22. Juli 2012

Wozzeck – Lothar Koenigs.
Nationaltheater München.

19:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 6, Platz 220



Oper ist nüchtern betrachtet doch ein Ding der Unmöglichkeit, besser: der Unwahrscheinlichkeit. Vergegenwärtigt man sich die Vielzahl der Faktoren, die im Detail und in der Gesamtheit glücken und ineinandergreifen müssen, um potenzielle Vollkommenheit in stattfindende zu überführen, könnte man fast von einem hoffnungslosen Unterfangen sprechen. Sofern man überhaupt Vollkommenheit als mögliche Option in Betracht zieht. Der heutige Abend bewies wieder einmal, daß es sich allen Stochastikern zum Trotz lohnt, jederzeit mit der Einlösung des Unwahrscheinlichen zu rechnen.

Womit soll ich anfangen? Mit dem zauberischen Orchester vielleicht, das diesen Albtraum eines Menschenlebens auf das Differenzierteste, Bedrohlichste, Erschütterndste akustisch begleitet? Mit dem geradezu suggestiven Dirigat Lothar Koenigs, das fesselnder nicht hätte ausfallen können, die dynamischen Spitzen sorgsam aufsparend, die Last des grausigen Gewebes in stetiger Steigerung über den Zuhörern ausbreitend?

Wie gesagt, so gut eine Aufführung in Teilen häufig auch ist, trübt in der Regel doch immer irgendetwas das Ganze. Ausfälle, Abfälle, mitunter Kleinigkeiten. Nichts von alledem heute. Über die tadellose Orchesterleistung hinaus war eine Sängerriege, für die der Begriff Idealbesetzung schon fast eine Untertreibung darstellt, Garant für musikalische Weltklasse. Welch Glücksfall, daß an diesem Abend ausnahmslos alle Beteiligen nicht nur stimmlich, sondern gerade auch szenisch eine kollektive Meisterleistung boten.

Allein die Kombination Wolfgang Schmidt (Hauptmann) / Clive Bayley (Doktor) dürfte an Kälte, Boshaftigkeit und Häme kaum zu überbieten sein. Sozusagen das Traumpaar der Menschenverachtung. Die morbide, zombiehafte Kostümierung trägt das Ihrige dazu bei. Wie gesagt, jeder einzelne Sänger auch der kleinsten Rolle hat an diesem Abend ein Sonderlob verdient, gemäß dem Gewicht ihrer Partien hallt dabei die Leistung von Waltraut Meier als Marie und Simon Keenlyside als Wozzeck besonders lange nach. Beide eint eine Zerrissenheit, die geradezu physisch erlebbar ist. Marie in ihrem Schwanken zwischen dem ersehnten kleinen Glück der Familie und den Verlockungen eines besseren Lebens an der Seite des Tambourmajors, Wozzeck unter dem Druck, in dieser mitleidlosen Gesellschaft funktionieren zu wollen, der sich, durch all die grausamen Einflüsse auf ihn stetig erhöhend, schließlich in Gewalt sein Ventil sucht.

Gerade in der Betrachtung dieser beiden Hauptrollen greifen gängige Bewertungskriterien einer Opernaufführung nur bedingt – die Größe und Wucht der Leistung leitet sich weniger von einer schönen Phrasierung hier und einem geglückten Spitzenton dort ab, als vielmehr aus bedingungsloser Hingabe im Sinne einer Charakterdarstellung, zu der in diesem Fall vom Autor auch das gesungene Wort vorgesehen ist. Schwer vorstellbar der Eindruck, den diese Art des Musiktheaters bei seinem ersten Erscheinen auf Augen und Ohren gemacht hat. Meine Sinne jedenfalls erfuhren an diesem Abend einen wahren Taumel, nicht zuletzt auch aufgrund der genialen Inszenierung.

