4. Dezember 2016

Hamburger Symphoniker – Jeffrey Tate.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, 1. Rang links, Loge 5, Reihe 1, Platz 2


Anton Brucker – Sinfonie Nr. 8


Auffallend langsame Tempi, in denen die ganze Erhabenheit und Wucht der Komposition bis ins letzte Detail herausgearbeitet wird, ohne dabei auch nur für eine Sekunde die strukturelle Integrität des großen Ganzen zu gefährden – so in etwa möchte ich Tates Bruckner zusammenfassen. Das Ergebnis ist – wieder mal – überwältigend. Das Adagio habe ich live wohl noch nie in dieser Intensität erlebt. Aber das hätte ich mir nach der traumhaften Siebten im letzten Jahr (Link) eigentlich denken können. Bleibt nur, die Regelmäßigkeit, mit der die Hamburger Symphoniker – oder wie es neuerdings heißt, Symphoniker Hamburg – unter Tate für unvergessliche Abende sorgen, nicht als Selbstverständlichkeit zu verstehen. Auf dass ich noch lange in Freude und Dankbarkeit diese Hamburger Traumehe begleiten darf.

29. November 2016

Elbphilharmonie Testkonzert – Tingvall Trio.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Ebene 12, Bereich D, Reihe 6, Platz 1



Tingvall Trio (Martin Tingvall – Piano, Omar Rodriguez Calvo – Kontrabass, Jürgen Spiegel – Schlagzeug)


Lautsplitter Extrablatt – Stiftung Elbphilharmonietest oder: Von den Vorzügen eines Konzert-Versuchskaninchens. Unter den wachenden Augen einer Armada in Neonwesten gehüllter, Walkie-Talkie- und Klemmbrett-bewaffneter Versuchsleiter strömt das von freudiger Erwartung leicht sedierte Publikum die Stufen gen großen Saal empor, nachdem es zuvor alle Ecken und Winkel der Plaza-Ebene ausgiebigst beschnuppert hat.

Wichtige erste Erkenntnisse: Die Dame an der Garderobe ist nett, die ausgehändigten Marken schwarz und rund. Es gibt (noch!) keine Häppchen, dafür ausgesprochen leckere Brezeln. Verdursten muss niemand, man stellt sich und Glas an einen der vielen Stehtische, die filigran wirken, aber von robuster Natur zu sein scheinen. Grauer Marmor (?) ziert die Oberfläche – schmuck. Weniger edel geht es auf den Orten höchster Dringlichkeit zu. Neben einer Fülle unbestreitbarer Superlative wartet die Elbphilharmonie mit einem eher unerwarteten Maximalwert auf: den hässlichsten Toiletten Hamburgs. Es wird mir ein Rätsel bleiben, wie sich diese Kombination eines glattpolierten Waschbeton-Ambiente mit Farbtupfern aus Grau und Gelb gegen gleichgültig welchen anderen Entwurf durchgesetzt hat.

Dann doch lieber wieder schnell zurück in die Welt der Neonlicht-durchfluteten, verwinkelten Foyers. Viel helles Holz und weiße Wände. Edel, dabei ganz und gar nicht protzig. Keine Überwältigungsarchitektur. Die dann schon eher im Saal selbst – dessen Wände wiederum alles andere als weiß sind, wie es ja der im Volksmund kolportierte Name suggeriert. Weder Weiß, noch Haut, sondern eine Art allgegenwärtige Verschalung in Muschelkalk-Optik, maritime Assoziationen weckend, auch der Gedanke an Fossilien liegt nahe. Wobei heute nicht wirklich allgegenwärtig, da auf allen Ebenen von glatten Paneelen unterbrochen, Leinwänden für Diavorträgen gleich, die aus dem Boden gefahren, das Akustik-Setting für ein verstärktes Konzert formen sollen. Denn darum geht es heute in erster Linie – überprüfen, wie sich der große Saal bei nicht-klassischen Konzerten schlägt.

Auf grauem, straff gepolstertem, jedoch nicht unbequemem Gestühl harrt man der kommenden Klänge. Es wird kompakt gesessen, die Bein- und Ellenbogenfreiheit hält sich in Grenzen – ein Indiz, daß es hier tatsächlich um akustische Eindrücke und nicht um Fläztauglichkeit geht. Eine kleine Schar verbringt das Konzert gar im Stehen, genauer im Gehen – auf allen Ebenen schleichen fast schon mönchisch-meditativ Mitarbeiter der Soundtechnik umher, offenbar um als menschliche Messinstrumente die Ergebnisse der Bemühungen am Mischpult zu beurteilen und dorthin weiterzugeben. Von meinem Platz aus klingt es – für eine verstärkte Angelegenheit – überraschend natürlich. Die drei Musiker sind trotz Lautsprechertraube an der Decke „realistisch“ ort- und vernehmbar. Gut, das Schlagzeug ist anfangs deutlich und später für meinen Geschmack immer noch eine Spur zu präsent, der Flügel kommt mitunter ein wenig dumpf rüber, aber insgesamt ein sehr ansprechendes Klangbild. Besondere Aufmerksamkeit verdient allerdings ein Solostück des Pianisten, da es unverstärkt gegeben wird. Natürlich mit der Einschränkung der auf Lautsprecherkonzert getrimmten Saalakustik konnte sich das mehr als hören lassen. Frau Uchida im Januar, ich bin gespannt.

In der Pause gilt es, weitere Details zu erhaschen. Allgemeine Begeisterungsbekundungen allerorten. Alles ist großartig. Die Architektur, der Blick auf den Hafen. Besonders von einem der heute recht zugigen Balkone, durch jene offenen Fensterelemente, deren Formgebung man sich mal musikalisch (Stimmgabel!), mal hanseatisch (Walknochen!) erklärt. Die Leute freuen sich, strahlende Gesichter bevölkern die Foyers. So langsam könnte ich auch aufhören mit dem Protokollieren – schließlich verfüge ich gar nicht über ein Klemmbrett. Also wieder zurück in den Saal. Ohnehin auch optisch mit Abstand der spannendste Bereich des Baus. Hier gefällt es mir, ja, ich könnte mich durchaus mit diesem neuen Refugium anfreunden. Schon mal kurz auf meinem Aboplatz Probe sitzen. Müsste was werden.

Das Konzert an sich hat mir übrigens auch zugesagt, obwohl das nicht wirklich meine Musik ist. Live kann ich mir das gut anhören, dieser teils improvisierte Charakter überträgt sich so optimal – auf der heimischen Anlage müsste ich mir das allerdings nicht unbedingt geben. Jazz-Pop / Pop-Jazz? Egal, davon hab ich eh keine Ahnung. Waren aber definitiv ansprechende, Banausen-taugliche Stücke dabei. Herr Tingvall scheint zudem ein ziemlich launiger Vogel zu sein, davon zeugen zumindest seine trocken-lakonischen Zwischenmoderationen.

Fazit: Die Wohnungsbesichtigung war mehr als vielversprechend, jetzt kann der Einzug im Januar vollzogen werden.

20. November 2016

Hänsel und Gretel – Axel Kober.
Oper Düsseldorf.

18:30 Uhr, 1. Rang Seite links, Reihe 1, Platz 196



Das ist es also, das Stück, das alladventlich Eltern und Großeltern dazu motiviert, die lieben Kleinen zu einer ersten Werksführung ins Kraftwerk der Gefühle mitzunehmen. Grimm ging und geht immer und die Hex ist, anders als es das Happy End suggeriert, zumindest in der Bearbeitung durch Humperdinck und seine Schwester nicht totzukriegen. Eine Oper für Kinder und Kindgebliebene – ein schöner Gedanke. Dass die spätromantisch unendlich mäandernde Musik, von den paar putzigen Liedchen einmal abgesehen, insgesamt gesehen wenig kindgerecht fasslich ist – geschenkt, solange sich die dünne Erzählung mit allerlei bunten Kostümen und bühnenbildlichem Zuckerwerk angefüttert zeigt.

Aber reicht das heutzutage? Ausnahmsweise eine ernst gemeinte Frage. Spielen Märchen in bundesdeutschen Kinderstuben noch eine Rolle? Ich hoffe es, aber ich weiß es nicht. Von daher kann ich auch nicht beurteilen, ob sich heute Kinder mit handgemachtem Hokuspokus hinterm Lebkuchenofen hervorlocken lassen, während Harry Potter und Co. ihre Zaubersprüche in 3D über die Spezialeffekt-gespickte Leinwand jagen. Die wenigen im Nachgang zur Garderobe aufgeschnappten Reaktionen schienen mir allerdings durchaus positiv. Oder der Düsseldorfer Nachwuchs ist einfach ausgesprochen diplomatisch erzogen.

Keinen Grund zu Beschönigungen jedweder Art gab die Aufführung an sich. Die Inszenierung mag einige Jahrzehnte auf dem Buckel haben, entfaltet jedoch in ihrer schlicht-liebevollen Plakativität mit einfachsten Mitteln beachtlichen Zauber. Ein Einheits-Bühnenbild mit gemaltem Wald-Prospekt im Hintergrund beherbergt Elternhaus, Lichtung und Hexenheim, die Lichtregie sorgt für die entsprechenden Tageszeiten- und damit einhergehenden Stimmungswechsel. Auch die Personenregie ist einfach, aber durchaus wirkungsvoll, etwa wenn sich beim feierlichen Abendsegen die Englein nach und nach einfinden, um die Geschwister im Schlaf zu beschützen. Nicht wie überirdische Erscheinungen, sondern eher als Spielkameraden aus Fleisch und Blut, die wieder zusammenkommen – es wird mitunter getrödelt, man freut und herzt sich, über allem schwebt eine Aura der Unschuld und Güte, wie sie auch die zutiefst berührende Musik verströmt.

