7. Dezember 2014

Hamburger Symphoniker – Jeffrey Tate.
Laeiszhalle Hamburg.

18:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 7, Platz 12



Alban Berg – Fünf Orchesterlieder op. 4 nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg (Michaela Schuster, Mezzosopran)
Joseph Haydn – Sinfonie Nr. 88 G-Dur Hob. I:88

(Pause)

Gustav Mahler – Rückert-Lieder (Michaela Schuster, Mezzosopran)
Franz Schubert – Sinfonie Nr. 2 B-Dur D 125



Eine ziemlich heterogene Zusammenstellung, mochte man beim ersten Blick auf die Programmfolge vielleicht denken, doch wieder einmal ist es Jeffrey Tate gelungen, aus dieser Vielfalt ein äußerst intensives Konzerterlebnis-Amalgam zu schmieden. Gerade die stilistische Bandbreite der Stücke sorgte für Kontraste, die den Blick auf die einzelnen Werke wechselseitig schärfte.

Und damit möchte ich nicht etwa verquer zum Ausdruck bringen, wie erleichtert manch konservativer Zeitgenosse auf die Haydn-Klänge nach dem „schwierigen“ Berg reagiert haben mag (Bereits die Einführung schürte dessen „Skandalpotenzial“ für meine Begriffe etwas zu parteiisch), sondern zum wiederholten Male eine Lanze brechen für die hamburgweite Konkurrenzlosigkeit der spannenden Programmgestaltung dieser Konzertreihe. Möge Herrn Tate auch in Zukunft die nötige Inspiration zufliegen, die das Fundament für solch besondere musikalische Erfahrungen darstellt.

So so, dieser Berg ist also ein gefährlicher Bursche, vor dem sich brave Konzertgänger in Acht nehmen sollten, und das offenbar noch mehr als hundert Jahre, nachdem er in Wien sein Unwesen trieb. Zumal er ja den Schönberg kannte, schlimmer noch, sein Schüler war, bei dessen bloßer Namensnennung es ja bekanntermaßen beim Großteil des Abopublikums aushakt. Ach liebe Leute, wie kann man denn so verbohrt sein, von dieser die Sinne stimulierenden Musik nicht berührt zu werden (Nun gut, wahrscheinlich würden mir h-Moll-Messe-Liebhaber das gleiche vorwerfen)? Von einer Instrumentation, so ungemein transparent, farbgewaltig und voll feinster Schattierungen, dabei gleichermaßen distanziert-verwunschen wie emotional fesselnd.

Und natürlich in erster Linie von dem schlichtweg vollendeten Vortrag der wunderbaren Michaela Schuster, die den Begriff der Sängerdarstellerin hier auch abseits der Opernbühne ohne den Hauch des Prätentiösen auf das Eindrucksvollste mit Leben füllte. Ihre unverwechselbare Stimme, mal kraftvoll, scheinbar unerschöpflich, ohne dabei je schrill, sondern stets warm und voll zu klingen, mal zarteste Nuancen auslotend, gepaart mit brillanter Textverständlichkeit und einer mimischen Bühnenpräsenz, die involvierte, intensivierte, machten diesen Liedvortrag ebenso wie die Mahler-Lieder zu etwas ganz Besonderem.

Noch einmal kurz zu Berg: Heute ist mir fast weniger die rückwärtsgerichtete Nähe zu Mahler als vielmehr der Impuls aufgefallen, den diese fragile Musik doch für kommende Komponisten gehabt haben muss – unter anderem auch für meinen geliebten Britten. Allein der soghafte Beginn von „Hier ist Friede“ mit der Tonfolge in Flöte und Harfe, der Reihe, grundiert von tiefem Blech, die harmonischen Reibungen/Schönheiten, das Sehnen, auch die Form der Passacaglia erinnern sehr an entsprechende Passagen des sensiblen Tonsetzers aus Lowestoft. Man könnte auch soweit gehen, dass das Konzept Brittens, in vielen seiner Liedzyklen, das gewichtigste, sinnlichste Stück ans Ende zu setzen, hier von Berg in Miniatur bereits vorgelebt wurde. Eine Brücke von Mahler zu Britten – die Musiktradition nimmt mitunter verschlungene Pfade.

Und dann nach der Pause die Rückert-Lieder. Auch hier hat sich Tate wieder selbst übertroffen. Mit einem Orchesterklang, den ich gegen nichts eintauschen möchte, mit einer Interpretation, die jedes einzelne der Lieder zur vollen Geltung brachte – „Liebst Du um Schönheit“ beispielsweise habe ich nie berührender in Konzert oder irgend einer Einspielung gehört. Bei „Um Mitternacht“ überraschte er mit relativ zügigem Grundtempo, um dann auch den majestätischen Schluss voller Schwung zu entfesseln (oft wird gerade bei diesem Lied der stoische Ernst mit schleppenden Tempi verwechselt, die das ohnehin pausenreiche Stück auseinanderfallen lassen). „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ schließlich, ja was soll man zu diesem in entrückter Ruhe umschließenden, betörenden Fluß elfenbeinerner Romanik sagen, die das Gemüt gleichzeitig so warm und doch so schwer macht? Unvergleichlich. Und natürlich gebührt auch hier Frau Schuster ein besonderer Dank für eine besondere, herzerwärmende Leistung.

„Den Haydn und den Schubert hat er jetzt aber wieder einfach ausgelassen“ könnte der aufmerksame Leser anmerken, doch weit gefehlt, geben diese beiden (scheinbar) wohlvertrauten Herren mir doch die Chance, noch einmal auf den ersten Gedanken meiner Betrachtungen zurückzukommen – mein Bekenntnis zu stilistischer Programmvielfalt. Ich finde es ein bisschen schade, daß gerade in Einführungen gern auf einleitende Worte zu den bekannten Stücken oder Komponisten zugunsten der „Härtefälle“ verzichtet wird.

Dabei ist es klar, daß eine halbe oder Dreiviertelstunde sich nicht als musikwissenschaftliche Vorlesung auswachsen kann, natürlich muß fokussiert werden, aber darum geht es mir auch gar nicht. Ich kann mich nur relativ schwer mit dieser Einteilung in „erklärungsbedürftige“ und „vertraute“ Musik abfinden – wahrscheinlich gerade weil mir Berg und Mahler gefühls- und somit rezeptionsmäßig viel näher als ein Haydn und selbst noch ein früher Schubert liegen. Vielen mag das anders gehen, trotzdem schwingt da immer so eine Haltung mit wie: „Na das ist halt schöne Musik, da muß man nicht viel drüber erzählen“.

Abgesehen davon, daß mir Musik, die darauf reduziert wird, schön anzuhören zu sein, erstmal den Angstschweiß auf die Stirn zaubert, tut man ihr in den meisten Fällen damit sicher auch Unrecht. Nicht falsch verstehen, es sei hübsch jedem überlassen, wie er ein Konzert auf sich wirken läßt, wie tief man in die Musik einsteigt, oder ob man das Gehörte als Untermalung für seine Gedankenspiele, was noch alles mit Herrn Dr. Klöbner in der Pause zu besprechen sei, verstanden wissen möchte. Aber es hat sicher mehr zum musikalischen Weltruhm der Werke Haydns beigetragen, als deren unverbindliche Gefälligkeit. Einfach ein paar Worte zu Faktur und Besonderheiten, vor allem im historischen Kontext, wären ganz nett.

Wie frisch und knackig und ganz und gar nicht zopfig man diese Musik doch rüberbringen kann, stellten Tate und seine Hamburger Symphoniker mit ihrer zupackenden, aber nie groben, stets transparentem Darbietung unter Beweis. Gerade im Kontrast zu dem gewaltigen Klangkosmos der Altenberg-Lieder konnte die Haydn’sche Reduktion und Konzentration wirken, die Struktur in all ihrer Klarheit hervortreten lassen. Ein vergleichbarer Effekt trat auch beim frühen Schubert nach dem Mahler ein. Eine spannende Sinfonie, die ich – zumindest so bewußt – nie wahrgenommen hatte.

Ich kann mir das natürlich aus alles einbilden, aber ich bin mir ziemlich sicher, daß ich jedenfalls an einem reinen Haydn-Programm wohl ähnlich zu beißen hätte, wie manch anderer an einem Berg-Abend. Fazit: Musik ist und bleibt Geschmackssache – wie schön, daß Jeffrey Tate eine derart vielseitige Küche pflegt.

3. Dezember 2014

Balthasar-Neumann-Ensemble und -Chor –
Thomas Hengelbrock. Laeiszhalle Hamburg.

19:15 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16

















 
Johann Sebastian Bach – Messe h-Moll BWV 232

(Solisten aus dem Balthasar-Neumann-Chor)



Bachs h-Moll Messe. Bei diesem Werk jagt ein Superlativ den nächsten. „Das wichtigste, das größte Werk Bachs, ja wahrscheinlich das größte Kunstwerk überhaupt“ tönt es einem in der Einführung aus Ehrfurcht gemahnendem Zitatefundus entgegen. Ich möchte gern eine weitere Höchststufe ergänzen: Größte Langeweile, die mich beim Erdulden dieses recht ausgedehnten Gipfelpunktes abendländischer Kultur gleich von Beginn an überkam und die bis auf wenige gnädige Ausnahmen auch nicht wieder von mir abzulassen gedachte. Nach den ersten Minuten kehrt die staubtrockene Erinnerung zurück, daß ich mich bereits vor einigen Jahren einmal durch jenes Wunderwerk quälen mußte, in der Kölner Philharmonie war das, Anno 2010. Aber Abo ist Abo und Bach gebührt nun wirklich jedes Recht auf eine zweite Chance. Umso ernüchternder, daß die Neuauflage zur gut zweistündigen Reminiszenz des faden Erlebnisses in der Domstadt geriet – ein anderer Ort, andere Umstände, andere Mitwirkende, gleiches Ergebnis. Seinerzeit waren Eitelkeit und Selbstüberschätzung noch nicht so weit in mir gediehen, als daß ich mein Frönen der Subjektivität bereits an dieser (Internet-)Adresse auf die Menschheit losgelassen hätte, aber nichts desto trotz finden sich nach kurzer Suche in einem Notizbüchlein von 2010 folgende Zeilen:

„Reihe 22: deutlich höher als bei Martin/Tippett, dennoch famose Akustik. Etwas leiser, aber tadellos durchhörbar und klangschön. Man vernimmt selbst das „Spuckepusten“ der Trompeten. Chor, Orchester und Solisten lieferten eine gute, professionelle Leistung, Dirigat wie’s sein soll, vielleicht eine Spur zu kuschelig. Von den Solisten bleibt nur die Altistin im Langzeitgedächtnis (Agnus Dei!). Hornist mit Naturhorn zweifelhaft. Das Werk: ich spreche es einfach mal aus: bis auf wenige Stellen haut mich die Messe nicht um. Es zieht sich gewaltig, vieles hört sich für mich (aufs erste Hören) gleich an. Ich hoffe, ich tue dem Werk Unrecht und harre auf einen weiteren Versuch. Schade.“

Besonders erschreckend ist der Hinweis auf das Agnus Dei, weil dieser Teil auch dieses Mal der einzige wirkliche Lichtblick der gesamten Aufführung für mich darstellte – ohne daß ich mich etwa an mein Geschreibsel von vor vier Jahren erinnert hätte. Herr Potters Vortrag ließ mich – auch Kraft seiner ungemein klangschönen und ausdrucksstarken Stimme – kurz vor Toresschluß einmal die Art von Intensität erleben, wie ich sie ansonsten schmerzlich vermisst habe. Was rein gar nichts mit dem Vortrag und den Fähigkeiten der anderen Beteiligten zu tun hatte, davon gehe ich mittlerweile aus. Der schwarze Peter lag nicht beim Chor oder den Solisten, weder beim Orchester oder Herrn Hengelbrock, auch nicht bei der Raumtemperatur im Saal oder der Mondphase, sondern einzig und allein bei Bach selbst – oder eben meinem Banausentum, das vor dergestaltiger Vollkommenheit auch im zweiten Versuch kapitulierte.