Das schwebende Zimmer vor dem Schwarz des Bühnenschlundes ist für sich genommen schon von unglaublicher, bannender Wirkung. Der eigentlich einfache Effekt, den Raum in diesem Nichts in den Vorder- oder Hintergrund bewegen zu können, entfaltet einen optischen Sog sondergleichen. Doch über diesen Rahmen hinaus hält die Inszenierung eine Unzahl faszinierender, verstörender Elemente und Details bereit, die diese Produktion hoch über das übliche Maß heben. Die permanent bedrückende Stimmung einer Schreckenswelt – umherirrende Gruppen, mal wird Brot, mal Geld vor ihnen hingeworfen, sie stürzen sich darauf wie Tiere bei der Fütterung.

Das Wasser, in dem Wozzeck sein Ende finden wird, ist von Anfang an da, es bedeckt den Boden, es tropft von der Decke, das Geräusch des Wassers begleitet uns unentwegt. Die Akteure scheinen eher Untote, einer Welt des Expressionismus entsprungen, ihre grotesken Masken und Kostüme klammern das menschliche Moment aus. Dennoch ist Wozzecks Welt (unterdrückte) Emotion pur. Viele Messer werden ihm symbolisch gereicht, um seinem Hass, seiner Verzweiflung Ausdruck zu verleihen. Viele Matratzen für den umherirrenden Geist, der im Leben nicht zur Ruhe kommen kann.

Das Band zwischen ihm und Marie, der Junge, wird in dieser Regiearbeit besonders ins Zentrum gerückt, ist nicht Requisit, sondern füllt trotz oder gerade wegen seiner Wortlosigkeit die Rolle des zwischen dem emotionalen Unvermögen der Erwachsenen aufgeriebenen eigentlichen Opfers besonders nahegehend aus. Am Ende bleibt dem Waisen nichts als der Spott der anderen Kinder.

Fazit: Erschütterndes Musiktheater in München, eine Sternstunde: Schreckliche Vollkommenheit – Vollkommenheit des Schreckens.


Alban Berg – Wozzeck
Musikalische Leitung – Lothar Koenigs
Inszenierung – Andreas Kriegenburg
Bühne – Harald B. Thor
Kostüme – Andrea Schraad
Licht – Stefan Bolliger
Choreographie – Zenta Haerter
Chor – Sören Eckhoff
Dramaturgie – Miron Hakenbeck
Kinderchor – Kinderchor der Bayerischen Staatsoper

Wozzeck – Simon Keenlyside
Tambourmajor – Roman Sadnik
Andres – Kevin Conners
Hauptmann – Wolfgang Schmidt
Doktor – Clive Bayley
1. Handwerksbursche – Christoph Stephinger
2. Handwerksbursche – Francesco Petrozzi
Der Narr – Kenneth Roberson
Marie – Waltraud Meier
Margret – Heike Grötzinger
Mariens Knabe – Alexander Lakatár
Bursche – Jochen Schäfer
Soldat – Jason A. Smith

Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper

21. Juli 2012

Tosca – Marco Armiliato.
Nationaltheater München.

19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 4, Platz 137












Meine Erwartungshaltung in Bezug auf Herrn Terfel war angesichts eines Rufs wie Donnerhall und den jüngsten Lorbeeren als Met-Wotan nicht gerade verhalten, aber gleich mit dem ohnehin bühnenwirksam angelegten Auftritt des Barons ist klar, daß dieser Scarpia nicht nur Rom, sondern auch das Münchner Auditorium im Sack hat. Der Waliser teilt eben jenes Phänomen mit den Besten seines Fachs, über größtmögliche stimmliche Präsenz (nicht zu verwechseln mit bloßer Lautstärke) hinaus mit einem Gleichmaß an physischer, szenischer Wirkungskraft gesegnet zu sein.