Generell hält die Partitur neben diesem untrüglichen Höhepunkt und den eingängigen, volksliedhaften Passagen diverse farbige Stimmungsbilder bereit, beispielsweise die triumphartige Rückkehr des erfolgreichen Vaters, die düstere Hexenerzählung, die Illustration des dunklen Waldes, die vom Mondschein illuminierte Lichtung, in Kontrast dazu den sonnigen, taubenetzten Morgen (Ich höre die Meistersinger in Miniatur). Im Vergleich dazu hat mich die Umsetzung der Hexensphäre ein wenig enttäuscht. Mag sein, dass man in einer als Kinderoper deklarierten Arbeit nicht unbedingt mit bizarren Krassheiten eines Berliozschen Hexensabbats rechnen sollte, dennoch hätte ich mir die Ereignisse um das Pfefferkuchenhaus doch etwas dämonischer vertont gewünscht. So plätschert die bekannte Mär dahin und nimmt schließlich in einem Jubelfinale sein gutes Ende, das seinen Zweck erfüllt, jedoch in meinen Ohren weit von der inspirierten Qualität des Abendsegen-Finales entfernt ist.

Selbige wurde von Philharmonikern (ich wusste gar nicht, dass die Opernpartnerschaft auch den Tausch der Orchester zwischen den Spielstätten beinhaltet) und Generalmusikdirektor wunderbar umgesetzt – insbesondere der Streicherklang überzeugte. Das Sängerensemble komplettierte mit ausgewogenen Stimmen die musikalische Klasse des Abends. Was bleibt, ist ein wenig Verwunderung darüber, dass diese bemerkenswerte, aber eben auch bemerkenswert komplexe Musik in einer Kinderoper Verwendung fand – es erfordert schon einiges an Konzentration, den großen Bögen der Partitur zu folgen. Aber vielleicht liegt gerade hierin das Geheimnis des anhaltenden Erfolges dieses Stückes begründet: Eine märchenhafte Musik für Erwachsene mit einigen eingebauten Ohrwürmern für die Zöglinge in einem Märchen für große und kleine Kinder. Gar nicht mal so dumm, Herr Humperdinck!


Hänsel und Gretel – Engelbert Humperdinck
Musikalische Leitung – Axel Kober
Inszenierung – nach Andreas Meyer-Hanno
Szenische Neueinstudierung – Esther Mertel
Bühne – Gerda Zientek
Kostüme – Inge Diettrich
Kinderchor – Mathias Staut
Spielleitung – Esther Mertel

Hänsel – Maria Kataeva
Gretel – Heidi Elisabeth Meier
Gertrud – Romana Noack
Peter – Anooshah Golesorkhi
Hexe – Morenike Fadayomi
Sandmännchen – Maria Boiko
Taumännchen – Dimitra Kotidou

Statisterie der Deutschen Oper am Rhein
Düsseldorfer Mädchen- und Jungenchor
Duisburger Philharmoniker

7. November 2016

Deutsche Kammerphilharmonie Bremen –
Christian Tetzlaff. Laeiszhalle Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 8, Platz 15


Wolfgang Amadeus Mozart – Violinkonzert G-Dur KV 216 
Arnold Schönberg – Verklärte Nacht op. 4

(Pause)

Ludwig van Beethoven – Violinkonzert D-Dur op. 61
Zugabe: Jean Sibelius – Humoreske Nr. 5


Ich weiß nicht, ob Mitglieder der Hamburger Camerata das heutige Konzert besucht haben, aber die Überlegung kam mir unweigerlich in den Sinn. Verbunden mit der Frage, welche Gefühle und Gedanken sie bei diesem hypothetischen Blick auf die Bremer Kollegen beschlichen hätten. Bewunderung? Neid? Motivation? Gleichgültigkeit?

Für mich war es ziemlich erhellend bzw. wie man es nimmt auch erschütternd, die beiden Kammerorchester im Abstand von weniger als einer Woche zu erleben. Erschütterung wahlweise aufgrund der unfreiwilligen nachträglichen Abwertung der Camerata-Leistung in Erfahrungsnachbarschaft zur Konkurrenz südlich der Elbe, gleichsam angesichts der über jeden Vergleich erhabenen Perfektion der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen an sich.

Die Kombination mit Christian Tetzlaff sollte sich als ideal erweisen. Sicher, hier und da konnte ich mich im Mozart und später auch im Beethoven kurzer Eindrücke nicht erwehren, dass an dieser oder jener Stelle ein wirklich aktiv gestaltender Dirigent noch ein paar Prozente mehr aus diesem traumhaften Klangkörper geholt hätte – Luxusprobleme. Aber zum einen ist die Kammerphilharmonie nicht zuletzt durch Järvi bestens geeicht, zum anderen drückt Tetzlaff allein schon mit seiner Spielkultur dem Ganzen seinen Stempel auf.

Es geht dabei weniger um Intonation, denn Artikulation. Dynamische Feinheiten. Ein mitunter herber, nie süßlich-reiner, oft zupackender, immer involvierender Klang. Wie er das Thema des zweiten Mozart-Satzes in immer neuer Gestaltung bringt. Der unglaubliche Schwung, der den kurzen Tanzteil im dritten Satz prägt. Und schließlich jener zweite Satz des Beethoven-Konzertes – Musik gewordener Humanismus. Insgesamt betrachtet kommt der gute Ludwig heute knackig, aber immer elegant daher – mein persönliches „Problem“, dass es mich selbst bei solch exquisiten Lesarten nach der gewissen Prise Brutalität sehnt (vgl. Currentzis/Kopatchinskaja, Link).

Das Wunder des Abends ereignete sich jedoch ohnehin bereits mit Schönberg, genauer der wohl unüberbietbaren Aufführung seiner Verklärten Nacht. Was für ein Streicherklang! Samtene, homogene Perfektion, schneidend, feinst, solistisch wie im Tutti makellos. Für Ensembles wie dieses wurde das wunderschöne Stück geschrieben. Feinheiten, die die Sinne betören, dynamische Ausbrüche, die durch Mark und Bein gehen – Gott sei Dank bei sehr diszipliniertem Publikum. Manch geniale Stelle durfte ihr Werden und Vergehen in absoluter Stille erleben – himmlisch! Auch hier: Tetzlaff nicht clean, sondern facettenreich. Und nochmal zum Stück, bzw. dem für gewöhnlich ja als Alibikonzertschreck wahrgenommenen Komponisten: Was für Durchführungen! Welche Arbeit mit dem Material – und dabei Seele! Interessante Querverbindungen tun sich auf: (Vorweggenommener?) Schreker, Salome-Anklänge, später das Liebeserblühen im Walküre-Stil.

Man kann es schließlich auch so sehen: Die Tatsache, dass die Strecke zur Abkehr von der Tonalität mit Werken wie diesem gesäumt ist, versöhnt mich doch ungemein mit seiner hässlichen Endhaltestelle.

3. November 2016

Hamburger Camerata – Ralf Gothóni.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 9, Platz 7



Keiko Abe – The Wave / Five Percussions (Elbtonal Percussion)

Edward Elgar – Introduktion und Allegro op. 47
Aulis Sallinen – The Nocturnal Dances of Don Juan Quixote, op. 58
(Arto Noras – Violoncello)

(Pause)


Georges Bizet / Rodion Schtschedrin – Carmen-Suite für Streicher und Schlagzeug


Der Abend beginnt mit fremden Klängen, fernöstliches Schlagwerk, ein- und ausgangs wuchtig-archaisch, bisweilen auch leichtfüßig-virtuos hingetupft, mitunter das ein oder andere Hörgerät überfordernd, letztlich aber in seiner Wirkung unmittelbar erlebbarer physischer Kräfte wohl weit zugänglicher als manch aktuelle abendländische Lautmeldung. Trommeln, Stampfen, Klatschen, Brüllen – hier wird buchstäblich mit Händen und Füßen Rhythmus artikuliert. Als Muntermacher zum Start ins Konzert durchaus geeignet.

Elgars Introduktion und Allegro kann ich noch nicht wirklich einschätzen. Ein bißchen kompliziert, ein bißchen akademisch, aber auch nicht uninteressant, so der erste Eindruck. Ich bin geneigt, „ein bißchen spröde“ zu ergänzen, mir jedoch nicht ganz sicher, ob damit dem Komponisten oder der Klangkultur der Camerata Unrecht zuteil wird.

Die nächtliche Charakterstudie Sallinens bringt diesbezüglich auch kein Licht ins Dunkel, erweist sich jedoch als knorrig-putzige Collage verschiedener, in der Regel gegensätzlicher Tanz- und Gemütszustände, um dem doppelten Don ein Gesicht zu verleihen. Feuriges und Tapsiges, Unbeschwertes und Brütendes bilden in ihrer vereinbarten Unvereinbarkeit das Schwerenöter-Schwermüter-Amalgam. Am Ende auch ganz ohne literarische Namenspatrone ein Stück, das Spaß macht – Musik über Musik eben – Ravels „La Valse“ und andere lassen grüßen.

Weniger spaßig gestaltete sich die ausgedehnte Bearbeitung Bizetschen Hit-Materials Schtschedrins als Tanzvorlage für seine Gattin. Ohnehin kein großer Carmen-Freund, ging heute nicht viel zusammen, um diese Beziehung intimer zu gestalten. Weder die meistenteils grobschlächtige, Schlagwerk-lastige Instrumentation der altbekannten Weisen noch deren uninspiriertes, harmloses Abspulen durch Herrn Gothóni trugen dazu bei, mein Blut in Wallung zu bringen. Aber für viele der Umsitzenden reicht offenbar bereits derart gemütlicher Erkenne-die-Melodie-Reigen, um das Gehörte als Erfolg zu verbuchen – ein warmer Schlußapplaus und fröhliche Gesichter können es bezeugen.