Doch halt, ich lasse mir meinen Bach nicht durch die eigene Blödheit madig machen. Den Bach der Passacaglia und Fuge in c-Moll, den Bach der Sonaten und Partiten für Violine, den Bach der Suiten für Cello, den Bach über den mich ein Glenn Gould immer wieder staunen läßt. Aber vielleicht hänge ich auch einfach nur im instrumentalen Bach fest und es besteht noch Hoffnung. Ob größtes, allergrößtes oder am Ende doch nur halb- oder mittelgrößtes – es wird schon was dran sein. Ich bleibe auf der Suche und offen für Anregungen Angekommener.

16. November 2014

Hamburger Symphoniker – Jeffrey Tate.
Laeiszhalle Hamburg

19:00 Uhr, 1. Rang rechts, Loge 5, Reihe 1, Platz 2


Dylan Thomas – Do Not Go Gentle Into That Good Night (Gedicht)

Franz Schubert – Der Tod und das Mädchen, Streichquartett d-Moll op. 14, Allegro (Laeisz-Quartett)

Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 9 D-Dur



Allzu oft sollte ich mir diese Sinfonie wirklich nicht verabreichen. Mahlers Neunte, oder: Jedes Mal ein bisschen sterben. Eine Ahnung des Unausweichlichen. Der anderen Seite? Des Nichts? Oder anders herum betrachtet die Bewußtwerdung einer schier grenzenlose Liebe zum Leben, aus der sich dieses Nicht-Loslassen-Können speist. Am Ende allen Kampfes und Aufbäumens, aller Bitterkeit und Ironie, folgt nach dem Klagen und Sehnen doch das Verlöschen. Aber eines ist gewiß – zumindest bei Mahler – dort ist Güte und Trost, auch wenn es schmerzt. Ich muß darüber nachdenken, ob Trost der richtige Begriff ist. Diese Musik löst in mir einen Zustand aus, der Gegensätzlichstes wie durch ein Brennglas im Innersten vereint wachruft. Trauer und Hoffnungslosigkeit im Angesicht des Verlustes, gepaart mit der Gewißheit, im Vergehen Frieden zu finden. Erlebter und erinnerter Schmerz, umschlungen von tiefer Dankbarkeit in der gleichzeitigen Empfindung von Reinheit, Unschuld und Schönheit. Unwiederbringlich verloren und doch ganz zu Hause. Mit allem allein bei sich. Kein Zustand, dem sich ein gesunder, zufriedener, fröhlicher Mensch allzu oft aussetzen sollte. Obwohl oder gerade weil dieses Gefühl, dieses kleine bisschen Ahnung so süß schmeckt. Komm, süßer Tod, du Schlafes Bruder. Noch. Nicht.

Tate bleibt sich treu. Langsame Tempi, breit, warmer Klang, langer Atem. Nicht immer mein Tempo? Was ist schon „Mein Mahler“? Beispiel: Zweiter Satz mit weniger Wirkung – weniger zügig und kantig als ich es mag. Weniger Solti-Faktor. Dritter Satz: Dem ersten Eindruck nach ebenfalls „zu langsam“ – aber weit gefehlt! Was für eine unentrinnbare Konzeption der Tempoverschärfung auf den letzten Schlag des Satzes hin! Größtmögliche Entladung all der galligen Energie dieses Totentanzes und gleichzeitig krasse Fallhöhe für den Einsatz der flehenden Streicher zu Beginn des Finalsatzes.

Ich springe noch mal zurück an den Anfang des ersten Satzes. Gleich mit dem ersten Seufzermotiv der Violinen ist es um mich geschehen. Ich kenne kaum einen zweiten Dirigenten, der Tate in Sachen Streicherbehandlung das Wasser reichen könnte. So fein abgestimmt, so differenziert, so facettenreich. In diesem für mich vielleicht erschütterndsten aller Sätze aus der Feder Mahlers beweisen die Hamburger Symphoniker vom ersten bis zum letzten Takt ihre Meisterklasse. Einzig die Horngruppe lässt es hier und da etwas an Feingefühl mangeln – ein Eindruck, der mich auch in den folgenden Sätzen begleitet und der vielleicht auch nur auf ungünstige akustische Gegebenheiten zurückzuführen ist. Dieser Schluß liegt nahe, hält man sich vor Augen, welch unglaubliche Akribie Tate gerade in der Abstufung der Dynamik permanent an den Tag legt. Im letzten Satz steigert er dies Prinzip ins Extrem, wenn er nach den gewaltigen Steigerungs-Eruptionen die Streicher in kaum hörbarem Pianissimo fortfahren läßt – Ein Kontrast von unfassbarer Intensität, der mehr als sprichwörtlich den Atem verschlägt.

Aber so oder so, bei einer solch leidenschaftlichen Darbietung verschwinden Details im Fluss der Überwältigung. Bevorzugt geglaubte Tempi hin, liebgewonnene Einspielungen her, an diesem Abend war die Laeiszhalle vom Wesen und Geist Mahlers erfüllt. Die Hamburger Symphoniker und Tate mit der Neunten – mehr Mahler ist kaum denkbar. Wenn überhaupt ratsam.

3. November 2014

Orquesta Sinfónica Juvenil de Caracas –
Dietrich Paredes. Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16


Silvestre Revueltas – Sensemayá
Evencio Castellanos Yumar – Santa Cruz de Pacairigua

(Pause)

Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 7 C-Dur op. 60 „Leningrader“



Pimp my Orchestra, oder: viel hilft viel – so könnte man vom ersten Eindruck der wundersamen Besetzungsvermehrung auf der erweiterten Laeiszhallen-Bühne geleitet witzeln, aber der Klang des riesenhaften Jugendorchesters entlastet umgehend vom Verdacht der bloßen Effekthascherei. Gut, das mitgebrachte Programm war jetzt auch nicht gerade auf ein schüchternes Sichvorstellen der Damen und Herren aus Caracas ausgelegt, gleich das Revueltas-Stück – eine Art Sacre-Burito für Zwischendurch – fällt eher mit der Tür ins Konzerthaus: „Hoppla, hier kommen wir!“ Und wie!

Dietrich Paredes kann man getrost als Starkstromdirigenten bezeichnen, dessen Spannung sich widerstandslos auf seine jungen Mitstreiter überträgt. Oder, um ein Paar Lateinamerika-Klischees in die Luft zu werfen: feurig, rassig, temperamentvoll. Der Stellenwert von kulturellen Klischees bzw. Erwartungshaltungen sollte mich übrigens dann überraschenderweise noch beim Schostakowitsch beschäftigen, aber der Reihe nach. Paredes steht einem Orchester vor, dessen Zusatz „Jugend“ sich mitnichten in mangelnder Reife oder Güte bemerkbar macht, wenn überhaupt dann in einer unwiderstehlichen Sturm-und-Drang-Vitalität, die manch etablierten Klangkörper sprichwörtlich alt aussehen bzw. klingen läßt.

Der Eindruck einer gewissen Fortissimo-Vorliebe bei Paredes beschlich mich dabei des Öfteren, wobei auch die Mammut-Besetzung und die Faktur der Werke vor der Pause ihren Anteil daran gehabt haben mögen. Auf das „Venezolanische Volksfest“ hätte ich persönlich jedenfalls verzichten können. Sehr – nett formuliert – eingängig folgt Abschnitt auf Abschnitt, einen wirklichen Spannungsbogen bleibt Herr Castellanos ebenso schuldig wie musikalisch Nachwirkendes. Einzig die ernste Passage nach dem Bratschensolo brachte ein wenig Abwechslung in den mal bunt-lärmenden, mal süßlich-schwelgenden Bilderbogen. Kurzum: Das ist einfach ganz und gar nicht meine Musik.

Was man von Schostakowitschs Œuvre nicht gerade behaupten kann. Umso bizarrer, ja eher noch frustrierender, die Tatsache, daß mich seine siebte Sinfonie, die ja zudem bekanntermaßen auch nicht zu den dürftigsten Eingebungen des Petersburgers/Leningraders gehört, heute nicht im Ansatz so mitgerissen hat, wie es das Potenzial der gegebenen Umstände verheißen hätte. Ein beherzt aufspielendes Orchester voller Virtuosität und Leidenschaft, angetrieben von seinem energischen Chefdirigenten, an dessen Interpretation es rein gar nichts zu bemängeln gab, ein Streicherklang, voll und seidig, schneidende Violinen, wie ich sie mir immer wünsche, sonore Bässe, elegante Holzbläser, ein majestätisches Blech, in seiner überwältigenden Wirkung durch die überaus großzügig bemessene Bühnenmusik-Sektion – rechts und links in den ersten Rang ausgelagert – bis an die akustische Schmerzgrenze gesteigert, dazu ein idealer Sitzplatz nah am Geschehen, der die räumliche Staffelung auf überragende Weise erlebbar machte, all diese Komponenten sollten nach Adam Riese einen Gesamteindruck ergeben, bei dem emotional kein Stein auf dem anderen bleibt. Denkste.

Und hier sind wir, wie angekündigt, beim Thema Erwartungshaltung und Klischees angelangt. Zumindest geisterte mir das durch den Kopf, während ich wie im falschen Film nach meiner ausbleibenden Begeisterung Ausschau hielt: Erscheint dir diese Musik gerade weniger russisch als sonst, weil sie von einem südamerikanischen Orchester dargeboten wird, oder ist das bloße Einbildung? Was heißt schon „russisch“? Einigen wir uns auf „weniger nach Schostakowitsch“. Irgendwie „südländischer“. Bin ich jetzt auf meine alten Tage unter die Rassisten gegangen? Hör genau hin, hörst Du einen objektiven Unterschied? In der Bogenführung vielleicht? In der Betonung und Phrasierung, gerade der rhythmischen, der tänzerischen Elemente? Also Dampf ist in jedem Fall auf dem Kessel. Die sonst so ergreifenden Passagen des Adagio ziehen trotz himmlischen Streicherklanges bedeutungslos an mir vorbei, wie um ihrer eigentlich verinnerlichten Aussage beraubt. Das Finale ist an Wucht und Intensität kaum zu überbieten, dennoch fühle ich mich mehr im Auge des Sturms denn den Gewalten ausgesetzt. Ich bin überfordert.

Man beschwert sich ja auch nicht, wenn die Wiener oder Berliner oder Amsterdamer oder Bostoner Schostakowitsch spielen. Oder Sibelius. Oder Ginastera. Oder doch? Dazu müßte ich mal den ein oder anderen Finnen oder Argentinier befragen, wenn ich mal einen zur Hand habe. Musik ist eine Sprache, die überall verstanden wird. Klingt erst mal gut, ist aber vielleicht in letzter Instanz Humbug – man muß ja gar nicht erst nach Afrika oder Fernost schweifen, um festzustellen, daß die kulturelle Vielfalt in der Welt uns durchaus manchmal an Grenzen des Fasslichen bzw. auf Anhieb Verständlichen bringt. Ein Wagner wird an der Scala wohl auf absehbare Zeit einen Verdi in der Gunst des Publikums nicht überflügeln, ohne daß ihm daraus jemand ernsthaft einen musikalischen Mangel ableiten würde. Die Geschmäcker sind halt verschieden.

Und wer sagt denn nicht, daß es GERADE das südliche Temperament dieser Musiker war, das diese herrliche Sinfonie unbestreitbar zum Triumph bei so ziemlich allen anderen Besuchern der Laeiszhalle werden ließ? Fest steht nur, daß ich die Diskrepanz zwischen erlebter Qualität und empfundener Reaktion darauf nicht erklären kann, so viel Gedanken und Worte ich auch darauf ver(sch)wenden mag. Im Zweifel war heute einfach nicht mein Tag. Trotzdem irgendwie schade.

Am Ende bin ich jedoch froh und dankbar, dieses großartige Orchester gehört zu haben. Ich hoffe, ich werde einmal die Gelegenheit erhalten, diese unwirkliche Begegnung bei einem Wiedersehen unter anderen Bedingungen vertiefen zu können.