Terfels Scarpia beläßt es nicht beim üblichen Poltern und Drohen, er lauscht dem Charakter eine Vielzahl leiser, keinen Deut weniger bedrohlicher Töne ab, die den Abend zu etwas Besonderem werden lassen. Wenn er beispielsweise gewissermaßen zwischen den Zähnen hindurch singt, ohne dabei übrigens an Deutlichkeit zu verlieren, transportiert dies eine stetig schwelende Aggression und unterdrückte Lust am Leiden anderer, wie ich sie selten gehört habe. Überhaupt, unterdrückte Seiten und Selbstkontrolle könnte man als Fixpunkte von Terfels Interpretation bestimmen. Das bigotte Moment ist zum zerreißen gespannt in einem Mann, der nach außen hin zwar strenger Verwalter der Ordnung, in seinem Inneren selbst jedoch zügellosen Trieben unterworfen ist.

Bietet insbesondere das pompöse Finale des ersten Aktes mit dem Te Deum die Bühne für Scarpias Tosca-Obsession und schließlich Zerknirschung im Angesicht der überlieferten klerikalen Macht, der er sich zumindest öffentlich beugen muß, läßt ihn die Inszenierung zu Beginn des zweiten Aktes in seinem Palast diese Maske weitgehend ablegen. Umgarnt von seinen Konkubinen, die er wie Spielzeug behandelt, oder besser wie ein sadistisches Kind, dessen größte Freude darin besteht, seine treu ergebenen Tiere zu quälen, kann er endlich sein, wie er ist. Auch hier läßt Terfel nicht den Hauch eines Zweifels, wer die Situation kontrolliert.

Das I-Tüpfelchen in dieser Scarpia-Interpretation besteht meiner Ansicht nach darin, daß Terfel die Rolle trotz aller Monstrosität nicht ohne einen gewissen Funken Charme spielt – was die Dämonie-Stellschraube noch deutlich weitertreibt. In der Kirchenszene des ersten Aktes, als Scarpia Tosca die Eifersucht einpflanzt, schafft es der Baron – zumindest für einen Moment – die Maske des Fürsorglichen und Galanten tatsächlich mit lebendigen Zügen zu tragen. Es scheint am Ende fast so, als wäre er selbst dieser Täuschung erlegen, wenn seine Tosca entgegen gestreckte Hand nach ihrem Fortlaufen einen Augenblick in der Höhe verweilt. Glaubhafter kann man die Initiation seiner Besessenheit gegenüber dieser Frau kaum darstellen.

Wobei mit „darstellen“ bei Herrn Terfel immer das Szenische und Stimmliche in Personalunion gemeint ist. Welch wundervolle Stimme! Abgesehen davon, daß hier, wie bereits angedeutet, nie allein Tonhöhen, sondern immer auch Gemütszustände übermittelt werden, hat Terfels Gesang alles, um den geneigten Stimmfeinschmecker mit der Zunge schnalzen zu lassen. Phrasierungssensibilität, Legatofähigheit, Klangfarbenreichtum und Präsenz auf jeder Dynamikstufe gepaart mit einem unverwechselbaren, schlicht als balsamig zusammenzufassenden Charakter, ermöglichen es diesem Sängerdarsteller, als unerschütterliche Säule einer jeden Produktion zu brillieren.

Umso erfreulicher, daß auch seine Ensemblekollegen diesen starken Eindruck weitgehend unterstützten. Catherine Naglestads Tosca hat mir ausgesprochen gut gefallen. Ihre Stimme ist warm und weich, darüber hinaus scheint sie mir für das Sinnliche geradezu prädestiniert. Die berühmte Arie im zweiten Akt gestaltet sie erfreulich uneffektheischend, ganz aus der Verfassung der verzweifelten Frau heraus – innig, zart, fast gebrochen. Darüber hinaus trägt ihr beseeltes Spiel generell viel zur Glaubwürdigkeit der Inszenierung bei.