18. September 2016

Orchestre de Paris – Daniel Harding.
Philharmonie Paris.

16:30 Uhr, 1er Balcon, Etage 4, Tür 4B, Platz D45



Robert Schumann – Szenen aus Goethes Faust

Hanna-Elisabeth Müller – Sopran

Mari Eriksmoen – Sopran
Bernarda Fink – Mezzosopran
Andrew Staples – Tenor
Christian Gerhaher – Bariton
Franz-Josef Selig – Bariton
Tareq Nazmi, Bass
Chor des Orchestre de Paris
Kinderchor des Orchestre de Paris


Das ist sie also, die neue Philharmonie von Paris. Falls die Saalakustik tatsächlich den erhofften Vorgeschmack auf die Elbphilharmonie geboten hat, könnte die Ernüchterung 2017 keine kleine sein. Aber lassen wir mal das Konzerthaus im Dorf und warten diesbezüglich ab. Nur eines ist sicher: Nach Paris muss man nicht reisen, um vollendeten Klang zu erleben, zumindest nicht ins Gestühl des ersten Rangs. Relativ distanziert, sehr hallig – was sich insbesondere für die Textverständlichkeit ungewohnt destruktiv erweisen sollte – zudem ohne Bumms im Fortissimo (Ok, Schumann ist hier sicher nicht der Maßstab). Einzelne Instrumente und Soli sind durchaus gut zu orten, leise Passagen entfalten einen gewissen intimen Reiz, das war es dann aber auch schon mit den Vorzügen der Halle. Oder anders: Nichts, was man woanders nicht schon ähnlich oder eben besser gehört hat. Köln bleibt hier sowohl in Bezug auf die Herausarbeitungsmöglichkeiten für Details als auch beim Gesamteindruck eine andere Liga.

Von meinem Platz aus war es jedenfalls äußerst ernüchternd erfahren zu müssen, dass beispielsweise von dem subtilen Vortrag des geschätzten Christian Gerhaher erschreckend wenig den Weg ans Ohr fand, da die Akustik Tiefen offenbar generell schlecht überträgt und der bereits angesprochene Hall die Charakteristika der Stimme verschleierte. Das gilt natürlich gleichermaßen für alle übrigen Sänger, deren durchweg exzellente Leistung durch diese widrigen Umstände je nach Stimmlage mehr oder weniger getrübt wurde. Die Damen und Herr Staples kamen somit besser als das Bariton- und Bass-Segment davon, ideal ist aber in jedem Fall etwas anderes.

Apropos – kleiner Einschub zur Architektur: Über Optik lässt sich sicher streiten. Ich persönlich könnte mir durchaus ansprechendere Formen für ein neues, repräsentatives Konzerthaus vorstellen, als einen gigantischen Chrom-Hundehaufen, den ein eckiges, ebenfalls metallisches Irgendwas bekrönt. Auch die Frage, ob die unzähligen Plättchen, die in den Foyers von der Decke baumeln, als Hingucker oder Staubfänger fungieren, bietet sicher Raum für Diskussionen. Unzweifelhaft ist jedoch, dass bei der Gestaltung des Interieurs die Möglichkeit einer Benutzung durch menschliche Besucher offenbar nur am Rande in Betracht gezogen wurde – Kaum Sitzmöglichkeiten, schon gar nicht da, wo man sie wirklich gebrauchen könnte (in der Bar zum Beispiel), auch das Toilettenbudget scheint für Deckenhänger, verspiegelte Simse und Bodenplatten in der Form dieser Dinger, die das ganze Haus überziehen (Vögel?), draufgegangen zu sein. Immerhin gibt es das Programmheft gratis.

Aber zurück zur Musik. Schumann ist ja nun mal so’n Kollege, der mit angezogener Handbremse komponiert. Mein Eindruck des Stückes heute war allerdings nicht ganz so katastrophal wie seinerzeit in Hamburg (Link). Der Sonnenaufgang, maßgeblich getragen vom wunderbaren Tenor Andrew Staples’, einiges aus der Mitternacht-Episode und Fausts Tod, dazu mehr oder weniger der komplette zweite Teil, da gibt es durchaus Schlimmeres. Nichts zum Ausflippen, aber gute Unterhaltung. Überhaupt verblüffte heute die gänzlich abweichende Faktur des zweiten Teils. Mehr geschlossene Kantate als die lose Szenenfolge, welche die erste Halbzeit beinhaltet. Hat mir insgesamt auch besser gefallen, fasslicher, zielgerichtet. Natürlich darf man während des Hörens nicht darüber nachdenken, was Mahler aus dem Material geholt hat oder wie schillernd der Faust Berlioz’ ist. Es ist einfach nur ein bisschen schade, dass sich Schumann nicht mehr getraut hat. Seine Verfechter werden ihm diese selbst auferlegte Mäßigung und Fokussierung auf schöne, ordentliche Musik ohne Krassheiten oder groteske Züge sicher als Tugend auslegen – von mir aus. Muss ja auch Musik für Verklemmte geben.

Und was war sonst so? Das Orchestre de Paris und sein neuer Chef sind eine sichere Bank, Herr Harding liefert eine äußerst differenzierte, feine Interpretation, die das Zart-Romantische Schumanns ins beste Licht rückte. Auch die Chöre lassen sich nichts zu Schulden kommen. Alles in Allem musikalisch bedingungslos überzeugend, hätte diese Kombination gern unter besseren akustischen Voraussetzungen erlebt. Gut, erwischt – und mit einem spannenderen Werk.

Tief empfundene Herzlosigkeit am Rande: Egal ob in Paris, Hamburg oder auf dem Mond – wer einen Säugling mit in eine Veranstaltung schleppt, die auf rezipierförderliche Stille, zumindest jedoch auf die Abwesenheit von wahrscheinlich Nahrungsaufnahmebereitschaft oder deren Ergebnis signalisierenden Geplärres ausgelegt ist, dem muss man schlicht und einfach ins Hirn geschissen haben. Crétin!

15. Juli 2016

Orgelkonzert – Eugenio Maria Fagiani.
Berliner Dom.

20:00 Uhr, freie Platzwahl



Johann Sebastian Bach – Chaconne

(Transkription: Busoni-Matthey, BWV 1004)
Sergei Rachmaninow – Barcarolle, op. 10, Nr. 3
(Transkription: E. M. Fagiani)
Sergei Rachmaninow – Mélodie, op. 3, Nr. 3
(Transkription: E. Lemare)
Sergei Rachmaninow – Prélude, op. 3, Nr. 2
(Transkription: E. M. Fagiani)
Gustav Mahler – Adagietto aus der Sinfonie Nr. 5
(Transkription: D. Briggs)
Ulisse Matthey – Elegia
Ulisse Matthey – Toccata-Carillon


Auch Berlin hat also seinen Orgelsommer. So wollte es der terminliche Zufall, dass ich ein Konzert dieser Reihe bei einer Stippvisite in der Hauptstadt gewissermaßen als musikalische Zugabe mitnehmen konnte – noch dazu im prächtigen Dom und mit Mahler als Programmpunkt. Letzteres hätte vielleicht schon im Vorfeld doch eher befremden als vorfreuen lassen sollen, aber einem Gaul für 10 Euro schaue ich auch nicht so genau ins Maul.

Transkription ist das Stichwort. Sicher gibt es genügend Beispiele für gelungene Übertragungen großer Originalkompositionen zur Königin der Instrumente – Mahlers Adagietto scheint nicht unbedingt auf diese Wandlung gewartet zu haben. Zumindest die heute erklungene Version konnte weder akustisch noch bezogen auf seine Darbietung überzeugen. Man hat das Stück erkannt, damit hatte es sich dann auch. Das betont leise Gesäusel, zweimal recht unvermittelt durch dynamisches Forcieren an den „Höhepunkten“ des Werkes unterbrochen, stellte vielleicht die feinen Register der Orgel nett zur Schau, hatte mit dem atmenden, sich organisch entwickelnden, aufblühenden Charakter der Vorlage allerdings nicht viel gemein. Vom hingeschmierten, pseudo-improvisatorischen Rubato des Vortrags, in dem Fagiani mal an unmotivierter Stelle bedeutungsschwer innehielt, um dann über markante Motive eilig hinwegzuhuschen, ganz zu schweigen. Naja, als Untermalung für eine Dombesichtigung im Sitzen hat es seinen Zweck erfüllt, wie man an vielen gen Kuppel gereckten Köpfen ablesen konnte.

Was gabs noch? Ein bisschen transkribierter Rachmaninow, darunter natürlich DAS Prélude. Kann man machen, der Bruch war nicht so heftig wie beim Mahler light, aber auch hier war mein Reflex nicht unbedingt „Verbrennt den Steinway! So muss das!“ Dabei klingt die Orgel des Doms wirklich beeindruckend. Facettenreich, mächtig. Am besten kommt dies in den Beiträgen zur Geltung, die das Konzert rahmen – Bachs Chaconne in der Bearbeitung Busonis und Mattheys sowie zwei Originalwerke des Letzteren. Ein richtiger Kracher scheinen die Stücke des Italieners (ganz im Gegensatz zu den Werken seines berühmteren Landsmannes!) zwar nicht zu sein, taugten aber sehr wohl zur Leistungsschau des Dom-Instruments. Unter dem Strich ein Konzert, das irgendwo zwischen „ganz nett“ und „hätte man sich lieber auch ruhig Zeit für ne zweite Currywurst lassen können“ einzuordnen ist. Punto e basta.

3. Juli 2016

Elwin und Elmire – Christoph Dittmar. Liebhabertheater Schloss Kochberg.