17. Oktober 2014

Orfeo ed Euridice – Marko Hribernik.
Slowenisches Nationaltheater Ljubljana.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 2, Platz 12













Manchen Abenden fiebert man ja mitunter Monate im Voraus entgegen. Große Namen, Berühmte Orchester oder persönliche Werk-Favoriten können diese bange Hitze für gewöhnlich aufsteigen lassen. Und manche Abende nimmt man einfach so mit. Mehr oder weniger spontan. Weil man gerade in der Stadt ist, zum Beispiel. So wie ich an diesem Freitag in Ljubljana, der letzten Station einer Reise durch Österreich, Ungarn, Kroatien und eben Slowenien. Ein ma(h)lerisches Städtchen mit hübschem kleinen Theater, welches – um einen modernen Anbau ergänzt – in alter Pracht zum Besuch des Gluck’schen Orpheus einlud.

Eine Oper, die mir bislang nur vom Hörensagen geläufig und musikalisch bis auf ein, zwei Nummern unbekannt war. Die tragische Geschichte selbst ist losgelöst von Gluck natürlich ein Begriff. Für umso mehr Verdutztheit sorgte dann der zur Schelmerei aufgelegte Gevatter Zufall, welcher mich gleich zweimal auf meiner Reise mit jener Sage in Berührung brachte. Zuerst auf dem gülden-eisernen Vorhang der Wiener Staatsoper und dann in der aktuellen Programmübersicht des hiesigen Theaters. Wenn das mal kein zaunpfahlbewehrter Wink des Schicksals war.

Und was soll ich sagen – selten bin ich, so unvorbereitet und bar jeder konkreten Erwartung, derart umgehauen und nachhaltig begeistert worden. Oder anders formuliert: Mein Einstieg in das musikdramatische Werk Glucks hätte unter keinem günstigeren Stern stattfinden können. Das Slowenische Nationaltheater Ljubljana hat mit diesem Orfeo ein Juwel im Repertoire, das sich in musikalischer Qualität, darstellerischer Hingabe und dramaturgischer Konsequenz mühelos mit Produktionen der namhaftesten Bühnen Europas messen lassen kann.

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Bei der äußerst einfühlsamen musikalischen Leitung durch Marko Hribernik vielleicht, der diese überraschend schnörkellose, dabei ungemein tiefe und berührende Musik Kraft eines ihm differenziert und spannungsvoll folgenden Orchesters unter größtmöglicher Intensität und Wirkung entstehen ließ. Bei einem stets geforderten wie präsenten Chor, der Dank individueller, sinnstiftender Personenregie als organisches Kollektiv agieren durfte. Oder doch beim Triumvirat der Hauptpartien, ausnahmslos mit wahren Sänger-Darstellern besetzt, die mich das Nichtvorhandensein meiner Italienischkenntnisse vergessen machten.

Letzteres verdanke ich in erster Linie auch der Arbeit Jernej Lorencis. Eine Inszenierung, klar wie der helle Tag, dabei trotz äußerster Reduktion der Mittel voller Phantasie, Stringenz und Kraft. Und am Ende von solch erschütternder, leiser Wucht, daß das mythologisch Bildhafte, die alte, ferne Geschichte beinahe unerträglich persönlich anfaßt. Ich muß tief in meiner Erinnerung graben, einen Ausdruck ähnlich bodenloser Hoffnungslosigkeit auf der Bühne zu denken, wie das Bild des Orpheus auf seinem immerwährenden Weg, der Suche nach seiner Eurydike, unermüdlich, dabei nicht vom Fleck kommend, schließlich vom Alter gebeugt, taumelnd, verlöschend.

Was genau macht diese Inszenierung so intensiv? Zum Einen die bereits angesprochene, akribische, lebendige Personenregie, die sich nicht nur auf den Chor beschränkt, sondern in den Solisten jeweils begnadete Umsetzer gefunden hat. Daß dabei das titelgebende Paar auf solch fulminante Art und Weise durch Mitglieder des Hauses besetzt werden kann, ist alles andere als selbstverständlich und läßt auf ein starkes Ensemble schließen. Sowohl Norina Radovan als auch Jože Vidic haben dabei – neben großem darstellerischen Talent – eines gemein: Stimmen, die nicht allein über Wohlklang, sondern in gleichem Maße über Charakter verfügen.

Urška Arlič Gololičič als bald kindlich verspielter, bald sinnlich lüsterner Liebesgott weiß sowohl mit stimmlichen wie optischen Reizen zu überzeugen. Die Ambivalenz dieses Charakters wird besonders deutlich in der Szene, die die Transformation der Hochzeitsgesellschaft zu wilden Furien zum Inhalt hat. Gänzlich verwandelt zeigt sich Amor dann wiederum, wenn er fast zärtlich dem staunend gebannten Orpheus den Himmel zeigt. Dieser Moment gehört generell zu den Wundern des Werkes und speziell dieser Inszenierung. All die Wärme und Güte, die an dieser Stelle dem Orchestergraben, der Kehle und nicht zuletzt dem unschuldig-ungläubigen Blick Orpheus’ entströmen, gepaart mit dem Wechsel der Lichtstimmung, dem Erstrahlen des Saales, sind nur schwer in Worte zu fassen, berühren das Herz aber umso entwaffnender.

Das Faszinierende an diesem Abend ist auch, daß die Inszenierung – trotz der zentralen Rolle des Orpheus – eigentlich keinen „Star“ hat. Die Inszenierung ist gewissermaßen der Star. Ganz klar, ohne das suggestive Spiel Vidic’ wäre die Vorstellung nicht halb so ergreifend, aber es ist eben die Regie, die ihm durch eine fast schon statische, stets fokussierte Ausformung die entsprechenden Momente verschafft. Das Bühnenbild beschränkt sich dabei auf leichte Variationen des Immergleichen – Orpheus sitzt am Tisch der Hochzeitsgesellschaft und betrauert seine Eurydike, mal von den Gästen umringt, mal allein. An festlich gedeckter Tafel, dann wieder am abgeräumten Tisch. Selbst das Wiedersehen des Paares findet in dieser Form statt. Eurydike nähert sich aus des Dunkel der leeren Bühne dem am Tisch sitzenden Orpheus, auf diesem Tisch liegend haucht sie schließlich abermals ihr Leben aus – der Kreis zum Beginn der Aufführung ist geschlossen.

Die einzelnen Szenen sind teilweise durch Vorhänge voneinander getrennt, die so auf klassische Weise nicht nur die inhaltliche, sondern auch die musikalische Struktur nachvollziehen. Die exakte Wiederholung einer Szenenfolge relativ zu Beginn des Stückes ist dafür das prägnanteste Beispiel, weil hier das optische Déjà-vu in Bühnenbild und Choreografie der Darsteller gleichsam mit der Repetition des musikalischen Materials bei Gluck einhergeht und diese somit betont. Ein einfaches, aber wirkungsvolles Mittel.

Überhaupt wartet die Inszenierung mit simplen, dafür umso zwingenderen Lösungen auf. Orpheus’ Reise wird lediglich durch das im Sitzen betätigte Laufband und einen geschulterten Gitarrenrucksack angedeutet, den der Barde schließlich bei der Besänftigung der Furien einsetzt, wenn er erreicht, daß der animalische Hochzeitsgast von seinem brutalen Akt abläßt. Die Verwandlung der festlichen Gesellschaft in Furien vollzieht sich lediglich durch Haare Raufen und tortenverschmierte Minen. Umbauten werden teilweise auch direkt sichtbar für alle durch Bühnenmitarbeiter getätigt, ohne das dadurch etwas von der Magie des Augenblicks verloren ginge. Im Gegenteil. Wenn sich schließlich die Last des Alters auf Orpheus einzig dadurch auf ihn legt, daß man ihm lapidar einen Gehstock in die Hand drückt und einen dünnen grauen Bart über das Kinn streift, ist der Effekt schmerzlicher, als es aufwändigste Maskenbildnerei vermöchte.

Weiterer Erwähnung bedarf der Umstand, daß Lorenci neben der eigentlichen Handlung noch eine weitere Ebene einzieht, indem er manche Charaktere doppelt. So wird die Betrauerte bis zu ihrem Erscheinen in der Unterwelt von einer anderen Darstellerin verkörpert (auch Amor schlüpft in ihre Rolle) und Orpheus scheint ebenso eine Art Pendant zu haben, das Eurydikes Tod im Gegensatz zum eigentlichen Sänger am Rand der Szene mit einem Zusammenbruch aufnimmt. Später werden wir irritiert Zeuge, wie dieser „seine“ Eurydike unter den Augen der Gäste erwürgt. Wie ist dies zu deuten? Als Sinnbild dafür, daß sich Orpheus selbst die Schuld am Tode seiner Geliebten gibt? Die Inszenierung blieb an diesem Punkt, zumindest für mich als Gluck-Neuling, rätselhaft – was die atmosphärische Dichte aber eher noch erhöhte.

So ist es insgesamt das Verdienst dieser Regiearbeit, zum Nachsinnen anzuregen. Nicht ohne Grund wird auf die glückliche Schlusswendung der Oper verzichtet und stattdessen der tragische Ausgang der mythologischen Vorlage ans Ende gesetzt. Die strenge Einheit des Raumes und das Stilmittel des im Sitzen beschrittenen, unendlichen Pfades lassen mich das Gedankenspiel fortspinnen, ob Orpheus die Reise überhaupt je außerhalb seines in Trauer gefangenen Geistes angetreten ist. Vielleicht ist er auch nie aufgestanden. Vielleicht sitzt er weiter an diesem Tisch und verharrt im Gram des Verlustes. Bis an sein eigenes Ende.

Fazit: Auch wenn er momentan nicht mehr auf dem Spielplan steht – für diesen Orfeo sollte jeder Opernfreund, der es einrichten kann, der schönen Stadt an der Ljubljanica einen Besuch abstatten.


Christoph Willibald Gluck – Orfeo ed Euridice
Musikalische Leitung – Marko Hribernik
Regie – Jernej Lorenci
Bühnenbild – Branko Hojnik
Kostüme – Belinda Radulović
Choreografie – Gregor Luštek
Licht – Andrej Hajdinjak
Dramaturgie – Tatjana Azman

Orfeo – Jože Vidic
Euridice – Norina Radovan
Amor – Urška Arlič Gololičič

Opernchor und Orchester des Slowenischen Nationaltheaters Ljubljana

6. Oktober 2014

Orgelkonzert – Gábor Szotyori Nagy.
St. Stephans-Basilika Budapest.

19:00 Uhr, freie Platzwahl



Tomaso Albinoni – Adagio
Wolfgang Amadeus Mozart – Ave verum (Lívia Scheer – Sopran)
Johann Sebastian Bach – Preludium und Fuge C-Dur
George Bizet – Agnus Dei (Lívia Scheer – Sopran)
Johann Sebastian Bach – Air
Franz Liszt – Choral
Charles Gounod – Ave Maria (Lívia Scheer – Sopran)
Johann Sebastian Bach – Toccata und Fuge in d-Moll


Beeindruckende Klänge erfüllen ein beeindruckendes Bauwerk – die Orgel der Budapester Stephans-Basilika kann sich mehr als hören lassen. In stimmungsvoll illuminiertem Ambiente fand sich eine bunte Schar auf knarziger Bestuhlung ein, um unter der majestätischen Kuppel einer Art Schlagerparade der Orgelliteratur beizuwohnen. Wobei ich grundsätzlich nichts gegen ein solch populäres Programm einzuwenden habe – manche Stücke sind eben einfach unkaputtbar. Außerdem sind wir hier ja nicht im Orgelseminar, sondern lösten mit dem Ticket gleichsam die Gewißheit auf eine knappe Stunde touristengerechter Erbauung.

Zum Eingrooven also das Werk, mit dem sich Albinoni – wohl ganz ohne sein eigenes Zutun – in der Musikwelt abseits der Katzendarmsaitenliebhaber einen Namen gemacht hat. Hat der Herr Giazotto schon ganz nett hinbekommen, nicht nur das mit dem lukrativen Etikettenschwindel, sondern auch rein musikalisch betrachtet. Im weiteren Verlauf des Konzerts wird der Klang des wunderbaren Instruments dann bei Mozart, Bizet und Gounod(/Bach) um die Stimme von Frau Scheer ergänzt – fein und lieblich, wenn auch nicht restlos intonationssicher.