Zusammen mit Massimo Giordano bildet sie zudem optisch wie szenisch ein Traumpaar (es wird viel geküßt bei Bondy!), obgleich ihr Recke stimmlich den Vergleich nicht ganz aushält. Zwar verfügt Herr Giordano über ein klangschönes Organ, rechte Schmelzwonnen wollen sich heute jedoch nicht einstellen. Die Spitzentöne kommen kraftvoll und präzise, aber spürbar bemüht. Insgesamt eine gute Leistung, die nur durch das unfaire Gedankenspiel getrübt wird, wer – mit einem Seitenblick auf Herrn Kaufmann in der Proszeniumsloge – als theoretische Alternative bereit stünde. Auch die Nebenrollen können sich hören lassen. Christoph Stephinger als profunder Messner, Goran Jurić als energischer Flüchtling oder der herrlich servile Spoletta von Francesco Petrozzi.

Das Staatsorchester unter Marco Armiliato spielt zum Dahinschmelzen. Für meine Begriffe hätte man hier und da ruhig noch knackiger, rauer zu Werke gehen können, aber das ist sicher Geschmacksache. Die Gewißheit, an diesem Abend Takt für Takt Weltklasse präsentiert zu bekommen, ficht das nicht an. Die Hörnerstelle zu Beginn des dritten Aktes beispielsweise ist schwerlich schöner zu denken. Das Blech ist insgesamt bärenstark. Aber was soll man sich mit der Hervorhebung von gelungenen Einzelteilen aufhalten, wo doch das Ganze den Abglanz des Vollkommenen liefert.

Kaum zu wünschen übrig ließ auch die Inszenierung. Ausgesprochen gelungen erscheint mir die Illustration des Alltäglichen an den Nahtstellen zwischen den einzelnen Szenen, da sie einen subtilen Rahmen der Authentizität schafft, der den Realismus der eigentlichen Handlung noch verstärkt. Ob wir dem Messner dabei zusehen, wie er Weihwasserbecken und Malerbottich aus dem selben Eimer speist und beinahe die ent- weil unterscheidende Geste der Segnung versäumt oder wir dem Exekutionskommando am Morgen bei seinem noch etwas unaufgeräumten Exerzieren beiwohnen, beides konturiert die Normalität und unterstützt dabei den Handlungsfluß.

Die Lichtregie folgt nur bedingt diesem naturalistischen Credo, sondern akzentuiert den emotionalen Gehalt bestimmter Szenen – besonders deutlich beim gleißenden Schein, der mit jeder Öffnung der Tür aus der Folterkammer dringt und die blutverschmierten Wände hervorhebt. In Scarpias Palast nimmt die Lichtstimmung zum Ende des Aktes einen unwirklichen gelb-orangen Charakter an, auch als Tosca nach ihrer Tat kurz mit dem Gedanken spielt, aus dem Fenster zu springen und dann gefühlsmäßig zusammenbricht. In der Kirchenszene wird viel mit Licht und Schatten gearbeitet, im dritten Akt bleibt das Morgengrauen dann gänzlich aus.

Insgesamt betrachtet eine sehr sehenswerte Inszenierung mit starken Bildern und einer zum Teil geradezu verschwenderischen Ausstattung (Klerus beim Te Deum). Leider geriet gerade Toscas angedeuteter Sprung in den Tod ganz am Schluß nicht optimal – wahrscheinlich wurde das Licht einen Hauch zu spät gelöscht, so daß die Sprungbewegung deutlich sichtbar durch die Sicherungsgurte abgebrochen und die Illusion somit aufgehoben wurde. In der Rückschau auf diesen wundervollen Abend ist das jedoch ein marginales Detail.

Fazit: Wo in München Festspiel draufsteht, ist definitiv Festspiel drin. Bravi!


