnende Meute in Isolation zu Katerina).

Am Ende stellt sich mir die Frage, ob man das Werk und insbesondere seine Musik in dieser Gestalt in sein Herz schließen kann. Zumal, wenn es sich um die erste Kontaktaufnahme handelt. Nun, Liebe auf den ersten Blick scheint ja im Allgemeinen ein eher seltener Umstand zu sein, somit bleibt mir zu hoffen, daß man die Oper in Bremerhaven trotz einer eher verhaltenen Aufnahme durch das Publikum nicht gleich wieder in der Versenkung verschwinden läßt. Aber wahrscheinlich wird es – anders als in der Libretto-untreuen Szene – genauso für Katerina kommen und am Horizont röten die Umrisse einer neuen Violetta oder Carmen.


Dmitri Schostakowitsch – Lady Macbeth von Mzensk
Musikalische Leitung – Stephan Tetzlaff
Inszenierung und Ausstattung – Andrej Woron
Choreographie und szenische Mitarbeit – Lars Scheibner
Choreinstudierung – Ilia Bilenko
Dramaturgie – Juliane Piontek
Studienleitung – Hartmut Brüsch
Musikalische Assistenz – Yukiko Horiuchi, Ara Khachaturian
Regieassistenz und Abendspielleitung – Sebastian Glathe
Mitarbeit Bühnenbild und Kostüme – Joanna Surowiec

Boris Ismailow – Werner Kraus
Sinowi Ismailow – Daniel Kim
Katerina Ismailowa – Kirsten Blanck
Sergei – Alexander Günther
Axinja, Köchin – Christine Graham
Der Schäbige, ein verkommener Arbeiter – Ziad Nehme
Pope / Alter Zwangsarbeiter – Andrey Telegin
Polizeichef – Peter Kubik
Sonjetka, Zwangsarbeiterin – Ann-Juliette Schindewolf
Zwangsarbeiterin – Elena Zehnhoff
Verwalter / Sergeant – Daniel Dimitrov
Hausknecht – Lukas Baranowski
1. Vorarbeiter – Vladimir Marinov
2. Vorarbeiter / Kutscher – Dong-Sung Cho
3. Vorarbeiter / Betrunkener Gast – Jung-Hun Choi
Mühlenarbeiter / Polizist – Róbert Tóth
Wächter – Giorgi Darbaidze

Opernchor und Extrachor des Stadttheaters Bremerhaven
Städtisches Orchester Bremerhaven
Statisterie

9. März 2012

Klavierabend – Grigory Sokolov.
Die Glocke Bremen.

20:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 1, Platz 15















Jean-Philippe Rameau – Suite in re
Wolfgang Amadeus Mozart – Sonate a-Moll KV 310 (300d)

(Pause)


Johannes Brahms – Variationen über ein Thema von Händel op. 24

Johannes Brahms – Drei Intermezzi op. 117
Sechs Zugaben



Nach Hamburg, Lübeck und Köln nun also Bremen als Schauplatz für mein viertes Sokolov-Konzert. Erste Reihe Mitte, direkt „unter“ dem Flügel – sicher nicht der ausgewogenste Höreindruck, aber die Chance, möglichst ohne menschliche und raumakustische Störfaktoren unmittelbar am Spiel des mit kaum steigerungsfähiger Erwartungshaltung bedachten Solisten teilzuhaben.

Und was soll ich sagen? Ich habe (wieder) etwas Magisches erhofft – und Sokolov liefert zuverlässig. Ich fasse noch einmal zusammen, was ihn in meinen Ohren zum besten Pianisten der Welt macht: Der differenzierteste Anschlag – von den machtvollsten, voluminösesten Schlägen bis zum mikroskopisch geformten Schatten eines Hauchs. Damit verbunden eine nicht mehr steigerungsfähige Bandbreite der Dynamik. Eine Technik, die ihm in jeder Situation das Ungeahnte erlaubt, als Ausdruck bestaunenswertester, weil dienlichster Virtuosität.