15:00 Uhr Einführung, 16:00 Uhr, Reihe 2, Platz 7



75 Sitzplätze, eine winzige Bühne, darüber eine kleine Galerie für die Musiker, das ist das Liebhabertheater Schloss Kochberg, malerisch gelegen zwischen dem pittoresken Schloss und einem Park, der mit verschlungenen Pfaden zum Flanieren einlädt. Wobei die Reduzierung der Spielstätte auf seine bauliche Form nur wenig über sein Wesen verrät. Das Theater, das ist vielmehr Engagement und Leidenschaft der beteiligten Personen, die den Namenszusatz auf bemerkenswerte Weise mit Inhalt füllen.

Musikliebhaber, Theaterliebhaber, Kulturliebhaber – alles Umschreibungen für diejenigen, welche hier in privatwirtschaftlicher Eigenregie mit viel Herzblut ein ambitioniertes Programm stemmen. Schön zu sehen, dass in Zeiten von Theaterschließungen und Orchesterrationalisierungen mit entsprechendem Einsatz auch Traditionen bewahrt und fortgeführt werden können. Mein Kompliment und Respekt an alle Beteiligten.

Das Stück selbst besticht eher durch seinen putzigen Charme als durch große musikalische Wirkungen oder inhaltliche Offenbarungen – wobei es schon mehr als ein müdes Lächeln Wert ist zu sehen, dass bestimmte Themen einfach seit jeher die Gemüter beschäftigten und auch weiter beschäftigen werden. Stichwort „Generationenkonflikt“, oder zumindest das wechselseitige Unverständnis der Gepflogenheiten der Jugend im Wandel der Zeit. Dass am Ende alles gut wird, steht von Beginn an außer Frage, was jedoch den harmlosen Spaß, den das Werk vermittelt, nicht schmälert.

Es geht ohnehin vielmehr darum, mit Freuden dem Spiel und Gesang der wunderbar herzlich ihre Rollen ausfüllenden Darsteller beizuwohnen. Ihr Auftreten, erarbeitet mit Mitteln des Barocken Gestenkatalogs, ist eher von erfreulich organisch-improvisierter Wirkung als mechanisch oder sklavisch, wie man vielleicht vermuten könnte. Ohnehin scheint die Chemie in diesem kleinen Ensemble zu stimmen.

Die Musiker von der Empore tragen ihren Teil zum harmonischen Ganzen bei, man ist bei der Sache, hier und da huscht ein Schmunzler über das Gesicht der Solisten. Auch wenn ich nach der Darbietung nicht den Drang verspüre, das gesamte musikalische Oeuvre ihrer Durchlaucht kennenlernen zu müssen, habe ich mich doch gut unterhalten gefühlt, wobei sich die Herzogin das beste Material eindeutig für Terzett und Quartett des Finale aufgehoben hat.

Für Goethe-Fans ist das Ganze sicher inhaltlich noch weitaus spannender, aber auch jedem Opernfreund sei ein Besuch bei diesem Musiktheater-Nucleus empfohlen – vor allem wegen der Menschen, die ihn formen. Bezeichnend, dass alle Beteiligten nach der Aufführung bei einem Glas Liebhaber-Theater-Sponsorensekt für einen kleinen Plausch zur Verfügung stehen. Kultur zum Anfassen eben, so könnte das inoffizielle Motto hier auf Schloss Kochberg lauten. Darauf ein Glas!


Erwin und Elmire – Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach
Arrangement für Flöte, Violine, Tasteninstrument und Singstimmen von Bernhard Klapprott
Musikalische Leitung / Cembalo – Christoph Dittmar
Gundula Mantu – Violine, Daja Leevke Hinrichs – Traversflöte
Regie – Nils Niemann
Kostüme – Kristina Weiß
Produktion – Silke Gablenz-Kolakovic, Christoph Dittmar
Eine Koproduktion des Liebhabertheaters Schloss Kochberg mit Cantus Thuringia & Capella

Elmire – Anna Kellnhofer, Sopran
Erwin – Benjamin Glaubitz, Tenor
Olympia – Barbara Christina Steude, Sopran
Bernardo – Carsten Krüger, Bariton

2. Juli 2016

Der Wildschütz – Pawel Poplawski.
Goethe-Theater Bad Lauchstädt.

14:30 Uhr, Galerie, Loge 3, Platz 12



Da hat sich der Herr Geheimrat aber einen putzigen Theaterstall ins Nirgendwo gesetzt. Die aktuellen Renovierungsarbeiten geben den Blick frei auf zweckdienliche Lehmziegel und Holzbalken, die noble Illusion der Putzfassade ist dem bäuerlichen Charme einer Scheune gewichen. Diese Offenlegung des Zweckbauskeletts ist nicht ohne Reiz, vervollkommnet sie doch im Verbund mit der im Anschluß an die Aufführung besuchten Hausführung den Eindruck, daß hier immer schon Inhaltliches vor Äußerlichkeiten kam. Ebenso amüsant wie lehrreich beispielsweise die Anekdote, daß das den Zuschauerraum beschirmende Deckensegel weniger der Referenz antiker Vorbilder, sondern in erster Linie der kostengünstigen Kaschierung der profanen Gewölbekonstruktion geschuldet ist. Irgendwie ziemlich sympathisch, dieser nett verpackte Pragmatismus.

Zumal das Ergebnis den Bauherren Recht gibt. Die Akustik ist vorzüglich, das kleine Orchester sehr präsent. Einzig die Streicher bzw. hautsächlich die Violinen sorgen bei mir für kurze Irritation, da sie auf meinem Platz deutlich von der rechten Seite zu vernehmen sind, obwohl sie brav auf der Linken Platz genommen haben – ein Kuriosum, daß vielleicht auf die tonnenförmige Decke zurückzuführen ist? Der Gesamteindruck erfährt durch diesen Umstand jedoch keinerlei Beeinträchtigung. Die Sänger sind meistenteils gut zu hören, wobei es hier natürlich auf die jeweiligen persönlichen Charakteristika der Stimmen ankommt.

Lortzings Wildschütz würde ich allen theaterhistorischen Meriten zum Trotz nicht unbedingt als Schwergewicht bezeichnen. Hab ich das Stück also auch mal gehört, anstatt nur in Opernführern und Co. darüber zu stolpern – Bildungslücke geschlossen, Thema erledigt. Die hier gezeigte Aufführung ist eine Produktion des Magdeburger Theaters, was insofern etwas schade war, da in dieser Inszenierung die historische Lauchstädter Bühnenmaschinerie logischerweise keine Verwendung findet. Zumindest konnte ich mir dessen Eingeweide bei besagter Führung kurz ansehen, was allerdings nur ein schwacher Ersatz für von Geisterhand bewegte Scherenwände und ähnliches ist, wie ich seit meinem Besuch des Theaters in Gotha weiß (Link).

Inhaltlich wie musikalisch ist Überforderung durch Stück und Umsetzung nicht zu befürchten – den größten Lacher des ersten Aktes landete man, indem eine Kuh-Attrappe durch gartenpumpenartiges Betätigen ihres Schwanzes gemolken wurde. Es wäre allerdings deutlich alberner gewesen, die leicht verdauliche Verwechslungskomödie mit bedeutungsschwangeren Metaebenen oder Zeitbezugs-Transplantationen zu befrachten. Die Magdeburger Inszenierung erzählt die kompliziert-einfache Geschichte mit leichter Hand und nicht ohne Selbstironie – wo wir beispielsweise wieder bei besagter Kuh wären. Überhaupt geben Bühnenbild und Ausstattung – abgesehen von den teilweise aufwändigen Kostümen – dem Ganzen einen bewusst attrappenartigen, übertrieben kulissenhaften Rahmen.

Niedliche Häuschen-Aufsteller, die von den Protagonisten durch einfache Luken betreten und verlassen werden, welche ihre Undreidimensionalität unterstreichen. Oder ein Interieur, das jeweils einzig aus typografisch angeordneten Begriffen den benannten Einrichtungsgegenstand bildet. Ein bisschen scheint es, als spiele sich die gesamte Handlung zwischen den Deckeln eines Buches ab. Gleich zu Beginn wird diese Assoziation mit dem als Buchtitel abgesetzten Namen des Stückes geweckt. Dazu passt irgendwie auch, dass die Darsteller sich mitunter eines regelrecht marionettenhaften Gestenrepertoires bedienen. Der Wildschütz oder die Stimme der Natur – also doch keine Personen aus Fleisch und Blut, sondern reine Fiktion?

Ich muss gestehen, dass ich mit diesen latent verklemmten Bäumchen-wechsel-Dich-Frivolitäten nicht viel anfangen kann. Dennoch würde ich behaupten, dass das Regieteam alles aus dem Stoff herausgeholt hat. Dazu trägt auch die offensichtliche Aktualisierung der Dialoge bei (Parsifal- und Tannhäuser-Bezugnahme, Begriffe wie „Schlampe!“ oder „Kapitalist!“ etc.), welche den wahrscheinlich arg ausgeblichenen Firnis des Original-Librettos hier und da ein wenig auffrischt. Das Magdeburger Ensemble und Orchester unter der lebendigen Stabführung Herrn Poplawskis garantieren musikalische Qualität fern jeglicher Provinzialität und stellen eindrucksvoll unter Beweis, dass das Lauchstädter Festival definitiv auch für Nicht-Goethe-Sentimentalisten eine Reise wert ist.

Fazit: Lortzing in Lauchstädt oder: auch schlichte Kost kann meisterhaft zubereitet sein.