Giacomo Puccini – Tosca
Musikalische Leitung – Marco Armiliato
Inszenierung – Luc Bondy
Bühne – Richard Peduzzi
Kostüme – Milena Canonero
Licht – Michael Bauer
Chor – Stellario Fagone

Florian Tosca – Catherine Naglestad
Mario Cavaradossi – Massimo Giordano
Baron Scarpia – Bryn Terfel
Cesare Angelotti – Goran Jurić
Der Messner – Christoph Stephinger
Spoletta – Francesco Petrozzi
Sciarrone – Christian Rieger
Ein Gefängniswärter – Tim Kuypers
Stimme eines Hirten – Solist des Tölzer Knabenchor

Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper

8. Juli 2012

Operngala. Osnabrücker Symphonieorchester.
Theater Osnabrück.

19:30 Uhr, Orchesterreihe links, B 24














Louis Joseph Ferdinand Hérold – Zampa, Ouvertüre
(Daniel Inbal – Dirigent)
Georg Friedrich Händel – Ezio, „Già risonar“
(Genadijus Bergorulko – Varo, Benjamin Schneider – Dirigent)
Wolfgang Amadeus Mozart – Konzertarien
„Così dunque tradisci“ – „Aspri rimorsi atroci“ KV 432
(Mark Sampson – Bass, Markus Lafleur – Dirigent)
„Ah se in ciel, benigne stelle“ KV 538
(Marie-Christine Haase – Sopran, Till Drömann – Dirigent)
Ambroise Thomas – Hamlet, „Coeur des Comédiens“ und „Chanson Bachique“
(Marco Vassalli – Hamlet, Herrenchor, Till Drömann – Dirigent)
Camille Saint-Saëns – Samson et Dalila, „Amour! viens aider ma faiblesse!“
(Eva Schneidereit – Dalila, Till Drömann – Dirigent)
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky – Pique Dame, „Ja vas ljublju“
(Jan Friedrich Eggers – Fürst Jeletzki, Fabian Liesenfeld – Dirigent)
Umberto Giordano – Andrea Chénier, „Nemico della patria“
(Daniel Moon – Gérard, Daniel Inbal – Dirigent)

(Pause)


Jerónimo Giménez – La boda de Luís Alonso, Intermedio

(Till Drömann – Dirigent)
Franz Lehár – Giuditta, „Meine Lippen, sie küssen so heiß“
(Lina Liu – Giuditta, Daniel Inbal – Dirigent)
Johann Strauß – Eine Nacht in Venedig, „Ach, wie so herrlich zu schau’n“
(Mark Hamman – Herzog, Fabian Liesenfeld – Dirigent)
Franz Lehár – Der Zarewitsch, „Allein, wieder allein“
(Daniel Wagner – Zarewitsch, Benjamin Schneider – Dirigent)
Johann Strauß – Die Fledermaus, „Klänge der Heimat“
(Astrid Kessler – Rosalinde, Daniel Inbal – Dirigent)
Emmerich Kálmán – Die Csárdásfürstin, „Weißt du es noch“
(Eva Schneidereit – Sylva, Marco Vassalli – Edwin, Daniel Inbal – Dirigent)
Franz Lehár – Paganini, „Gern hab’ ich die Frau’n geküsst ...“
(Hans-Hermann Ehrich – Paganini, Till Drömann – Dirigent)
Carl Orff – Carmina burana, „Fortuna Imperatrix Mundi“
(Chor des Theaters Osnabrück, Markus Lafleur – Dirigent)

(Herbert Hähnel – Moderation)



Tag der Erkenntnisse in Osnabrück.

Erkenntnis 1: In einem eher kleinen Haus kann die Platznahme in der Orchesterreihe – in diesem Falle gewissermaßen fast auf dem Schoß der Mitwirkenden – zu wahrhaft ohrenbetäubenden Eindrücken führen. Hätte man sich denken können. Leider hatte ich mir bei meiner Kartenwahl seinerzeit offenbar recht wenig gedacht.