Die Höhepunkte des Programms markieren für meinen Geschmack allerdings ohnehin die Werke Bachs und der Liszt-Choral. Obwohl der Organist das Air mit einem solch eigenwilligen Rubato versieht (ich unterstelle jetzt einfach mal Absicht), daß bei dem wechselseitigen Stocken und Eilen kein rechter Fluß aufkommen will. Wen kümmert’s, sorgt doch spätestens die gewaltige Klangfülle aus der Feder Liszts für Gänsehaut. Die dynamischen Kontraste, bekrönt von schichtend türmenden Harmonien, welche einen Dom im Dom entstehen lassen – das mag unter dem Strich vielleicht nicht gerade subtil daherkommen, aber meine Stimme hat der alte Tastenfuchs.

Den würdigen Abschluß bildet lustigerweise wiederum ein Stück – um den Bogen zum Anfang zu schlagen – dessen Urheberschaft Anlaß zu Diskussionen bietet. Wobei sich das bei Bachs Evergreen eigentlich verbietet – all die mutmaßlich falsch gedruckten Tonträger-Booklets, Nennungen in Filmabspannen und YouTube-E-Gitarren-Transskriptionen – wär doch schade. Aber eine knallharte Wikipedia-Recherche später sieht es nach Entwarnung aus: Mittlerweile scheint man den Reißer doch wieder dem Thomaskantor zuzurechnen. Bach oder nicht, das Opus fetzt und kann auch heute wieder seine volle Wirkung entfalten.

Köpfe drehn sich ehrfürchtigen Blickes gen Empore, braver Beifall, noch schnell ein paar Erinnerungsfotos, dann kann es weitergehen auf der Tour durch eine Stadt, die durchaus mit allen Sinnen zu gefallen weiß.

4. Oktober 2014

Salome – Alain Altinoglu.
Wiener Staatsoper.

19:30 Uhr, Parkett rechts, Reihe 4, Platz 7



Salome an der Wiener Staatsoper – viel mehr geht nicht, sollte man meinen. Daß es dann am Ende doch „nur“ ein sehr guter, jedoch kein denkwürdiger Abend wurde, kann an Vielem gelegen haben. An einem Orchester, dessen Klang einzig Begriffe wie „Weltklasse“ oder „himmlisch“ gerecht werden, sicher nicht. Welche Transparenz! Welche Präsenz! Welche Klangfarben! Welch delikates Spiel in Ausdruck und Technik! Und Altinoglu weiß einiges mit diesem Klangkörper anzufangen. Eine absolut runde Umsetzung der Partitur – vielleicht eine Spur zu rund für meine Vorliebe für Schärfen und Kontraste.

Auch das Sängerensemble leistete sich keine nennenswerten Schwächen, man kann im Gegenteil sicher von einer starken Gesamtleistung sprechen – ohne daß mich jedoch einer der Protagonisten nachhaltig berührt hätte. Das mag zum Teil auch auf die überraschend schwache akustische Präsenz der Sänger auf meinem erhofften Premiumplatz im Parkett zurückzuführen sein. Wohlgemerkt, die Wahrnehmung des Orchesters würde ich als äußerst homogen und von der Dynamik ebenfalls nicht unbedingt unfair gegenüber dem Ensemble bezeichnen. Und es sollte ja schon was rüberkommen an Dampf bei diesem Stück. So verwunderte es umso mehr, daß selbst in diversen Passagen, in denen von Tutti und Fortissimo weit und breit keine Spur war, die Stimmen zumindest nicht befriedigend bis in die vierte Reihe trugen. Eine recht dürftige Textverständlichkeit als Folge machte die Sache für Konzentration und Intensität auch nicht besser.

Aber vielleicht liest sich das jetzt schon zu negativ. Die Oper ist eine Bank und konnte seine reichen musikalischen Schätze auch diesmal wieder zum Funkeln bringen. Diverse wohlige Schauer zeugten davon. Wenn es heute etwas in Wien zu bemängeln gab, dann wahrscheinlich das nur bedingt abgerufene dramatische Potenzial des Stückes. Die Inszenierung, oder besser deren Ausstattung, ist nett anzusehen, verharrt letztendlich jedoch im Gefälligen. Ein blanker Busen birgt noch lange keine Brisanz, um nur mal eine Schlüsselstelle in die Pflicht zu nehmen. Alle Achtung vor der tänzerischen Leistung Frau Lindstroms, aber wichtiger als ein unfallfreier, ästhetischer Schleiertanz erscheint mir, daß man als Zuschauer das Knistern der Partitur auch in der Inszenierung mitbekommt, die erotische Aufladung, die sich mit dem Tanz zwischen Salome und Herodes bis zum Zerreißen (nicht nur der Hüllen, vielmehr des letzten Fünkchens (Selbst-)Kontrolle und Autorität bei Herodes) steigert. Davon habe ich hier und heute recht wenig wahrgenommen.

Einige andere Szenen, die ein Gespür für den dramatischen Moment vermissen lassen, bestärken mich in meinem Eindruck, daß in dieser Repertoire-Produktion entweder nicht unbedingt die ausgefeilteste Personenregie anzutreffen ist – oder man mit dem aktuellen Personal einfach kaum Zeit zu intensiveren Proben hatte. Wenn sich Herodes beispielsweise in größter Verzweiflung zur Preisgabe (und somit Entweihung) der heiligsten Insignien hinreißen läßt, sind die knuffige Reaktion der jüdischen Gelehrten und ihr slapstickartiger Abgang nicht mehr als ein (unfreiwillig?) komischer Rohrkrepierer eines Kulminationspunktes äußerster Sprengkraft. Man lasse sich das auf der Zunge zergehen: Der weltliche Herrscher stellt das Leben des beargwöhnten Propheten über die herrschende klerikale Ordnung – fragt sich, wie sicher am Ende sein eigener Kopf auf den Schultern ruht.

Natürlich ist das nur ein Detail, aber eben auch stellvertretend für ein Agieren der Darsteller, das weitestgehend an der Oberfläche kratzt. Und noch ein kleiner ketzerischer Tipp an die Lichtregie: Eine stimmungsvolle Beleuchtung ist schon schön – noch schöner ist es allerdings, wenn sie nicht allein Kulissen in ein erbauliches Licht taucht, sondern selbiges z.B. auf innere und äußere Zustände wirft. Muß man nicht machen, kann aber helfen.

Für das Fazit biete ich heute mal zwei Versionen an:
1. Eine brave Inszenierung bringt den Abend um Furor und Transzendenz.
2. Begeisterter Applaus für einen bewährten Kassenschlager in opulentem Gewande.


Richard Strauss – Salome
Musikalische Leitung – Alain Altinoglu
Regie – Boleslaw Barlog
Ausstattung – Jürgen Rose

Herodes – Wolfgang Ablinger-Sperrhacke
Herodias – Jane Henschel
Salome – Lise Lindstrom
Jochanaan – Alan Held
Narraboth – Carlos Osuna
Page – Ulrike Helzel
Erster Jude – Benjamin Bruns
Zweiter Jude – Peter Jelosits
Dritter Jude – Benedikt Kobel
Vierter Jude – Thomas Ebenstein
Fünfter Jude – Dan Paul Dumitrescu
Erster Nazarener – David Pershall
Zweiter Nazarener – Hans Peter Kammerer
Erster Soldat – Alfred Šramek
Zweiter Soldat – Il Hong
Ein Cappadocier – Hiro Ijichi
Ein Sklave – Roman Lauder

Orchester der Wiener Staatsoper

24. September 2014

Mahler Chamber Orchestra – Leif Ove Andsnes.
Laeiszhalle Hamburg.

19:15 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16



Ludwig van Beethoven – Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 19
Ludwig van Beethoven – Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll op. 37

(Pause)

Ludwig van Beethoven – Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58

Zugaben:
Ludwig van Beethoven – Bagatelle C-Dur op. 119/8
Ludwig van Beethoven – Bagatelle As-Dur op. 33/7



Heute hat es leider nicht sollen sein. Der Funke wollte nicht überspringen, so willig ich auch angesichts des verheißungsvollen Programms gewesen sein mochte. Was nicht viel über die Güte des Abends besagen muß. Offenbar liefert Andsnes nicht unbedingt einen Beethoven, der mich mitreißt, in den geliebten Strom fortwährenden Dranges und kontemplativer Romantik. Nicht wenigen im Saal erging es jedoch dem Beifall nach anders.

Darüber ließe sich sicher trefflich diskutieren, indiskutabel möchte ich allerdings die Platzierung des Flügels auf der Bühne heißen, die Klaviatur dem Saal zugewandt, ohne Deckel, die Ergebnisse der Tastenarbeit ungelenkt und akustisch äußerst unbefriedigend diffus gen Bühnendecke mumpfend. Andsnes’ Ambitionen als Dirigent und Pianist in Personalunion in allen Ehren, aber so müssen seine Bemühungen, zumindest für die sonst vorteilhaftesten Plätze des Parketts, verpuffen.

Spätestens das vierte Klavierkonzert, welches ich wohl am besten verinnerlicht und besonders liebgewonnen habe, offenbart dann schmerzlich, oder besser schmerz- und herzlos, daß ich auf Andsnes’ „Beethoven Journey“ nichts verloren habe. Das ist schon alles ganz prima, das Orchester klingt famos, die Interpretation ist auch nicht lasch oder gar unplausibel – aber eben auch weit von dem entfernt, was ich eine eigene Handschrift, geschweige denn ein Ereignis nennen würde.

Wobei ich sogar weniger Probleme mit der Orchesterbehandlung als mit dem Solopart hatte. Ich kann weder sagen, daß mich Andsnes mit einem besonders feinen Anschlag verzückt, noch durch seine Interpretation überzeugt hätte. Die Kadenzpassagen erlebte ich beispielsweise mehr als akademisches Abarbeiten denn beeindruckende Visitenkarte des Solisten. Wenn es stimmen sollte, daß er sich, wie man dem Programmheft entnehmen konnte, die letzten Jahre vor allem mit Beethoven beschäftigt haben soll, läßt sich daraus zumindest für mein Dafürhalten keine Lesart ableiten und -lauschen, die zwingender als ein guter Standard wäre. Ich muß es so hart formulieren: Der Solist bliebt trotz unbestreitbarer, technischer Perfektion blaß – miese Akustik hin oder her. Die beiden Bagatellen als Zugabe vermochten diesen Eindruck auch nicht zu entkräften, als vielmehr zu zementieren.

Auch auf die Gefahr hin, jetzt vollends despektierlich zu klingen, wirklich gelohnt hat sich der Abend eigentlich nur aufgrund der (wieder mal) vorbildlichen Einführung durch Lars Entrich. Im Nachhinein betrachtet wäre es für mich deutlich ergiebiger gewesen, die Darbietung im großen Saal gegen eine Weiterführung dieser inspirierenden halben Stunde in der kleinen Musikhalle einzutauschen. Doch auch so sorgte Entrich für eine Vielzahl erhellender Momente bei der Vermittlung Beethoven’scher Eigen- und Besonderheiten, die wie bei jeder seiner Einführungen von sich übertragender Begeisterungsfähigkeit und großer Liebe zur Musik getragen wurde. Und natürlich ist es von Vorteil, beispielsweise die Erläuterung der motivischen Arbeit Beethovens direkt am Flügel durch einen ausgewachsenen Pianisten dargeboten zu wissen. Kurzum: Ein großes Lob an den Veranstalter für diese Personalie, verknüpft mit der Bitte, Herrn Entrich auch in Zukunft jenes Forum zu bieten – Musik braucht Fürsprecher wie ihn.

21. September 2014

Hamburger Symphoniker – Jeffrey Tate.
Laeiszhalle Hamburg.