Der Wildschütz – Albert Lortzing
Musikalische Leitung – Pawel Poplawski
Inszenierung – Aron Stiehl
Bühne – Simon Holdsworth
Kostüme – Dietlind Konold
Dramaturgie – Ulrike Schröder
Choreinstudierung – Martin Wagner

Graf von Eberbach – Roland Fenes
Die Gräfin, seine Gemahlin – Ks. Undine Dreißig
Baron Kronthal, Bruder der Gräfin – Ralf Simon
Baronin Freimann, Schwester des Grafen – Julie Marie du Theil
Nanette, ihr Kammermädchen – Jenny Stark
Baculus, Schulmeister – Johannes Stermann
Gretchen, seine Braut – Irma Mihelič
Pankratius, Haushofmeister – Peter Wittig
Bürgermeister – Thomas Matz
Tante Irmgard – Evelyn Nenow-Sambale

Opernchor des Theaters Magdeburg
Magdeburgische Philharmonie

12. Juni 2016

Peter Grimes – Gabriel Feltz.
Theater Dortmund.

15:00 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 78, nach der Pause Platz 88


Den Kniff kannte ich so auch noch nicht: einfach im Programmheft dem Komponisten ein paar fingierte Aussagen in den Mund legen, um das eigene Regiekonzept gewissermaßen im Konjunktiv absegnen zu lassen. Schon klar, daß das Kurzinterview mit Britten nicht wirklich ernst gemeint und noch weniger zu nehmen ist, doch zeigt es schon, daß sich die Verantwortlichen offenbar selbst im Klaren sind, wie angreifbar ihre Interpretation ist. Dabei sind durchaus gelungene Ansätze und Details zu entdecken, mit dem kleinen Schönheitsfehler, daß leider das große Ganze nicht funktioniert – und das gleich auf mehreren Ebenen. Daß es Tilman Knabe nicht reicht, Peter Grimes als Einzelgänger und Knabenschinder zu porträtieren, sondern aus ihm gleich mal einen pädophilen Serienmörder macht, wäre dabei noch nicht einmal so schlimm, wie es sich provokanzbemüht anhört. Das Hauptproblem bei dieser Idee stellt – wie bei eigentlich allen übrigen des Regieteams – weniger das „Was“, als vielmehr das „Wie“ dar, denn auf letzteres scheint es in dieser Produktion nur eine Antwort zu geben: Von allem zuviel.

Willkommen in Asi-Town, einem kleinen Fischerdorf irgendwo an der Steilküste sozialer Norm nach der unwiederbringlichen Landnahme durch die stetig peitschende Brandung der Sittenlosigkeit. Fast könnte man meinen, einer mit aller Liebe zum Detail umgesetzten Bühnenfassung von „Mitten im Leben“ oder ähnlichen Perlen privatsenderlicher Menschenverachtung beizuwohnen. Hier wird pausenlos geraucht, gesoffen und geprügelt, die Klamotten sind so betont auf Konsumismus-Bodensatz abgestimmt, dass sich die zwei Nichten-Nutten optisch richtig anstrengen müssen, um überhaupt in puncto Vulgarität und billigem Auftreten noch halbwegs herauszustechen. Der Begriff Nichten-Nutte ist vielleicht nicht die feine englische Art, nicht gerade subtil gewählt, aber wenn diese Inszenierung eines NICHT ist, dann subtil. Gleich im Gerichts-Prolog geht es los mit einem hoffnungslosen Overacting, das erst irritiert und auf die Dauer einfach nur nervt. Jeder ist hier im Nu von Null auf Hundert. Aber noch mal hübsch der Reihe nach. Was genau ich mit dem „Zuviel“ meine, lässt sich in drei Teilbereiche einsortieren:

Ich bin ja ein großer Freund individueller Personenregie und hätte nie gedacht, dass sich deren Einsatz bei einer Überdosierung, wie sie heute verabreicht wurde, derart störend auswirken könnte. Einerseits gilt mein Respekt den Verantwortlichen, die offenbar davon getrieben sind, den handelnden Personen, insbesondere auch dem Chor, sinnvolle und somit glaubhafte Tätigkeiten auf den Leib zu inszenieren (Gelungenes Beispiel: Grimes nimmt während eines Dialoges Fische aus). Eigentlich genau das richtige Prinzip, um unmotivierte Rampensteherei zu vermeiden und Authentizität zu stützen. In Dortmund wird der Bogen allerdings in schöner Regelmäßigkeit überspannt, so daß vor lauter Gewusel und Nebensächlichem die eigentliche Handlung überdeckt wird.

Zwei Beispiele: Als Ellen gegenüber den anderen Dorfbewohnern für Peter einsteht, wird sie von der wild gestikulierenden Meute regelrecht zugestellt, so daß ihr Apell, immerhin eine Schlüsselszene, visuell, aber vor allem auch akustisch verpufft. Noch unnötiger: wie sich Mrs. Sedley in plattester Agenten-Parodie stetig neue „Deckung“ (Gartenstuhl?!) sucht, um das Gespräch zwischen Ellen und Balstrode zu bespitzeln – dessen Inhalt durch diese Slapstick-Einlage fast zur Nebensache gerät. Ja, Mrs. Sedley steht auf Krimis, schon klar, was die Idee hinter dieser Nummer war, aber nö – einfach die Dame an der Ecke stehen und lauschen lassen – fertig. Wie gesagt, es gibt auch durchaus andere Momente, in denen die Inszenierung ihre Überfrachtung durchbricht und stimmige, wirklich lebensnahe Szenen kreiert, etwa wenn sich das schmerzlich-himmlische Quartett der Frauen über das Wesen der Männer entspinnt, genau nachdem Boles eine der Nichten geschlagen hat.

Das zweite „Zuviel“ leitet sich gewissermaßen aus dem ersten ab und betrifft das schon angesprochene Overacting. Ich kann durchaus nachvollziehen, dass man beispielsweise für die musikalische Entladung heftigster Energien in den Chorszenen auch szenisch eine Entsprechung gesucht hat. Ob jedoch die erlebte Form der Mob-Karikatur ein wirkungsvolles Mittel darstellt, wage ich zu bezweifeln. Die Fackeln, die gelynchte Sündenbockpuppe, die Bluthände – ich hab nur noch die Mistgabeln vermisst, wie sie in keiner Frankenstein-Verfilmung fehlen dürfen. Tötet das Monster! Auch hier: ja, kann man so machen – wenn man auf Holzhammer-Umsetzungen steht. Die Menschen reagieren wie Vieh, ok, hab ich verstanden. Hätte man ohne Bluthände und mega shocking im Hintergrund drapierte, kopulierende Statisten allerdings wohl auch. Ui, die ficken da! Tilman Knabes Dörfler sind aber auch Schlingel. Der Pastor macht sich gleich nach dem Gottesdienst ein Bier auf, in der Kneipe startet man in bester Bud Spencer-Manier aus dem Nichts eine Massenkeilerei, jeder begrapscht unentwegt die Nichten, die pausenlos Geld einsacken und bei Auntie abdrücken, damit man auch ja nicht vergisst, welcher Profession die beiden nachgehen, Peter scheuert Ellen nach ihrem Disput nicht nur eine, nein, er tritt ihr auch gleich mal mit Anlauf in den Bauch, kurz: alles Menschenmüll.

Womit wir bei Punkt drei des heutigen Scheiterns der Prämisse „viel hilft viel“ wären, dem inhaltlichen Versagen der Inszenierung. Mit der Charakterisierung der Dorfgemeinschaft als ein Haufen zügelloser Proleten beraubt man das Stück seiner Fallhöhe, die gerade darin liegt, dass Misstrauen, Vorverurteilung und schließlich Hetze von ganz normalen, braven Bürgern ausgehen können. Natürlich hat das auch ganz viel mit ländlichen sozialen Strukturen zu tun, mit Enge und Engstirnigkeit, aber wer wie hier einfach nur die Dorfdeppkarte ausspielt, macht es sich viel zu leicht. Ausgrenzung, unterlassene Hilfeleistung, Sündenbockmechanismen sind Themen, die uns alle angehen – die hier porträtierte Gesellschaft geht mich gar nichts an. Ist ja logisch, dass es unter diesen Umständen so kommt, kommen musste. Abschaum gebiert Abschaum. Diese Inszenierung berührt nicht, lädt eher dazu ein, mit einer Mischung aus Ekel und Selbstgefälligkeit zu gaffen, anstatt zu reflektieren. Ein Unfall, bei dem man nicht wegsehen kann. Wie schön, dass sowas bei uns nicht vorkommt – Thema verfehlt, würde ich sagen. Daß die Bewohner keine Heiligen sind, wird an vielen Punkten des Librettos deutlich, spätestens das nächtliche Treiben zeigt die Bigotterie der frommen Kirchgänger. Bei Knabe geht diese Ambivalenz im asozialen Grundrauschen einfach unter.

Bliebe da noch Peter Grimes selbst. Wahrscheinlich dachte man auch hier, bei all dem präsentierten Ranz und Siff eine Schippe drauflegen zu müssen, um die Außenseiterexistenz der Titelfigur dem reißerischen Ganzen anzupassen. Die Brücke von der Gewalt an Kindern zum Kindesmißbrauch zu schlagen, ist aus meiner Sicht ebenso überflüssig wie inhaltlich bemüht, hätte jedoch durchaus funktionieren können – sofern es der Regie eingefallen wäre, sich nicht allein in plumper Effekthascherei zu ergehen. Tiefpunkt der Plattheit: Während der Sturmszene bestritt ein Grimes-Double die Wirtschaft und entblößt seinen Missetäterleib: Ein blutiges „Pädo“ in die Brust geritzt, auf dem Rücken der Aufruf „Kill him“. Seufz. Warum dann nicht gleich noch Zwischentitel wie beim Stummfilm: „Dieser Mann ist eine Gefahr für sich und andere aber niemand kann oder will es sehen!“ Für wie beschränkt hält das Regieteam seine Zuschauer, dass es zu einem solchen Wink mit dem Zaunpfahl ausholt?