Erkenntnis 2: Es ist durchaus hilfreich und im Sinne des eigenen Ruhepulses, die Information über den letzten Zug Richtung Heimat mit einem voraussichtlichen Ende der Veranstaltung in Abgleich zu bringen. Andernfalls sitzt man bei der nicht einberechneten feierlichen Verabschiedung einiger Ensemblemitglieder durch den Herrn Intendanten kurz vor dem Finale auf sprichwörtlich glühendem, wenn auch faktisch angenehm gepolstertem Platze und sieht sich gezwungen, selbigen direkt mit dem Einsetzen des Schlußapplauses fluchtartig gen Bahnhof zu verlassen. Die gerechte Strafe erfolgt durch das Schicksal, das nach einem nächtlichen Sprint durch Osnabrück beim gerade noch rechtzeitigen Eintreffen am Gleis durch eine freundliche Stimme vermelden läßt, der betreffende Zug habe eine Verspätung von 25 Minuten. Röchel.

Erkenntnis 3: Ungeachtet der selbst verschuldeten Umstände besitzt das Theater Osnabrück offenbar alles, um seine Besucher mit angenehmen Abenden zu versorgen. Das müßte man natürlich noch mal unter Spielzeitbedingungen testen, aber die heutige Gala hat schon Lust auf mehr gemacht. Dabei entsprach das Programm, welches ich banausigerweise im Vorwege gar nicht in Erfahrung gebracht hatte, nicht unbedingt meiner Vorstellung davon, unter Garantie ekstatischen Zuckungen der Anteilnahme entgegen zu sehen. Trotzdem entpuppte sich die Zusammenstellung als beschwingte Mischung mit sorgsam integriertem Spannungsbogen. Eine schöne Art, das Orchester mit unterschiedlichen Dirigenten, die Vertreter der verschiedenen Stimmfächer sowie den Chor kennenzulernen. Die Nummern wurden durch die kurzen Ansprachen von Herrn Hähnel auf betont trocken-humorvolle Weise verknüpft.

Ein paar Notizen zu einigen Programmpunkten bzw. Mitwirkenden: Gleich die Hérold-Ouvertüre hat mir sehr zugesagt, enorm abwechslungsreich und kurzweilig mit markigen Blecheinwürfen. Das Orchester offenbart durchaus virtuose Qualitäten und hält diesen positiven Ersteindruck den ganzen Abend hindurch aufrecht. Aus der Dirigentenriege stechen Daniel Inbal und Till Drömann in puncto Elan und Energieübertragung hervor. Ich glaube, da hat sich Herr Cambreling einen Guten nach Stuttgart geholt.

Von den Sängern haben mich persönlich am meisten beeindruckt: bei den Herren Marco Vassalli mit Schönklang, Schmelz und Präsenz sowie Daniel Moon mit Inbrunst, Ausdruck und einem Mordsorgan. Bei den Damen wußten aus meiner Sicht Lina Liu als kokette Giuditta und Eva Schneidereit als leidenschaftliche Dalila besonders zu überzeugen. Aber wie schon eingangs erwähnt, wirkliche Ausfälle waren bei den Stimmen ohnehin nicht zu vermelden. Wer das Haar in der Suppe sucht, wurde sicher mit einer Intonationsschwäche hier oder einem etwas blasseren Auftritt dort fündig – ich für meinen Teil habe das Gefühl, daß sich das Theater Osnabrück mit seinen Sängern nicht zu verstecken braucht.

Abschließende Erkenntnis: nach der Spielzeit ist vor der Spielzeit und eine Gala dauert länger als 90 Minuten. Im nächsten Jahr gibt es hier drei Hindemith-Einakter an einem Abend – ich freu mich drauf!

7. Juli 2012

NDR Sinfonieorchester – Thomas Hengelbrock.
MUK Lübeck.