19:00 Uhr, 1. Rang rechts, Loge 5, Reihe 1, Platz 2



Richard Strauss – Also sprach Zarathustra

(Pause)

Gustav Holst – The Planets
(Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor Hamburg (Damen))



Auf diese Saisoneröffnung hatte ich mich besonders gefreut – Die verheißungsvolle Kombination zweier ausgesprochener Lieblingswerke, präsentiert durch die geschätzten Hamburger Symphoniker und ihren verehrten Chefdirigenten. Zu hohe Erwartungen sind selten ratsam, da nicht nur in der Oper, sondern auch im Konzert das subjektive Gelingen des Abends von allzu vielen Faktoren abhängig ist. Daß ich bei Veranstaltungen der Hamburger Symphoniker, zumal unter Mitwirkung Herrn Tates, allerdings mittlerweile ein wohliges Zutrauen in die Fügung der Dinge entwickelt habe, wurde auch heute wieder nicht bestraft.

Also sprach Zarathustra, oder: So geht Strauss. Ein nie versiegender Fluß mäandernder Harmonik, aufs Nuancierteste ausgesteuert durch die feinen Fingerzeige Tates, sein herrliches Orchester im Rausch der Klangfarben erstrahlen lassend. Gipfel für Gipfel wird unbeirrbaren Schrittes erklommen, Bögen dürfen hier atmen, so daß stetig Spannung aufgebaut wird. Dabei spielt es keine Rolle, welchen Ausdruckscharakter eine Passage hat, die aufeinander aufbauenden bzw. kontratierenden Teile werden gemäß ihrer dramatischen Funktion im Fortgang des Stückes ungemein dicht verzahnt und lassen dabei das große Ganze ebenso wie die einzelnen Schönheiten der Partitur ans Herz gehen.

Und zu Herzen geht diese Musik, zumal in solch einer Interpretation, wie sie ein sensibler Gestalter wie Tate hervorbringt. Dabei zeichnet sich sein Dirigierstil sowohl durch äußerste Präzision, als auch eine ungeheure Ruhe und Wärme aus, ein Federn, daß den Fluß organisch lenkt. Fluß, da taucht der Begriff abermals auf. Wahrscheinlich empfinde ich deshalb auch Tates Strauss (und Wagner!) als so zwingend. Rund und voll. Mit einem Ohr für die Schattierungen, über die manch anderer achtlos hinfort eilt. Allein wie der innige Streichersog im Teil „Von den Hinterwäldlern“ stufenlos an Intensität und Kraft gewinnt, ließ mich einfach in Verzückung dahinschmelzen. Mag vielleicht arg pathetisch klingen, aber: Perfektion kann starke Worte vertragen.

Nach Rausch, Ekstase und Verklärung bei Strauss freute ich mich nicht minder auf die nachpausige Planetenkunde. Als Freund der unter Klassikfreunden gern naseberümpften Filmmusik und großer Bewunderer John Williams’ macht es einfach einen Heidenspaß, sich an dem standardsituativen Füllhorn, welches Holst mit dieser Suite ausgeschüttet hat, in vollen Zügen zu laben und staunend von den Früchten zu kosten, die schon manchen Kollegen aus Hollywood auf den Geschmack gebracht haben.

Natürlich sind da erst einmal die offensichtlichen Parallelen zu bekannten Stücken der Filmmusikgeschichte, wie die Patenschaft des Mars für allerlei Martialisches von Star Wars bis Gladiator. Viel spannender als einzelne, konkrete Allusionen oder (Beinahe-)Zitate ist in meinen Augen allerdings die Bandbreite und Plakativität der verschiedenen Holst’schen Stimmungsbilder, die auch ohne die Verknüpfung mit mythologischen Charakterstudien vor dem geistigen Auge Szenen verschiedenster Couleur hervorrufen. Damit meine ich weniger konkrete „auskomponierte“ Handlungen, als vielmehr präzis formulierte emotionale Aggregatzustände, die wiederum nach der Verknüpfung mit außermusikalisch Archetypischem geradezu schreien.

Die Untertitel der Sätze geben dabei zwar schon die grobe Richtung an – Krieg, Frieden, Freude, Alter usw. – doch sie unterschlagen den Variantenreichtum, mit dem sich Holst den Themen widmet. Faszinierend, wie er beispielsweise im Jupiter den Begriff „Freude“ von verschiedenen Seiten beleuchtet: Ausgelassen, weihevoll, übermütig, stolz, triumphierend. Und das organisch innerhalb weniger Minuten – ein Umstand, den diese Musik so interessant für Filmkomponisten macht, bei denen es oft auch um die Gestaltung plakativer Miniaturen geht, mit denen es Szenen von bereits durch den Schnitt definierter Länge zu vertonen gilt.

Dabei ist diese Art der Musik natürlich nicht mit Holst vom Himmel gefallen, Anklänge an andere Klassiker der „Programmmusik“ von Strauss bis Dukas (Holsts Magier Uranus scheint mit dem Zauberlehrling die gleiche Schulbank gedrückt zu haben) sind unüberhörbar. Dennoch stellt diese Suite für mich ein Schlüsselwerk der illustrativen bzw. deskriptiven Musik dar – die Diskussion, ob Musik an sich überhaupt lustig, traurig etc. sein kann, erspare ich mir an dieser Stelle – eben aufgrund seines kaleidoskopischen Steinbruchs an Ausdrucks-Standards, die in der Folge so inspirierend wirken sollten.

Gerade auch der Instrumentation darf in diesem Zusammenhang fast schon stilbildende Funktion beigemessen werden – um als Beispiel den Bogen wieder zu John Williams zu schlagen. Wer sähe sich als fleißiger Kinogänger beim einsamen Solohorn der Venus nicht an die Weiten Tatooines, bei Merkurs wirbelnden Figuren nicht an „Home Alone“ erinnert? Überhaupt fällt die Kombination flirrender Streicher und Holzbläser, wie sie unter anderem im Uranus anzutreffen ist, ganz klar unter den „typischen“ Williams-Sound.

Der Umstand, daß die Filmmusik in Vertretern wie Williams nicht minder begnadete Schöpfer großer Werke (unter gänzlich anderen Vorzeichen und für einem völlig anderen Einsatz) gefunden hat, läßt mich das Aufgreifen der angesprochenen Muster ganz klar als weitergeführte Tradition, ein aufeinander Aufbauen sehen und hat für mich gerade in diesem Fall keinesfalls etwa mit Ideenraub zu tun. Das Besondere – und Bewundernswerte – an Williams ist nämlich letztlich die Fülle originärer Ideen und Lösungen, die dieser Mann für die verschiedensten Genres in beseelte Musik gegossen hat. Aber dies im Detail auszuführen, würde wiederum einen eigenen Eintrag erfordern.

Besondere Erwähnung erfordert allerdings auch an diesem Abend Tates Beitrag. Gleich die ersten Takte des Mars liefern eine eindringliche Antwort auf die in meinem Umfeld gern mal halb unbedarft, halb provokant gestellte Frage, was der Dirigent denn schon groß beizutragen habe. Ein für mein auf Bernstein und seine New Yorker Philharmoniker geeichtes Ohr spontan viel zu langsames Grundtempo zum Beispiel. Und dann passiert nach einigen Momenten der Irritation eben jenes Phänomen, für das ich nicht müde werde, mir immer wieder ein und dieselben, scheinbar wohlvertrauten Stücke im Opern- oder Konzertsaal einzuverleiben: Das Altbekannte entsteht unter den Händen eines inspirierten Dirigenten frisch und neu wie ein Schatz, den man gerade erst gefunden hat.

Konkret auf den Mars bezogen bedeutet das folgenden Effekt: Während Bernstein mit seinem schnellen, ungestümen Tempo das aggressive, ungezügelte Moment des Krieges beschwört, der beinahe wie eine Naturgewalt hereinbricht, hebt das langsame, dafür ungleich präzisere Tempo Tates in seiner fast metronomartigen Strenge, das keinesfalls weniger beklemmende Technokratische, Unaufhaltsame der Kriegsmaschinerie in aller Unerbittlichkeit hervor. Querverbindungen zum maschinenhaften Tanz in Ravels „La Valse“, der ebenfalls sein grotesk stampfend schnaufendes Ende findet, tun sich auf – es ist einfach immer wieder spannend zu erleben, daß es eben nicht die eine, allein selig machende Sichtweise auf eine Komposition gibt. Daß sich hierbei auch die Hamburger Symphoniker nicht schuldlos zeigen – beispielsweise mit einem satten Blech, das droht, als gäbe es kein Morgen – versteht sich von selbst. Ebenfalls für die übrigen Sätze der Suite gilt: Die Hamburger Symphoniker liefern!

Fazit: Zarathustra-Sonnenaufgang und Milchstraßen-Bummel zeigen es um die Wette strahlend an – Die Sterne stehen günstig für die neue Saison der Hamburger Symphoniker.

21. Mai 2014

Münchner Philharmoniker – Zubin Mehta.
Laeiszhalle Hamburg.

19:30 Uhr, 1. Rang links, Loge 4, Reihe 1, Platz 2



Richard Strauss – Till Eulenspiegels lustige Streiche
Richard Strauss – Vier letze Lieder

(Pause)

Richard Strauss – Ein Heldenleben



Nachdem Lorin Maazel, neben dem reinen Strauss-Programm der eigentliche Grund für meinen Kartenkauf, das Konzert gesundheitsbedingt absagen mußte, erfuhren meine Erwartungen erst mal einen gehörigen Dämpfer. Zubin Mehta ist ja zweifellos ein klangvoller Name – der sich nur weder in meinem CD-Regal noch in meiner Konzertbesuchhistorie nennenswerter Relevanz erfreut. Warum auch immer. Im Gegensatz zu Kollegen wie Solti oder eben auch Maazel bin ich einfach nie über Mehta-Aufnahmen gestolpert, die ihn mir – wie die Erstgenannten – für diesen oder jenen Komponisten besonders interessant oder gar unentbehrlich gemacht hätten. Rattle für Sibelius, Karajan für Brahms, Britten für seine eigenen Werke – jeder hat bekanntlich seine Vorlieben. Aber Mehta – Fehlanzeige. Wobei ich ihn vor Jahren schon einmal live erleben durfte, mangels Einfallsreichtums des Schicksals ebenfalls mit den Münchner Philharmonikern, im Gasteig. Bezeichnenderweise habe ich keine nennenswerte Erinnerung an dieses Konzert, was im Umkehrschluß auch bedeutet, daß es sicher keine Katastrophe war. Heute also Mehta zum Zweiten.

Ich mach's mal kurz: Der Mann ist ganz sicher kein Schlechter – nur nicht unbedingt ganz der Richtige für mich. Seine Stärke liegt ganz klar in den ruhigen, sanften Momenten, die er beeindruckend auszukosten weiß, nicht jedoch im straussschen Überschwang oder gar Übermut – eine Erkenntnis, die sich vom quecksilbrigen Eulenspiegel bis ins kraftstrotzende Heldenleben durchträgt. Mehta scheint mir zu sehr ein Vertreter der Eleganz, des Ästhetischen, als daß er den Schmiss des Heldenthemas, das Groteske der Widersacher, das Dröhnen der Walstatt mit dem erforderlichen Maß an Schweiß und Dreck versehen könnte, um nicht auch die geiferndsten Holztiraden und drohendsten Blechgewitter mit Noblesse und Kultiviertheit zu konterkarieren. An den Klangfarben der Münchner lag es jedenfalls nicht. In der Romanze zwischen Held und Gefährtin und vor allem in zum dahinschmelzen fein ausgearbeiteten Schluß wußte Mehta diese auch ohne Kompromisse zu nutzen – im Dienste eines erhabenen Wohlklanges, der sich wie eine zarte, fein gewobene Decke um das betörte Herz schloss.

Auch angesichts überragender Einzelleistungen, wie der des Solohornisten oder des wuchtigen Posaunenklanges, wär aber theoretisch mehr drin gewesen. Ein weiterer erhoffter Konzerthöhepunkt, die Vier letzten Lieder, dargeboten von Frau Harteros, rauschte durch tumbe Ablenkung von schräg hinter mir leider spurlos vorüber – ein penetrant quasselndes Paar hatte sich offenbar in der Veranstaltung geirrt oder aber bewusst das heimische Sofa nebst RTL 2 Abendprogramm für zwei Plätze in der Laeiszhalle eingetauscht. Pech für mich und die anderen umsitzenden Nichtproleten, aber was will man machen? Die alte Sehnsucht nach einem unauffällig einsetzbaren Blasrohr und Curare-Pfeilen bricht sich in Momenten wie diesen wieder Bahn. Es könnte alles so einfach sein.