Ganz zerfahren wird die Sache dann nach der Pause, wenn wir in Grimes Hütte Zeuge des Ergebnisses seiner Wildbretbehandlung werden, die er dem Lehrjungen bereits hat angedeihen lassen. Kunstblut im Sonderangebot, alles muss raus! Abgesehen davon, dass die Szene in ihrer übertriebenen Machart eher Kopfschütteln als Gänsehaut verursacht, ergibt sich daraus gleich das nächste Problem: Der Bursche ist also schon tot, folgerichtig sind Grimes Worte an ihn lediglich Ausdruck eines bereits vollends verwirrten Geistes. Ganz anders als im Stück angelegt, wo nach dem noch so hoffnungsvollen „In dreams I ’ve build myself some kindlier home“, Grimes von den Erinnerungen an den ersten toten Jungen heimgesucht wird und die Stimmung kippt. Hier und heute sehe ich nur einen armen Irren, Identifikation Fehlanzeige. Blöd auch, dass die eigentliche Tragik der Szene, welche Grimes erst durch die nahenden Dorfbewohner derart in Brass geraten und den Absturz des Jungen verschulden lässt, so natürlich komplett abhandenkommt. Er lässt die Leiche verschwinden (wozu übrigens dann noch der Schrei?), die Häscher sind zu doof, Ned Keene deckt Grimes – was auch immer.

Hatte ich nicht eingangs irgendwas von gelungenen Ansätzen und Details fabuliert? Ja, die gab es tatsächlich. Die Konsequenz und Mannigfaltigkeit, mit der diese – leider fehlinterpretierte – Dorfgemeinschaft gezeichnet wird, sucht Ihresgleichen. Bühnenbild, Ausstattung, Kostüme, alles atmet glaubhaft und allumfassend Trostlosigkeit, Rohheit, eine verlorene Gesellschaft. Seefahrerromantik hat hier folgerichtig keinen Platz. Das Meer als solches ward nicht gesehen, verborgen hinter dem kalten Beton der Kaianlagen, deren soziales Zentrum ein schäbiger Kiosk darstellt, links die elende Spelunke. Plastikgartenstühle, Maschendrahtzaun, Unrat, Verfall. Sehr eindringlich dann in diesem Zusammenhang auch das Bild, als Peter die Leiche des Jungen auf einer Müllhalde entsorgt. Von der Intensität gerät der Schluss der Inszenierung generell am stärksten. Wenig Platz für Ablenkung, alles fokussiert sich auf Grimes Schicksal und seine Freunde, die ihn fallen lassen. Einziger Wermutstropfen hier: Durch den unsinnige Regieeinfall, der zuvor Balstrode Ellen küssen lässt, bekommt dessen Motivation ein unnötiges Kalkül. Überhaupt bizarr der Transfer, dass in diesem sozialen Milieu ein Motorradrocker als „Respektsperson“ herhalten muss.

Die Sea Interludes mit Traumsequenzen zu koppeln, ist nicht ganz doof, unterstreicht dies doch die seelisch-psychologische Komponente jener nicht allein als Naturillustrationen zu verstehenden Zwischenspiele. Grimes’ Ringen mit seiner düsteren Seite, Ellens Utopie einer glücklichen Ehe, da hat sich das Team durchaus plausible Bilder einfallen lassen, sieht man einmal vom möchtegern-schockierenden buchstäblichen Leichenschmaus in Eyes-Wide-Shut-Abklatsch-Optik ab. Gelungen dann noch das Schlussbild. Der tote Grimes auf leerer Bühne, der Dörfler-Chor kommentiert lapidar aus dem Zuschauerraum, postiert auf der Galerie, Seegeräusche sind zu hören, dann abrupt Stille.

Ich würde gern über die musikalische Wirkung mal wieder ähnlich ausführlich werden, wie zu szenischen Aspekten, leider gab der Abend in dieser Hinsicht nicht viel mehr her als Standardware. Das Ensemble war in Ordnung, der Sänger der Titelrolle trotz erkennbarer Bemühung um Lyrik (z.B. Plejaden-Monolog) wie so oft Welten von dem entfernt, was die Partie auszulösen imstande ist. Tut mir leid, eine derart harmlose, farblose Stimme kann den gebührenden Anspruch an Ausdruck einfach nicht leisten, da hilft es wenig, dass sehr wohl einiges in eine intensive Darstellung investiert wurde. Musikalisch unkaputtbar in ihrer Wucht sind auch dieses Mal die Massenchorszenen, in denen sich der Dirigent mit knackiger Handschrift und zügigen Tempi um eine energiegeladene Umsetzung verdient gemacht hat. Das Orchester klingt gut, Wunderdinge sind allerdings keine zu vernehmen. Hier und da wurde der Bogen mitunter etwas überspannt, der ein oder andere hektische, zerfahrene Moment war die Folge. Alles in allem eine solide Leistung.

Was nimmt man aus einem solchen Abend mit? Das Hadern über eine vertane Chance? Das Wissen um die Qualität eines Werkes, das dem Durchschnitt trotzt? Die Absicht, bei Herzenzangelegenheiten in Zukunft doch lieber auf den Faktor Überraschung zu verzichten und auf bewährte Kräfte und Häuser zu bauen? Wahrscheinlich von all dem ein bißchen, aber so ist das nun einmal mit Segen und Fluch des lebendigen Musiktheaters: Hoffnung ersetzt Gewißheit, das Sehnen nach der Einlösung der Möglichkeit des Unwahrscheinlichen wiegt mehr als jede mögliche Enttäuschung. Irgendwie ist das ein bißchen das Thema von Peter Grimes selbst, vielleicht werde ich auch aus diesem Grund nie müde, es wieder und wieder gerade mit dieser zarten Skizze einer uneinlösbaren Utopie zu versuchen.


Peter Grimes – Benjamin Britten
Musikalische Leitung – Gabriel Feltz
Regie – Tilman Knabe
Bühne – Annika Haller
Kostüme – Eva-Mareike Uhlig
Chor – Manuel Pujol
Licht – Florian Franzen
Dramaturgie – Georg Holzer

Peter Grimes, Fischer – Peter Marsh
Ellen Orford, Lehrerin – Emily Newton
Balstrode, Kapitän – Sangmin Lee
Auntie, Wirtin – Judith Christ
Erste Nichte – Tamara Weimerich
Zweite Nichte – Ashley Thouret
Bob Boles, Fischer und Methodist – Fritz Steinbacher
Swallow, Bürgermeister und Richter – Karl-Heinz Lehner
Mrs. Sedley, eine Witwe – Martina Dike
Rev. Horace Adams, Pfarrer – Ks. Hannes Brock
Ned Keene, Apotheker – Morgan Moody
Hobson, Fuhrmann – Thomas Günzler
John, Grimes’ Lehrling – Simon Daiber
Dr. Crabbe – Hans-Peter Frings
Fischer, Bürger – Hitomi Breitzmann, Hans Werner Bramer, Gerontiy Chernyshev, Hiroyuki Inoue, Johannes Knecht, Henry Lankester, Ian Sidden

Opernchor des Theaters Dortmund
Extrachor des Theaters Dortmund
Statisterie des Theaters Dortmund
Dortmunder Philharmoniker

11. Juni 2016

Death in Venice – Pawel Poplawski.
Theater Bielefeld.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 1, Platz 11



Schon ernüchternd, wenn bereits nach ein paar Takten klar ist, daß es mit diesem Aschenbach nicht funktionieren wird. Zu glatt in Erscheinung und Stimme – darstellerisch bemüht, aber blaß, gesanglich ohne nennenswerte Tiefe. Dann also flugs in den Protokollmodus gewechselt. Mal schauen, was sich noch verwerten läßt.

Die Inszenierung ist ästhetisch wie konzeptionell sehr interessant, vermag jedoch nur selten zu berühren. Könnte aber auch am musikalischen Ertrag liegen. Der fällt insgesamt eher durchwachsen aus. Herr Poplawski kann nur bedingt an den makellosen Eindruck anknüpfen, den sein „Midsummer Nights Dream“ seinerzeit in Magdeburg auf mich gemacht hatte (Link). Offenbar bieten die dortigen Philharmoniker deutlich mehr Potenzial für das delikate Britten’sche Gespinst als ihre Bielefelder Kollegen. Bei den Sängern stechen zwei rühmliche Ausnahmen aus einem sonst unauffälligen Ensemble hervor: Nienke Otten besitzt eine wirklich schöne, reine und feine Stimme, mit der sie als Erdbeermädchen und in ihren weiteren Rollen für Inseln zarten Wohllauts sorgt. Die Inkarnationen des Todesboten sind mit Evgueniy Alexiev stimmlich wie darstellerisch auf der Höhe des Stückes besetzt. Umso bedauerlicher, daß seine sinistre Interpretation kein entsprechendes Gegengewicht in der Hauptrolle erfährt, sein stets intensiver Einsatz vermag die Produktion naturgemäß kaum alleine zu tragen.

Damit also zurück zur Inszenierung und dem, was von ihr hängen blieb. Nadja Loschky legt Aschenbachs letzte Reise als Kampf mit sich selbst und den eigenen Dämonen an, wobei wir mehr dem inneren Fiebertraum eines Selbstmordkandidaten als seinem physischen Weg zum Tod in der Fremde folgen. Wirklich voran kommt dieser Mann ohnehin nicht mehr, das impliziert auch das Bühnenbild, welches sich in Variationen der immer gleichen Räumlichkeit eines angedeuteten Hotels (oder vielleicht doch der Wohnung des Dichters?) per Drehbühne um den gebrochenen berühmten Künstler windet. Der besagte Todesbote zeigt sich das erste Mal im Badezimmerspiegel als Doppelgänger des Lebensmüden, so daß hier ganz klar ein Teil von Aschenbachs Ich die lange Reise initiiert, deren an sie geknüpfte Selbstfindungsabsicht bekanntermaßen nicht in Rekreation, sondern (Selbst-)Auslöschung gipfelt.