20:00 Uhr, Block B, 1. Rang links, Reihe 1, Platz 30












Edvard Grieg – Peer Gynt

(Klaus Maria Brandauer – Rezitation, Christiane Karg – Sopran (Solveig), Adrineh Simonian – Mezzosopran (Anitra), Estonian Philharmonic Chamber Choir, NDR Chor)


In einer Dokumentation über Operngesang sprach ein kluger Kopf einmal von der Sucht der Opernliebhaber, Tränen zu vergießen. Wobei diese Regung untrügliches Zeugnis von empfundenem Glück ablege. Das Sehnen nach solchem Zustand ließe besagte Existenzen zahllose stumpfe Erlebnisse über sich ergehen, motiviert allein durch das Wissen um die Möglichkeit der Ausnahmesituation.

Obgleich Tränen aus meiner eigenen Erfahrung nicht allein durch Gesang zu provozieren sind und nur eine von vielen Wegmarken auf dem mysteriösen Pfad zum Glück darstellen, geht ihr Erscheinen doch in der Regel tatsächlich mit einer besonders gelungenen Darbietung einher. Nicht anders heute. Peers letzte Momente mit seiner Mutter und schließlich seine Rückkehr zu Solveig stellten die emotionalen Höhepunkte eines grandios geglückten Aufführungsexperiments dar, das neben der beliebten Bühnenmusik Griegs nicht weniger als eine komprimierte szenische Wiedergabe des Theaterstücks beinhaltete.

Beeindruckend, wenn auf so viel Wollen ein mindestens gleiches Maß an Können folgt. Nehmen wir das NDR Sinfonieorchester unter seinem neuen Chefdirigenten. Von mir früher gern mal als etwas hölzern agierende Beamtentruppe wahrgenommen, lieferte der Klangkörper hier eine Leistung ab, die begeisterte und mitriß. In dieser Form kann es das Orchester mit den Besten aufnehmen. Nach nur einer Kostprobe ist es vielleicht verfrüht zu urteilen, doch ich glaube, mit Hengelbrock hat man nicht die schlechteste Wahl getroffen.

Von energisch-virtuos bis lieblichst-versonnen führt er die NDRler differenziert und spannungsvoll durch die Partitur. Dabei sind es nicht allein die einzelnen Evergreens des Stückes, die beeindrucken, sondern das große Ganze, gerade im Zusammenwirken mit dem Schauspiel. Szenen von anrührendster menschlicher Tiefe, die Seelenwelt der Protagonisten auslotend, sind das Ergebnis.

Und Brandauer? Es nützt nichts, da muß ich leider wieder pathetisch werden. Ich bin einfach wahnsinnig dankbar, diesen großen Darsteller – und sein wunderbares Schauspiel-Ensemble – bei der Verrichtung seiner Kunst erlebt zu haben. Brandauer ist Peer Gynt. Der übermütige Bursche, der Jungmünchhausen, der Dreiste, der Verführer, der Möchtegernkaiser, der Geschlagene, der Angekommene. Da braucht es keine Schminke und keine Roben, die Verwandlung könnte nicht ergreifender sein.

Wenn schließlich Christiane Kargs lupenreiner Sopran den Heimkehrer umschließt, all seiner Verfehlungen zum Trotz, umgibt alles eine wehmütige Ahnung von Güte und Treue. Mag es sich auch um ein Wiedersehen handeln, für mich überwiegt dennoch die emotionale Parallele zum Abschied von der Mutter. Hier wie dort kommt Peer an einen Endpunkt seines Lebens, in beiden Fällen geht es um Unausgesprochenes, Versäumtes. Auch wenn sein Leben eine Aneinanderreihung von Oberflächlichkeiten und Träumereien darstellen mag, in diesen beiden Momenten erfährt Peer – und wir durch ihn – wie kostbar und verletzlich wahres Glück ist.

Nichts Neues? Mag sein, aber das unmittelbare Erleben, die gelungene Übertragung eines überzeitlichen Gedankens in persönliches Empfinden, scheint mir Beleg genug dafür, daß der heutige Abend mehr bot als alte Musik und alte Verse. Schön, daß ich an dieser Erfahrung teilhaben durfte.