Nachtrag zum Konzert: Im Juli erreichte mich schließlich die Nachricht vom Tode Maazels. Neben Bestürzung trat das seltsame Gefühl, diesen großen Dirigenten also kein weiteres Mal erleben zu dürfen. So bleibt es bei fünf beeindruckenden Konzerterlebnissen in den Jahren 2005, 2008, 2009 und zweimal 2010 (beim letzten Konzert, wie es der Zufall wollte, als Einspringer für Thielemann mit eben den Münchner Philharmonikern), einer etwas unwirklichen Autogrammstunde in den Korridoren des Mitarbeitertraktes der Laeiszhalle und einer Fülle wundervoller Aufnahmen, die mir auch in Zukunft den besonderen Stellenwert dieses Ausnahmekünstlers immer wieder vor Ohren halten werden.

30. März 2014

Tosca – Jaroslav Kyzlink.
Staatsoper Prag.

19:00 Uhr, 1. Balkon Reihe 3, Platz 35



Das mittlere der drei Häuser des Prager Opernverbundes hat es zugegebermaßen standorttechnisch deutlich weniger repräsentativ getroffen als sein großer Bruder. Gelegen in Bahnhofsnähe, gerahmt von Schnellstraße, Gleisbett und Parkhaus, zieht die Staatsoper in Sachen Glamour gegen den Moldaublick des Nationaltheaters zwar klar den Kürzeren, der Bau weiß aber in seinem Inneren durchaus zu beeindrucken. Prachtvolle Foyers laden zum Lustwandeln ein, im Saal selbst gipfelt das dekorative und figürliche Treiben aufs Vollendetste. Innerer Aufbau und Ausgestaltung des Theaters erinnern mich stark an das Hamburger Schauspielhaus, und siehe da: die Herren Fellner und Helmer waren tatsächlich auch hier am Werk.

Schleierhaft blieb mir, warum das ornamentale Kleinod diesmal nur so spärlich Zulauf fand, und das an einem Sonntag, der nicht gerade unbeliebte Kost verhieß. Tosca zieht doch immer, sollte man denken. Hier und heute offenbar nicht. Überhaupt waren die Reaktionen insgesamt eher gedämpft. Ok, man muß angesichts der gebotenen, ordentlichen Leistung vielleicht nicht ausrasten, aber an anderen Theatern hält sowas das lokale Publikum auch nicht davon ab, „ihrem“ Haus die nötige Portion Enthusiasmus entgegenzubringen. Bliebe noch die Frage, inwiefern der Faktor touristische Gelegenheitsbesucher hier eventuell eine Rolle spielen könnte. Vieleicht geht man als Prager Opern-Ultra ja tatsächlich eher ins Nationaltheater. Fragen über Fragen.

Wenig Stirnrunzeln hingegen lösten die Ereignisse auf der Bühne aus. Leider, muß man sagen. Man kann halt auch ein potenziell gemeingefährliches Stück wie Tosca mit solch formidablen Zutaten wie Eifersucht, Intrige, Sadismus, Mord, Verrat und nicht zuletzt Liebe bis in den Tod einfach nur brav runternudeln, daß einem die Pausenschnittchen auch noch nach der Folterszene munden. Ok, das ist vielleicht zu hart, aber mir ging es definitiv zu gemütlich zu, und daß nicht einmal in erster Linie bei den angesprochenen Schauermomenten. Ein stimmlich braves Ensemble agierte brav in einer durch und durch braven Inszenierung, begleitet von einem braven, nicht immer sattelfesten Orchester unter der Aufsicht seines braven Taktgebers. Man könnte „brav“ auch jeweils durch „solide“ oder „unauffällig“ ersetzen, was den Mitfieber-Aspekt doch einigermaßen dämpfte.

Oder anders. Ich setze noch mal neu an: Die Mitwirkenden haben an diesem Abend eine in allen Belangen brauchbare Leistung gezeigt, unter dem Strich aber zu wenig, um mehr als gepflegte Unterhaltung zu vermitteln. Vielleicht erklärt das auch die verhaltenen Reaktionen. So war im Zweifel also doch keine Touristen-Verschwörung, sondern einfach ein bisschen Langeweile im Spiel. Gutes Stichwort übrigens – das Spiel der Sänger war wahrscheinlich mit der Knackpunkt. Auch hier ist es natürlich leicht an den darstellerischen Fähigkeiten von Sängern herumzukritteln, die in der Regel eher selten bei Lee Strasberg die Schulbank gedrückt haben, aber man ist halt verwöhnt durch die mittlerweile immer häufiger anzutreffenden Gegenbeispiele der eierlegenden Wollmilchsängerdarsteller.

Um nur mal den Sänger des Scarpia als Beispiel zu nehmen: Herr Chmelo besitzt eine schöne Stimme und darüber hinaus auch die nötige Physis für einen potenziell einschüchternden Charakter, aber weder Gesang noch Agieren vermitteln mehr als den Holzschnitt eines Bösewichts. Ich meine, Toscas Ausspruch, daß vor diesem Mann ganz Rom gezittert habe, gibt ja schon eine Hausnummer für sein Auftreten. Und bitte nicht mißverstehen, ein Scarpia muß nicht Neugeborene auf offener Bühne verspeisen oder durch Blut waten, alles dreht sich nur um Intensität und Präsenz – der leise, kontrollierte Terror ist mitunter der verstörendste.

So bleibt am Ende der ungestörte Eindruck redlichen Handwerks. Kann man so machen, allein dafür würde ich aber nicht unbedingt nach Prag fahren – da hat diese schöne Stadt doch ungleich mehr zu bieten, das ein Wiedersehen in jedem Fall rechtfertigt.

Fazit: Beim nächsten Besuch geht es ins Nationaltheater.


Giacomo Puccini – Tosca
Musikalische Leitung – Jaroslav Kynzlink
Regie – Martin Otava
Kostüme – Josef Jelínek
Chorleiter – Adolf Melichar

Floria Tosca – Anda-Louise Bogza
Mario Cavaradossi – Michal Lehotsky
Baron Scarpia – Vladimír Chmelo
Cesare Angelotti – Ladislav Mlejnek
Der Messner – Aleš Hendrych
Spoletta – Václav Lemberk
Sciarrone – Oldřich Kříž
Stimme eines Hirten – Sona Koczianová
Ein Gefängniswärter – Nikola Tašev

Orchester der Staatsoper Prag
Chor der Staatsoper Prag

29. März 2014

Orgelkonzert. Sankt Kajetan Kirche Prag.

17:00 Uhr, Reihe 3 rechts, Platz 1



Léon Boëllmann – Suite gothique, op. 25
Wolfgang Amadeus Mozart – Fantasie KV 608
Johann Sebastian Bach – Passacaglia und Fuge c-Moll, BWV 582
Johannes Brahms – Choralvorspiele: „Schmücke dich o liebe Seele“, op. 122, Nr. 5; „Herzlich tut mich verlangen“, op. 122, Nr. 9
César Franck – Final B-Dur op. 21

Zugabe: Eigene Improvisation des Organisten



Und da soll noch jemand behaupten, Werbung wirke nicht – einfach beim Gang durch die Straße ein Plakat mit Konzertankündigung erblickt, schon war die Vorabendplanung abgeschlossen. Ein Orgelkonzert in einer kleinen aber feinen Prager Kirche, da fallen mir durchaus schlechtere Optionen der Urlaubsgestaltung ein. Vor allem bei solch einem Programm. Ok, Mozart war auch mit von der Partie – aber was ist heutzutage schon perfekt.

Das Wetter und der Cappuccino im Café schräg gegenüber waren es jedenfalls ohne Frage, danach ging es in die Tourie-Gewusel-freie Kühle des barocken Gotteshauses. Hier durften sich dann auch empfindliche Naturen umsorgt fühlen, schließlich warb man auf Plakat und Handzettel ausdrücklich damit, daß man auf „heated“ Plätzen der Gemütlichkeit freien Lauf lassen könne – Ob allerdings mit der vor allem klanglichen Kaminfeuersimulation durch mehrere um das Gestühl platzierte Heizstrahler die akustisch beste Lösung gefunden wurde, bleibt wahlweise dem sicher erwärmten Herz des Besuchers oder eben seinen beknisterten Ohren überlassen.

Aber genug der Unkerei, schließlich bot man ein mehr als hörenswertes Konzert auf hohem technischen Niveau mit einer sehr intelligenten, weil dramaturgisch perfekt ausgefeilten Programmabfolge. Natürlich kam die eher kleine Barockorgel bei den Kollegen Boëllmann und Franck, oder auch bei den Steigerungen in der Bach-Passacaglia an ihre Grenzen, aber das lebendige Balance-Spiel dynamischer Kontraste zog sich dennoch als eindringlicher roter Faden durch eine inspirierte Stunde Orgelmusik vom Feinsten. Zudem die Wahl der Werke eben nicht nach billiger Überwältigungstaktik erfolgte, sondern eindeutig die Stärken des zierlichen Instruments berücksichtigte, mehr noch, sie optimal zur Geltung brachte.

Sei es im dritten Satz der Boëllmann-Suite, in den ruhigen Passagen der Mozart-Fantasie oder den sich per se äußerst zurücknehmenden Brahms-Vorspielen – Der Herr an den Tasten fand immer wieder Gelegenheit, in zartem Singen und Klingen den feinen, edlen Charakter der Orgel ins beste Licht zu rücken. Teilweise fühlte man sich an Fernorchester, dann wieder an silbrig rauschendes Wasser erinnert. Und nicht, daß ich mißverstanden werde, da kam schon auch Einiges an Gewalt aus dem beschaulichen Kasten, gerade etwa in der Passacaglia, wo der Bassbereich verblüffte oder im triumphierenden Franck-Finale, das als nicht enden wollende Klimax regelrecht zelebriert wurde. Als Zugabe improvisierte der Organist noch eine Weile munter vor sich hin (auf Nachfrage über kein bestimmtes Thema, Zitat: „Jedenfalls nicht, daß ich wüßte ...“) und brachte das Konzert im Cluster-Fortissimo zu einem effektvollen Abschluß mit Augenzwinkern.

Fazit: Aushänge über Orgelkonzerte finden sich in Prag an fast jeder Kirchentür, Handzettel werden offensiv treppauf treppab auf den Straßen verteilt. Ist das Touristenfängerei? Aber sicher! Muß man um sein musikalisches Ethos fürchten, einer solchen auf den Leim gegangen zu sein? In der Neruda-Gasse sicher nicht!

23. März 2014

Hamburger Symphoniker – Jeffrey Tate.
Laeiszhalle Hamburg.

19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 7, Platz 14



Witold Lutosławski – Musique Funèbre

(Pause)

Johannes Brahms – Ein Deutsches Requiem (Christian Gerhaher (Bariton), Chen Reiss (Sopran), Philharmonia Chorus London)



Nach der noch in bester Erinnerung verweilenden Darbietung seiner vierten Sinfonie (Link) brachten die Hamburger Symphoniker unter ihrem Chefdirigenten heute also ein weiteres Werk Lutosławskis, gewissermaßen als kleinen Trauer-Bruder des großen Brahms-Requiems, zur vorpausigen (Erst-)Begegnung. Mit der Klammer möchte ich mal keck von mir auf andere schließen: Ich nehme nämlich an, daß die Musique Funèbre nicht nur für mich eine Neuentdeckung darstellte – die sich, wie seinerzeit die Sinfonie, mit Herrn Tate und seinem Orchester der besten Vermittler versichert sein durfte, die überhaupt zu denken sind.

Was ich mit diesen gedrechselten Einleitungsworten zum Ausdruck bringen möchte: Es ist schön, immer wieder „alte“ Neuheiten bzw. neue Altheiten für sich auszugraben, noch schöner wird dies Unterfangen allerdings mit den richtigen Schatzgräbern an der Seite. Und die Hamburger Symphoniker haben diesen faszinierenden Transfer mittlerweile perfektioniert. Von den ersten zarten Klängen des Solocello bis zu seiner verhauchend abschließenden Wiederkehr entsponn sich das Werk als Demonstration eines Streicherklanges, der an Intensität kaum zu übertreffen ist. Wobei sich wieder einmal zeigt, das Intensität keinesfalls an schiere Lautstärke gekoppelt sein muß. Anders: Mit solch einem Streicherklang – ob leise oder laut – läßt sich eine Welt aus den Angeln heben, und sei es auch nur für die Dauer einer Trauermusik.