Dabei wird Kleidung sehr konsequent leitmotivisch verwendet. Der fremde Reisende ist ganz wie Aschenbach in einen türkisen Anzug gewandet, Versatzstücke dessen begegnen uns immer wieder an verschiedenen Stellen der Handlung, etwa beim Hotelmanager, der die gleiche Farbgebung zu bevorzugen scheint oder nicht weniger bedeutungsvoll bei Tadzios Jacke. Neben Aschenbachs Anzug spielt ein rotes, besticktes Kleid eine handlungsimmanente Rolle und kreiert gleichermaßen besondere Signalwirkung, da alle übrigen Kostüme in schlichtem Schwarzweiß gehalten sind. Zum ersten Mal erscheint es auf der Überfahrt, wenn der Dichter in der Runde der vergnügungshungrigen Männer mit dem ältlichen Geck in eben jenem Kleid konfrontiert wird, der Aschenbach verstört zurücklässt, nachdem er ihm eine Puppe überreicht hat – ein Abbild Tadzios, wie man später erfährt.

Auch das Erdbeermädchen tritt in dem gleichen roten Kleid auf, dessen farbliche Entsprechung die verlockenden Früchte darstellen, mit denen ein weiteres Leitmotiv der Versuchung, letzten Endes der Verderbnis, etabliert wird. Bemerkenswert dann auch die Szene, in der sich die venezianischen Beteiligten, allesamt mit Aschenbach-Masken versehen, regelrecht mit den signalroten Köstlichkeiten vollstopfen, die sich im weiteren Verlauf als Krankheitsbringer erweisen werden. Für Aschenbach selbst wird das rote Kleid zum Ausdruck seiner eigenen Begierde. Anlässlich des apollinischen Wettstreites träumt er sich damit in die Rolle als Tadzios Braut, die mit ihrem siegreichen Bräutigam fiebert.

In diesen Duell zwischen Tadzio und dem Todesboten werden einfache, aber intelligent die Leitmotivik aufgreifende Bilder für die Disziplinen gefunden, etwa im Erdbeerwettessen oder der Aufgabe, möglichst viele Exemplare von Aschenbachs Bestseller zu stapeln, dessen Bedeutung für den Dichter bereits zuvor die Tatsache unterstrichen hat, daß er die Reiselektüre eines jeden Hotelgastes darstellt. Ein weiteres wiederkehrendes Element ist Sand, der sich langsam aber sicher in den Ecken der Rezeption sammelt, sich auch in der Gondel befindet, Aschenbach durch die Finger rinnt – auch dieses Detail atmet Vergänglichkeit.

Mehrfach wird in der Inszenierung mit Puppen oder dem Puppenhaften gearbeitet, wie bereits erwähnt beim Aufritt des grell geschminkten und kostümierten ältlichen Gecks, dessen Erscheinung Aschenbach schließlich konsequent im Sinne der so bereits im Libretto angelegten Parallele vollends übernimmt. Tadzio tritt danach als seine Puppe auf, ganz wie es mit der kleinen Puppe auf dem Schiff schon vorbereitet wurde. Eine weitere Szene zeigt die Tänzerin (im roten Kleid) und Tadzio als Puppenpaar. Kontrolle über sich und die eigene Begierde, über das Ziel des Begehrens selbst, Eigen- und Fremdsteuerung, Aufgabe der eigenen Persönlichkeit, all diese Gedanken schwingen hier mal mehr, mal weniger offensichtlich mit.

So wie die fauligen Erdbeeren letztlich aus dem eigenen Selbstmörderblut gespeist werden, nimmt Aschenbach folgerichtig am Schluß an seinem eigenen Begräbnis Teil. Umso überraschender oder enttäuschender, wieso diese an zwingenden Einfällen reiche Produktion emotional nicht derart involviert, berührt, erschüttert, wie es in diesem Stück eigentlich durch Britten genetisch festgelegt ist. Natürlich gibt es auch fraglos dürftige Momente der Inszenierung, wie die schwache Umsetzung des Kulminationspunktes, wenn Dionysos über Apoll obsiegt – immerhin eine Schlüsselszene für Aschenbach und das Werk, aber mit einigem Abstand betrachtet gelange ich am Ende der Reise wieder bei meiner Eingangsbeobachtung – alles steht und fällt mit Aschenbach. Seinen Niedergang stimmig psychologisch aufzuarbeiten ist keine geringe Leistung, bleibt ohne einen entsprechenden Darsteller, der diesen Weg in aller Unerbittlichkeit zu gehen vermag, leider doch ein gescheitertes Unterfangen.


Death in Venice – Benjamin Britten
Musikalische Leitung – Pawel Powlawski
Inszenierung – Nadja Loschky
Choreografie – Thomas Wilhelm
Bühne – Ulrich Leitner
Kostüme – Gabriele Jaenecke, Moritz Haakh (Mitarbeit)
Licht – Ralf Scholz
Dranaturgie – Larissa Wieczorek
Choreinstudierung – Hagen Enke

Gustav von Aschenbach, Schriftsteller – Alexander Kaimbacher
Der Reisende/ältliche Geck/alte Gondoliere/Hotelmanager/Coiffeur des Hauses/Anführer der Straßensänger/die Stimme des Dionysos – Evgueniy Alexiev
Die Stimme Apollos/ Priester – Clint van der Linde
Tadzio – Gieorgij Puchalski
Erdbeerverkäuferin/Französisches Mädchen/Straßensängerin – Nienke Otten
Lido-Bootsmann/Restaurantkellner/Reisebüro-Angestellter – Caio Monteiro
Hotelportier/Straßensänger – Lianghua Gong
Russisches Kindermädchen/Bettlerin – Hasti Molavian
Russische Mutter/Spitzenverkäuferin – Elena Schneider
Englische Frau/Zeitungsverkäuferin – Christin Enke-Mollnar
Deutsche Mutter – Patricia Forbes
Französische Mutter – Evelina Quilichini
Dänische Frau – Franziska Hösli
Glasbläser/Polnischer Vater – Krzysztof Gornowicz
Hotel-Kellner/Fremdenführer – Tae-Woon Jung
1. Amerikaner/1. Gondoliere – Bogdan Sandu
2. Amerikaner – In-Kwon Choi
Russischer Vater – Mark Coles
Deutscher Vater/2. Gondoliere – Lutz Laible
Double der Erdbeerverkäuferin (Tanzszene) – Miriam Pielsticker
Die polnische Mutter (Tadzios Mutter) – Nicole Borgmann
Ihre zwei Töchter (Tadzios Schwestern) – Margarethe Keitel, Miriam Pielsticker
Die Erzieherin – Mélissa Quiering
Kinder – Josephine Franke, Martin Gerecke, Nathanaël Jucquois

Bielefelder Opernchor
Bielefelder Philharmoniker

1. Juni 2016

Concentus Musicus Wien – Diego Fasolis.
Laeiszhalle Hamburg.

19:15 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16


Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125

(Arnold Schönberg Chor, Genia Kühmeier – Sopran, Wiebke Lehmkuhl – Alt, Steve Davislim – Tenor, Luca Pisaroni – Bassbariton)



Ein Wort zur historischen Aufführungspraxis: Nein. Auch wenn ich durchaus nicht wenig Interesse an der geschichtlichen Entwicklung der Musik hege, ist mir Beethovens Neunte für ein Seminar Instrumentenkunde des frühen 19. Jahrhunderts einfach zu schade. Weder das eingesetzte Material noch die Spielweise tragen etwas dazu bei, dem Werk bzw. der Konzeption des Komponisten näher zu kommen, sondern quälen mit eigentlich glücklicherweise überwundenen Unzulänglichkeiten und verstellen den Blick auf das Wesentliche: Daß Musik eben mehr ist als die Summe leidlich getroffener Töne.

Beethoven als Holzschnitt. Ich bin deutlich zu wenig Masochist, um mir all den Reichtum nehmen zu lassen, der in dieser Partitur steckt. Und Reichtum meint nicht Fülle. Orchester wie die Kammerphilharmonie Bremen beweisen eindrucksvoll, dass eine Reduzierung der Besetzung auf zeitgenössisches Maß durchaus Wunder wirken kann in Bezug auf Transparenz, Fasslichkeit und Ursprünglichkeit. Die heutige Präsentation stimmt mich eher traurig als nostalgisch. Früher war eben nicht alles besser, der Orchesterklang schon mal ganz sicher nicht – wie schade, dass die großen Komponisten ihre Werke wohl nie in der Qualität erleben durften (sofern sie überhaupt aufgeführt wurden), die wir heute gewohnt sind. Natürlich kann man letztlich nur vermissen, was man kennt, aber ich wäre überrascht, wenn es in Beethovens taubem Kopf so unbehauen und profan zugegangen ist.