Das Ergebnis: Unanzweifelbare Interpretationen, gespeist aus einer unerbittlichen (An-)Spannung, die einer elektrischen Ladung gleich auf den empfangsbereiten Hörer überspringt. Anspannung trifft den ganzen Komplex Sokolov wohl recht gut. Die immer gleichen, regelrecht einstudiert wirkenden Abläufe des Betretens und Verlassens der vorsorglich gedimmten Bühne; das scheinbar regungslose Entgegennehmen des Beifalls als weiteres „Modul“ in dieser Routine, in der ein Blumenstrauß eher für eine gewisse Unwucht zu sorgen scheint; die leicht auf den Rücken genommene linke Hand. Es geht mir dabei weniger um die Frage, ob Herr Sokolov seine Schritte zählt oder privat den Inhalt seines Kühlschranks nach Farben sortiert, sondern um die Feststellung dieser Anspannung, dieser federnden Anspannung – man könnte einfach auch von gelebter Konzentration sprechen – und ihrer Auswirkungen auf sein Spiel: die Realisation eines permanent-fokussierten Schöpfungsaktes ohne Beispiel.

Auf mein Hören übertragen erzeugt diese Anspannung kein Gefühl der Beklommenheit, sondern des Berauschens, einer Gewißheit der Unverletzlichkeit im Auge des Zyklon. Unter diesen Händen wird es keine Enttäuschung geben. Eine Art Tunnelblick stellt sich ein, eine Form des Gebanntseins, das die eigene physische Teilhabe am Gelingen dieser Situation suggeriert. Soghafte Steigerungen. Dynamische Eruptionen. Und immer wieder: Kontraste.

Apropos: Ich hätte nie gedacht, daß die Musik Rameaus (ohne daß ich zuvor eine konkrete Vorstellung von ihr gehabt hätte) so viel Freude, so viel Abwechslungsreiches für mich bereithalten würde. Eine lebendige, eine durch und durch elegante Musik, in der Darbietung Sokolovs keineswegs verstaubt oder akademisch. Vieles wirkte auf mich geradezu modern, wobei ich angesichts meiner Unkenntnis der Stücke dies nicht genauer belegen kann. Im Mai werde ich Sokolov mit dem gleichen Programm in Hamburg besuchen, vielleicht sehe ich dann bereits etwas klarer. In jedem Fall freue ich mich auf eine Wiederbegegnung mit diesem Werk (und Sokolovs Triller-Gatling), das mich auf dem Programmheftpapier ehrlicherweise eher abgeschreckt hatte. Auch die Mozart-Sonate hat mir – Trommelwirbel – musikalisch sehr zugesagt. Was war da los? Ein Moment der Schwäche? Ein perfider Zauber? Wohl eher der Zauber großer Musik, der heute durch den passenden Fürsprecher seine Wirkung zeigen konnte.

Kaum zeigt sich das zarte Pflänzchen mozartschen Schulterschlusses im heimischen Musiktreibhaus, entzündet sich nach der Pause ungleich heftiger die alte Liebe zur brahmsschen Borke. Bei soviel Saft und Kraft, aber auch entrückter Zartheit, bleibt einzig das Gefühl tiefer Dankbarkeit, sich an diesem Abend an diesem Ort befunden haben zu dürfen. Sechs Zugaben sorgen für sechs weitere Ausbaustufen der Verzückung.

Darf’s auch etwas weniger Pathos sein? Aber bitte: (aufgeschnappt während der Pause, in der – wie immer bei Sokolov-Konzerten – der Flügel nachgestimmt wurde) Er zu Ihr: „Schau mal, der Flügel war verstimmt ... deshalb ist er auch gleich gegangen, ohne eine Mine zu verziehen – der ist sauer!“ Ich denke, da hätte sich selbst der Meister nicht ein Schmunzeln verkneifen können. In diesem Sinne freue ich mich auf weitere wohltemperierte Momente mit Herrn Sokolov.

1. März 2012

NDR Sinfonieorchester – Herbert Blomstedt.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, 1. Rang links, Loge 6, Reihe 2, Platz 6



















Anton Bruckner – Sinfonie Nr. 5



Top-Einführung, kein Zahlengebimse, sondern Strukturanalyse für Einsteiger. Anhand der Klangbeispiele sehr verständliche Querverweise zwischen den Sätzen. So soll’s sein.

Bruckner: Interpretation perfekt. NDR absolut auf Staatskapellenniveau. Einzig die Hörner hier und da mit leichten Unsicherheiten und im Tutti ohne den letzten Wumms. Dafür restliches Blech bombig, eine der stärksten NDR-Leistungen überhaupt. Streicher und Holz ohne Abstriche erstklassig. Traumhafte Violinen, Oboensolo (wie immer) Extraklasse. Blomstedt fit wie ein Turnschuh. Beneidenswert.

Leider massives Bonbongeraschel zu Beginn des zweiten Satzes. Insgesamt aber sehr konzentrierte Stimmung für diesen Brocken.