Wenn mich heute jemand fragte, wie ich mir den perfekten Violinenklang vorstelle, wäre die Antwort: ziemlich genau so, wie ich ihn heute vernommen habe. Warm, voll, seidig, aber eben auch kräftig und schneidend. Dieses bittersüße Paradox, daß bei Fortissimo-Ausbrüchen ein zum Niederknien schöner Schall gleichzeitig unerbittlich bis ins Mark trifft. Reinhauen muß es! Profund gebettet von sonor grollenden Bässen, veredelt von samtig näselnden Celli, konnte heute streichertechnisch einfach nichts schief gehen, um es mal gelinde auszudrücken.

Nach der Einleitung und heftigen Steigerung folgt im Lutosławski ein Abschnitt, der von den Violinen dominiert wird, sehr gesanglich, hat mich etwas an Hindemith erinnert, und auch da dachte ich mir: ja, so und nicht anders, klar und farbig, nie matt oder leer – ebenso für Hindemith geeignet. Na, die Mathis-Sinfonie oder Die Harmonie der Welt, das wär doch auch was ... Aber ich komme wieder mal vom Thema ab. Lutosławski ist das Stichwort. Unabhängig vom grandiosen Vortrag unter einfühlsamer Leitung konnte das Werk auf Anhieb überzeugen. Zwölftonreihe hin oder her, das ist einfach beseelte Musik.

Gleiches gilt sicher auch für das Brahms-Requiem, obwohl ich gestehen muß, daß ich nie so ganz damit warm geworden bin. Ich liebe den ruhig fließenden Puls des Beginns, den zweiten Satz mit der ganzen Härte seines unentrinnbaren Ernstes einerseits („Denn alles Fleisch ...“) und dem genialen Übergang zum scheu verklärten „Das Gras ist vergangen ...“ mit seiner entrückt schönen Begleitung (Holzbläser bzw. Streicher) andererseits, und auch in den folgenden Sätzen gibt es immer wieder Passagen und Momente, die mich berühren, mitreißen, erschüttern. Dennoch überwiegt über die gesamte Dauer des Werkes gesehen eher der Respekt vor der vielschichtigen Faktur als ein bedingungsloses Eintauchen in diese musikalische Sprache, deren kontrollierter Furor und akademischer Gestus mir insgesamt doch fremd bleibt.

Daran konnte auch die vorzügliche Leistung der Mitwirkenden nur bedingt etwas ändern. Und trotzdem habe ich viel Anregendes auch aus diesem Teil des Konzertes mitgenommen. Anfangs hatte ich leichte Probleme, mich in das doch recht langsame Grundtempo Tates hineinzufinden, aber spätestens beim ersten markanten Tempowechsel wurde der ganze Schwung unmittelbar spürbar, den ein plötzliches Forcieren auf ruhigem Grund freizusetzen vermag. Diesen Effekt des Sogwirkung erzielenden Anziehens im Tempo, konnte man in der Folge noch mehrfach genießen, was dem Werk, bzw. seiner strukturellen Fasslichkeit sehr gut tat. Darüber hinaus blieb Tate mit den eher breiten Tempi seiner Linie treu, noch die feinsten Feinheiten aus einem Werk herauszuholen. Nichts wird einfach nur abgespult, kein wichtiges Detail läuft Gefahr, nicht bedacht und somit überhört zu werden – es ist einfach eine Wonne, Herrn Tate beim Gestalten in Echtzeit zu erleben. Aber darauf war ich ja bereits mehrfach an anderer Stelle genauer eingegangen, z.B.: (Link).

Nicht minder als die – hier wieder einmal erstklassige – Orchesterleistung gebührt in einem Requiem natürlich dem Chor und den Solisten besondere Beachtung. Auch wenn ich kein wirklicher Chorexperte bin, hat mich die Londoner Truppe absolut überzeugt, genauer gesagt auch hier wiederum die durch Tate gesteuerte Abstimmung zwischen Feinheiten und Schmackes-Momenten. Und dann bliebe da noch die luxuriöse solistische Besetzung mit Frau Reiss und Herrn Gerhaher. Während ich der israelischen Sopranistin bereits einige Male im Hamburger Konzertleben begegnet bin, sei es zusammen mit den Hamburger Symphonikern oder bei Liederabenden (Link und Link), kannte ich Herrn Gerharhers wunderbare Stimme bislang nur von Aufnahmen. Umso beeindruckender zu erleben, welch stimmliche und physische Präsenz von diesem Sänger in Natura ausgeht.

Eine schöne, wohltimbrierte Stimme ist das Eine – spannend wird es aber immer dann, wenn eben mehr hinzukommt. Ohrenzeuge zu werden, wie bei der Anklage der gedankenlosen Menschen der Sänger wahrhaftig zum Prediger wird, der jedes Wort mit Feuereifer an seine Gemeinde richtet, oder mit welcher Energie Gerhaher das Erscheinen der Posaune kom... nein, eben nicht bloß kommentiert, sondern viel mehr. Mit Inbrunst – leider fast schon ein abgegriffener Begriff – verkündet. Es ist immer das Gleiche. Die Noten allein sagen es nicht, es braucht einen Sänger der nicht nur singt, sondern – weniger pathetisch ausgedrückt – Inhalte glaubhaft vermitteln kann.

Vielleicht könnte sich Frau Reiss – ohne Zweifel im Zenit ihrer technischen und klanglichen Mittel stehend – in Bezug auf diese schwer zu beschreibende Übertragung des (scheinbar?) Persönlichen, das Herz Bloßlegenden, noch eine kleine Scheibe bei ihrem Kollegen abschneiden. Aber ich möchte heute nicht das Haar in der Suppe suchen. Vielmehr möchte ich mich bei allen Beteiligten für dieses außergewöhnliche Konzert bedanken und verbleibe in freudiger Erwartung weiterer Sternstunden durch die Hamburger Symphoniker.

21. Februar 2014

Forum neue Musik – Peter Michael Hamel.
Christianskirche Hamburg.

20:00 Uhr, freie Platzwahl



Peter Michael Hamel – Bardo für Orgel (Peter Michael Hamel)


Öfter mal was Neues. Heute ging es in die Christianskirche am Klopstockplatz in Altona, um Peter Michael Hamel beim Vortrag eigener Werke zu lauschen. Ehrlicherweise muß ich gestehen, daß mir dieser Zeitgenosse gar kein Begriff war – umso schöner, wenn man dann von informierter Seite den entsprechenden Tipp bekommt.

Wobei es Geheimtipp vielleicht sogar besser trifft, angesichts der überschaubaren Schar Interessierter, die sich im Gestühl des Kirchenschiffs eingefunden hatte. Klein aber fein, so könnte das Motto dieser und wahrscheinlich auch der übrigen Veranstaltungen der Reihe Forum neue Musik lauten, leibliches Wohl in Form von Häppchen bis Wein inbegriffen. Ein sehr sympathischer, fast familiärer Rahmen – die Basis für entspannte wie konzentrierte Rezeption.

Denn musikalisch zu entdecken gab es innerhalb der folgenden Stunde Vielschichtiges, eine interessante Mischung aus Vertrautem und Fremdem. Den ersten Teil bestritt Hamel von der Orgel aus, das Werk eine Abfolge sehr heterogener Segmente: Atonale Cluster, gefolgt von choralartigen, strahlenden Akkorden, teilweise dann wieder eingetrübt durch Clusterbildung. Und dazu alternierend immer wieder Passagen absolut tonaler, fast schon kindlich naiv anmutender Melodik. Ein unzweifelhaft positives Idiom verströmend, das wiederum durch weitere Cluster im Fortissimo jeweils seinen Endpunkt findet, ohne daß eine Entwicklung im klassischen, gar programmatischen Sinne ablesbar wäre. Es scheint dem Komponisten eher um verschiedene stimmungsmäßige Aggregatzustände, dabei auch um das Prinzip der Wiederholung zu gehen, als um den üblichen Spannungsbogen.

Für die zweite Hälfte des Konzertes tauschte Hamel das Manual der Orgel gegen die Tasten eines Flügels ein, der vor dem Altarbereich bereitstand. Zusätzliche, über Lautsprecher eingespielte Klänge – eine geloopte Orgelpassage markierte den Übergang und bildete das repetitive Fundament für die kommenden Entwicklungen – beschwörten in Kombination mit dem wortlosen, an- und abschwellenden Gesang des Komponisten zusehends eine Atmosphäre meditativen Charakters herauf. Zumal auch hier das Konzept alternierender, sich wiederholender Abschnitte offenkundig wurde.

Alles in allem eine Musik, wie sie vielleicht nicht unbedingt meinen ausgemachten Vorlieben entspricht, die aber gerade aus ihrer untypischen Faktur den Reiz der Begegnung erwachsen läßt. Insbesondere der Faktor Zeit bzw. die veränderte Wahrnehmung ihres Verstreichens angesichts des weitgehenden Verzichts auf rhythmische Gliederung traten in meiner Wahrnehmung in den Mittelpunkt. Es geht in dieser Musik ohrenscheinlich weniger um harmonische oder melodische Kühnheiten, sondern um besagte Stimmungen.

Fazit: Wird der Begriff „interessant“ im Allgemeinen doch eher als hilflose Floskel bemüht, um eine ehrliche Meinungsäußerung zu umgehen, komme ich heute nicht umhin, das Gehörte genau so zu betiteln – ein interessantes, weil ungewöhnliches Konzert, das mich persönlich vor allem anregte, über vertraute Hörgewohnheiten nachzudenken. Somit: Eine mehr als gut angelegte Stunde.

2. Februar 2014

Refuse the Hour – William Kentridge.
Deutsches Schauspielhaus Hamburg.

19:00 Uhr, 1. Rang Mitte, Reihe 3, Platz 16



Ein Mann nähert sich prüfenden Blickes einer Staffelei, wischt eine kleine Stelle in der Zeichnung aus, um eben dort aufs Neue eine kaum unterscheidbare Variation des Weggewischten aufs Papier zu bringen. Er tritt einige Schritte zurück, neben eine Kamera, deren Fernauslöser er betätigt. Die Prozedur wiederholt sich unzählige Male. Mit dieser Szene bin ich vor zehn, fünfzehn Jahren erstmals mit der Arbeit von William Kentridge in Berührung gekommen. Es war eine Dokumentation auf arte, ein Portrait des südafrikanischen Künstlers. Seine Animationsfilme wie „Mine“ oder „Felix in Exile“ haben mich damals auf Anhieb fasziniert und bewegt, so daß mich seither die Nennung seines Namens in Fernseh- oder Ausstellungsprogrammen immer wieder anspornte, mich mit seinem Werk auseinanderzusetzen – sei es in der Hamburger Kunsthalle oder bei einem Ausflug zur Documenta 2012.

Jener Abstecher nach Kassel zeigte mir dann mit seiner Installation „The Refusal of Time“ besonders deutlich, wie stark in Kentridges Arbeit die Wechselwirkung zwischen dem Visuellen und Musik doch ist – eigentlich ein absolut naheliegendes Faktum, hält man sich einmal vor Augen, wie viel auch in den Animationsfilmen die jeweils unterlegte Musik zur Atmosphäre beiträgt. Hier in einem alten Bahnhofsgebäude war man jedoch selbst Teil eines klingenden Raumes, umringt von den projizierten Animationen, beschallt von Sprache, Musik und Geräuschen, insbesondere dem stetigen Ticken gigantischer Metronome. Die Einbindung ähnlicher Apparaturen sollte mir als ein wesentliches Element nun auch in der Kurzoper „Refuse the Hour“ wiederbegegnen.

Überhaupt gab es eine Fülle von Anklängen an Vertrautes aus dem Œuvre des Künstlers, seine Collagen, seine Kohlezeichnungen, die Scherenschnitte, verschiedene Formen von Animationen, aber auch mir im Zusammenhang mit Kentridge kaum geläufiger Elemente. Beziehungsweise ist das auch nicht ganz richtig, eher Elemente, die in seinen Filmen durchaus auftauchen, hier jedoch eben als Bausteine einer Bühnenaufführung Verwendung fanden – Tanz, Gesang, Musik. Und nicht zu vergessen natürlich noch ein weiteres zentrales „Element“ – Kentridge selbst als Protagonist. Oder besser: Teil des Ensembles, denn er fungiert eher als rahmender, strukturierender Erzähler denn als Künstlersonne, um die seine Kollegengestirne zu Kreisen haben. Ein sympathischer, geistreicher, humorvoller, nachdenklicher älterer Herr, der seinen Gedanken nachgeht. Gedanken über die Zeit, um genau zu sein.

Daß ich zuvor den im Vorwege durch Kentridge am Schauspielhaus abgehaltenen „Drawing Lessons“ beigewohnt hatte, erwies sich für die Rezeption der Oper als durchaus hilfreich, wobei die Teilnahme auch nicht Vorbedingung für deren Verständnis war. Man konnte nur bereits einen guten Einblick in die Art des Künstlers gewinnen, in der er sich den Themen widmet, die ihn umtreiben. Kurze philosophische Abhandlungen wechseln mit Betrachtungen zur Zeitgeschichte, in denen immer wieder die historische Entwicklung seiner Heimat Südafrikas, ja des gesamten afrikanischen Kontinents im Widerstreit der Einflüsse des Kolonialismus und ureigener Tradition, zur Sprache kommt. Themen, die auch in das Bühnenwerk eingeflossen sind. Der Stellenwert der Zeit bildet gewissermaßen den Rahmen für all diese Gedankenspiele.

Die Umsetzung erfolgt als lose Aneinanderreihung kurzer, von Kentridge vorgetragenen Essays, die von Tanz, Musik und Videoeinspielungen verbunden oder auch untermalt werden. Dabei weiß das Stück gerade in der Verschiedenheit der z.T. recht ungewöhnlichen Nummern bzw. Sätze zu überzeugen, die eine Fülle an kreativen Eindrücken für Auge und Ohr bereithalten. Allein schon die Mannigfaltigkeit der eingesetzten Mittel der Darsteller ist beeindruckend. Rezitation (vorwärts wie rückwärts – ein beliebtes Stilmittel Kentridges auch in seinen Animationen), Sprechgesang, Liedgesang, Traditionals, Operngesang, Ausdruckstanz, Schauspiel, usw. dazu ein sehr variabler Einsatz der Musiker vom Solisten bis zum Ensemble.

All diese Einzelteile ergaben in der Summe tatsächlich ein abendfüllendes, poetisches Ganzes, das die Zuschauer auch ohne Handlung im eigentlichen Sinne in seinen Bann zog. Kentridges Gedanken zur Zeit ließen selbige für mich zumindest im Fluge vergehen. Ich bin froh, diesen außergewöhnlichen Künstler einmal direkt erlebt haben zu dürfen und sein Werk um eine weitere nahe gehende Facette erweitert weiß.


William Kentridge – Refuse the Hour
Konzept und Libretto – William Kentridge
Musik und Orchester Leitung – Philip Miller
Choreografie – Dada Masilo
Videokonzept – William Kentridge, Catherine Meyburgh
Bühnenkonzept – Sabine Theunissen
Kostüme – Greta Goiris
Schauspieler Regie – Luc de Wit
Konzeption der Maschinen – Christoff Wolmarans, Louis Oliver, Jonas Lundquist
Licht – Urs Schoenebaum
Mitarbeit Licht – John Torres, John Carroll
Sounddesign – Gavan Eckhart
Video Regie – Kim Gunning
Dramaturgie – Peter Galison

Mit William Kentridge
Dada Masilo – Tänzerin
Jacobi de Villiers – Mezzosopran
Joanna Dudley – Sängerin
Ann Masina – Sängerin
Thato Motlhaolwa – Schauspieler
Adam Howard – Musikalische Leitung, Orchester Leitung, Trompete, Flügelhorn
Tlale Makhene – Percussion
Waldo Alexander – Violine
Dan Selsick – Posaune
Vincenzo Pasquariello – Klavier
Thobeka Thukane – Tuba

30. Januar 2014

Hamburger Symphoniker – Rafael Payare.
Laeiszhalle Hamburg.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 15



Johann Sebastian Bach – Sarabande (Partita Nr. 2) (Guy Braunstein)

Ludwig van Beethoven – Leonoren-Ouvertüre Nr. 3
Johannes Brahms – Doppelkonzert für Violine und Violoncello (Guy Braunstein, Alisa Weilerstein)
Zugabe: Johan Halvorsen – Passacaglia für Violine und Viola über ein Thema von Händel

(Pause)

Johannes Brahms – Sinfonie Nr. 1



Ein Konzert direkt mit einer Zugabe zu beginnen, ist doch eine eher ungewöhnliche Herangehensweise, in diesem Falle jedoch zudem eine mit traurigem Hintergrund: Guy Braunstein gedachte mit der Sarabande seinem kürzlich verstorbenen Freund und Mentor Claudio Abbado – und verbat sich im Anschluß folgerichtig den verdienten Applaus für seinen innigen Vortrag.

Die Leonoren-Ouvertüre förderte danach zwei Erkenntnisse zu Tage: Die Hamburger Symphoniker haben sich – auch unter „fremdem“ Dirigat – als Spitzenorchester etabliert, das Vergleiche mit hiesigen und anderen Institutionen nicht nur nicht zu scheuen braucht, nein vielmehr Kraft seines eigenen Charakters zum Besuch reizt. Warum ich mir die Hamburger Symphoniker anhöre? Weil ich die Hamburger Symphoniker hören möchte. Dieses Orchester. Diese Klangausprägung in den einzelnen Stimmen, angefangen bei den samtigen, warmen, dabei nie stumpfen Streichern bis hin zum krönenden Blech. Ein runder Klang, je nach Handhabung transparent oder satt, dabei stets präsent, farbig, und eines nie: langweilig oder nichtssagend. Warum man die Hamburger Symphoniker hören sollte? Weil es einfach Freude macht, dieses Orchester zu hören. Auch – und damit komme ich zur zweiten Erkenntnis – wenn mal jemand am Pult steht, dessen Interpretation ich vielleicht nicht zur Gänze annehmen mag.

Dabei möchte ich Herrn Payare weniger dafür kritisieren, was er macht – das hat in meinen Ohren alles schon Hand und Fuß – sondern mehr dem nachspüren, was er eben nicht macht. Mir persönlich fehlte die letzte Konsequenz im Umgang mit Kontrasten, das volle Ausspielen der rhythmischen Aspekte, die, wie so oft bei Beethoven, aber auch in der Brahms-Sinfonie einen regelrechten Sog struktureller Unentrinnbarkeit entfesseln können. Nicht, daß ein falscher Eindruck entsteht: Man bot durchaus eine energische, leidenschaftliche Lesart, nach meinem Empfinden hätte ich diese Leidenschaft nur manches mal anders, vielleicht schneidiger kanalisiert gewußt.

Kanalisierte, auf den Punkt gebrachte Leidenschaft ist dann auch der Grund, warum ich das Doppelkonzert von dieser Kritik ausnehmen möchte. Beziehungsweise lieferten Herr Braunstein und Frau Weilerstein mit ihrem atemberaubenden Vortrag gleich doppelten Grund, jegliche Analysetätigkeit einzustellen und sich voll und ganz dem von ihnen entfesselten Klangrausch hinzugeben. Solch eine symbiotische Demonstration an Virtuosität und Intimität habe ich selten zuvor erlebt. Dazu Frau Weilerstein mit einem Celloklang, wie ich ihn mir in einer Enzyklopädie über Instrumente exemplarisch für dieses wunderbare Werkzeug denken würde. Und im Zusammenspiel mit Herrn Braunstein mit geradezu hypnotischer Wirkung. Die aberwitzige Zugabe dürfte dann wahrlich dem letzten Zweifler im Saal die Lackschuhe ausgezogen haben – ich zumindest war baff.

10. Januar 2014

NDR Sinfonieorchester – Juraj Valčuha.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 9, Platz 9



Zoltán Kodály – Tänze aus Galánta
Franz Liszt – Klavierkonzert Nr. 2 (Jean-Yves Thibaudet)
Zugabe: Franz Liszt – Consolation Nr. 3

(Pause)

Antonín Dvořák– Der Wassermann
Richard Strauss – Der Rosenkavalier Konzertsuite


Wäre ich ein Anhänger der Tradition, dem neuen Jahr mit persönlichen Vorsätzen zu begegnen, würde ich meine Liste nach diesem Abend vielleicht um den Eintrag ergänzen: „Möglichst nur noch Konzerte wie dieses hier besuchen“. Nun bin ich weder ein Freund von an den Jahresstart gebundenen Vorsätzen noch der Illusion verhaftet, man könne den „Erfolg“ seiner Konzert- und Opernbesuche planen – doch bin ich nicht minder erfreut über den fulminanten Start in mein musikalisches 2014.

Ein wunderbares Programm aus bekannten Werklieblingen und auf Anhieb zündenden Neuentdeckungen, dargeboten von einem NDR Sinfonieorchester in Bestform, unterstützt von einem Solisten der Extraklasse, aufs Fesselndste animiert durch ein Dirigat, das wahrhaft aufhorchen ließ. Aber der Reihe nach.

Gleich mit dem Kodály war klar, daß hier und heute nichts schiefgehen würde. Klangpracht, Spielfreude und insbesondere die fein herausgearbeiteten Dynamik- und Tempowechsel der verschiedenen Tänze bzw. deren Abschnitte vermittelten vom Start weg größte Souveränität – eben jene Kombination aus Leichtigkeit und Konzentration, die den Spannungsbogen gleichermaßen straff und geschmeidig hält.

Herr Valčuha scheint seinen Teil dazu beigetragen zu haben. Guter Mann. Den sollte man schleunigst wieder einladen. Ob Kodály, Liszt, Dvořák oder Strauss – alles gelang wunderbar transparent und differenziert ohne es bei Bedarf an Schmiss mangeln zu lassen. Ein teilweise sehr organischer, individueller Umgang mit dem Tempo fiel mir besonders positiv auf. Ich würde es als sparsam dosiertes Rubato bezeichnen, das den Fluß nie störte, sondern im Gegenteil bestimmten Passagen besonderes Augenmerk und mehr Wirkung verlieh.

Vor allem in der Rosenkavalier-Suite trat dann Valčuhas Talent zutage, im doch relativ kleinteiligen Potpourri-Wechselbad die jeweilige Stimmung der verschiedenen Szenen aus der Oper – von silbriger Verzauberung bis Walzer-Überschwang – binnen kürzester Zeit aufleben zu lassen. Ich müßte mich schon sehr täuschen, wenn jemand, der solch ein inniges Terzett mit rein orchestralen Mitteln auszuspinnen in der Lage ist, Ähnliches nicht auch in Gänze mit Ensemble vom Orchestergraben aus zu bewerkstelligen vermöchte.

Ein weiterer Vater des Erfolges findet sich in Jean-Yves Thibaudet, der im Liszt-Konzert mit atemberaubenden Girlanden und auftrumpfendem Verve einerseits sowie entrückt zarter Tastenbehandlung andererseits eine vollendete Interpretation krönte. Glücklicherweise gab er dann mit der Consolation Nr. 3 eine Zugabe, die gerade für seinen butterweichen Anschlag wie gemacht schien.

Der Dvořáksche Wassermann war mir bis dato noch nicht begegnet, die sinfonische Dichtung hat jedoch auf Anhieb – unter anderem durch das wiederkehrende prägnante Hauptmotiv – nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen. Auch ohne die zugrunde liegende Geschichte zu kennen, konnte man Dank des farbig-plastischen Vortrages einer Szene in Musik beiwohnen und deren Handlungsverlauf einem illustrativen Stimmungsbarometer gleich imaginieren.

Fazit: Eine durch und durch erstklassige Angelegenheit.