Mehr noch als die technische Minderwertigkeit, stört dabei die klangliche Unvereinbarkeit der verschiedenen Instrumentengruppen, welche ein rohbauartiges Klanggerippe ergibt, das sich partout nicht zu einem harmonischen Ganzen fügen möchte. Ich mag es gern knackig und schroff, aber hier fällt einfach alles auseinander. Sind die schmalbrüstigen Violinen überhaupt einmal im Tutti zu vernehmen, fisteln sie im Verbund mit ihren tieferen, knarzenden Geschwistern konsequent an den Bemühungen der spröden Holzbläser vorbei, jeder für sich in seiner eigenen, trostlosen Welt, überkreischt vom durchdringenden Blechschaden der Kollegen aus der letzten Bank. Ich möchte den anwesenden Musikern sicher nicht Talent und Hingabe absprechen, aber wenn ich derart mit der Nase darauf gestoßen werden möchte, mit wie viel Mühe und Schwierigkeiten den Instrumenten ihr Tagewerk abgerungen werden muss, höre ich mir lieber ein Schülerorchester an, da greift zumindest der Welpenschutz.

Glücklicherweise ließ sich der Chor nicht von der instrumentalen Schonkost verunsichern und lieferte zuverlässig und angemessen. Ja warum eigentlich? Es wird sich doch sicher in irgend einem Archiv zwischen zwei verstaubten Deckeln der Hinweis finden lassen, dass die Chöre zu Beethovens Zeit eine ganz andere Artikulation besaßen, Lispeln oder Wiener Idiom wären auch nicht schlecht, klingt doch gleich viel authentischer. Zu den vier Solisten gibt es nicht viel zu sagen, außer dass zumindest Tenor und Bariton für meine Begriffe mehr Durchsetzungsvermögen gut zu Stimme gestanden hätte.

Bleibt noch das Dirigat. Falls Herr Fasolis, wie ich las, tatsächlich mit der Witwe Harnoncourts besprochen hat, wie das Konzert im Sinne des verstorbenen Maestros durchzuführen sei, erscheint mir dies in zweifacher Hinsicht befremdlich. Zum einen erschließt sich mir nicht, wie eine solche Harnoncourt-Simulation funktionieren soll, zum anderen sollte Herr Fasolis als Dirigent doch selbst genug einzubringen haben. Was auch immer ihn an diesem Abend maßgeblich geleitet haben mag, von einer übermäßig inspirierten Lesart der Sinfonie habe ich kaum etwas mitbekommen. Kann man so machen. Nicht mehr, nicht weniger. Der Kopfsatz geht dramatischer, das Scherzo pointierter, das Adagio feinfühliger und nuancierter, das Finale kontrastreicher und beseelter.

Fazit: Kein krönender Abschluß für Aboreihe und Musikfest Hamburg, sondern Beethoven für Erbsenzähler. Sei’s drum – neue Neunte, neues Glück.

29. Mai 2016

Werther – Daniel Mayr.
Theater Bremen.

18:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 5, Platz. 16


Werther von Massenet – so eine Goethe-Verkitschung tut man sich doch als kunstsinniger Bildungsbürgerprototyp mit Wagnerallüren nicht an! Oder doch? Aber hallo! Das Theater Bremen präsentiert sich nach dem für mich persönlich, aufgrund seiner durch die Regie vorgenommenen Auslegung, ambivalenten „Peter Grimes“ (Link) zurück auf dem Olymp dessen, was Musiktheater zu leisten imstande ist, wofür ich Oper liebe. Dieser Bremer Werther schafft die seltene Symbiose zwischen klanglicher Pracht und kammermusikalischer Intensität, szenischer Fokussierung und emotionaler Darbietung auf dem Siedepunkt.

Ganz nebenbei beweist diese Produktion, daß man in Bremen akustische Herausforderungen offenbar besser zu begegnen weiß, als andernorts. Nach dem anarchischen „Mahagonny“, das sich ohne Bestuhlung im Saal und im gesamten Theatergebäude ereignete (Link), findet das Geschehen hier im Wesentlichen auf einer kleinen, über dem Orchestergraben installierten Bühne statt, während die Bremer Philharmoniker aus dem Hintergrund des eigentlichen Bühnenraums erklingen. Daß solche Maßnahmen auch mal scheitern können, durfte ich vor einiger Zeit in Münster erdulden. Doch während dort Weills Mahagonny-Partitur durch den Eingriff regelrecht auseinanderfiel, hat man in Bremen seine akustischen Hausaufgaben gemacht. Im Gegenteil wird die räumliche Intimität des vorgelagerten Podests ganz in den Dienst eines transparenten Klangbildes gestellt, für das auch behutsam mit der Dynamik umgegangen wird, um den Sängern gerade in den zarten solistischen Momenten größtmöglichen Spielraum für den differenzierten Einsatz ihrer Stimmen zu ermöglichen.

Und was für Stimmen! Ich bin immer wieder begeistert, über welche Qualität das Bremer Ensemble auch in der Breite verfügt. Selbst die Hauptpartien werden mit hauseigenen Gewächsen besetzt, die mir schon aus anderen Produktionen in bester Erinnerung geblieben sind. Für die größte Überraschung sorgte dabei wohl Luis Olivares Sandoval in der Titelpartie, da ich ihn bislang nur in Nebenrollen erlebt hatte und mir dabei entgangen war, welch ausdrucksstarken, schmelzbeseelten Tenor das Theater Bremen in seinen Reihen weiß. Gerade die lyrischen Passagen gerieten dank seiner feinfühligen Nuancierung zu innigen Glanzlichtern des Abends, ohne daß es dem Sänger bei dem emotionalen Ausbrüchen an Strahlkraft gefehlt hätte. Hatte sich Nadine Lehner seinerzeit als Gouvernante in Brittens „The Turn of the Screw“ in mein Sängerdarsteller-Gedächtnis eingebrannt, ließ sie heute mit ihrer Charlotte eine weitere Ausnahmeleistung folgen, die sängerisch wie schauspielerisch die Grenzen leistbarer Bühnenintensität auslotete. Marysol Schalit ihrerseits besitzt ebenfalls jene seltene Gabe, neben ihrem zauberhaften Organ in gleichem Maße stets auf eine scheinbar selbstverständlich involvierende Bühnenpräsenz bauen zu können, die dem Zuschauer eine ganz natürliche Identifikation mit dem jeweils ausgefüllten Charakter ermöglicht. Peter Schöne mit kräftiger Bariton-Autorität komplettierte zusammen mit den kleineren Partien eine Besetzung ohne Schwachstelle.

Wobei, wie schon angedeutet, heute nicht allein vollendete Sangeskunst, sondern gleichberechtigt die darstellerische Qualität den Erfolg der Darbietung ausmachte. In einer Produktion, die weitgehend auf Requisiten, geschweige denn ein opulentes Bühnenbild verzichtete, in und hinter dem man sich als Darsteller „verstecken“ könnte, sind die Sänger hier mehr denn je auf die eigenen szenischen Fähigkeiten zurückgeworfen. Daß dies Konzept jedoch keine pseudo-konzertante Aufführung in Kostüm, sondern Theater-Erlebnis pur ergab, ist sowohl Verdienst einer lebendigen, authentischen Personenregie als auch eben jener großartigen Mitwirkenden. Körperlichkeit, Leidenschaft, Zerrissenheit, diese Inszenierung geht aufs Ganze. Der eigentliche Clou dabei ist, daß die inneren Emotionen der handelnden Personen offen zutage treten, wo sie im Libretto oft unter einem Panzer der Etikette verborgen bleiben. Albert mag gewählte Worte bemühen, das ändert jedoch nichts an der unverhohlenen Rivalität, mit der er Werther begegnet – Provokation bleibt eben Provokation. Warum diesen Konkurrenzkampf nicht also auch sichtbar machen, zumindest auf visueller Ebene mit offenen Karten spielen? Das Ergebnis ist von radikal erfrischender Wirkung.

Grandios, wenn beispielsweise Sophie gleichsam mit süßen Worten und umso handfesteren Schlägen das hübsch besungene Blumengebinde einsetzt, um die beiden Streithähne auseinander zu treiben. Man beachte dabei auch die Hiebhöhe – dieses unschuldige Ding weiß genau, was Sache ist. Wie entlarvend ist dieses Prinzip ebenfalls bei Albert, wenn er, sein Glück mit Charlotte besingend, jene wie eine Trophäe überaus grob an sich reißt. Oder nehmen wir die gefasste, fast schon nonnengleiche Charlotte selbst, geleitet von Pflichtbewußtsein und -Erfüllung: hier wird schon bei der ersten Begegnung mit Werther mehr als deutlich, welch Vulkan des Begehrens auch unter ihrer Oberfläche brodelt. Von nichts kommt schließlich nichts, so wird der finale Rettungsversuch an Werther – und ihrer Liebe – in seiner Bedingungslosigkeit plausibel. Wir haben es hier mit Menschen und ihren Sehnsüchten und Leidenschaften zu tun, nicht mit Abziehbildchen fürs Sturm und Drang-Sammelalbum. Letzte Kräfte werden mobilisiert, da ist es folgerichtig, die Sängerin der Charlotte vor dem Finale mit dem buchstäblichen Lauf zu Werther auch physisch einem Erschöpfungszustand auszusetzen, um eine besondere Intensität freizulegen. Meinen tiefen Respekt und Dankbarkeit an Frau Lehner und Herrn Olivares Sandoval für diese erschütternden Szenen des Abschieds. Oder doch der Erfüllung?

Unterstützt wird diese großartig lebendige Personenregie auch von den Kostümen — so schlicht oder funktional sie auf den ersten Blick anmuten mögen. Hier sind es die Details der verschiedenen Gebrauchs-Baumwoll-Variationen. Der lange Rock der verschlossenen Charlotte. Die neckischen Ärmel der lebenslustigen Schwester. Die ausgestopften breiten Schultern Alberts. Der rote Kapuzenpulli Werthers, der ihn, am Ende des ersten Aktes abgelegt als Ausdruck seiner Liebe, nun ganz in Schwarz gekleidet bereits als Todgeweihten ausweist – obwohl Werther noch auf der Bühne steht, nehmen ihn die übrigen nicht mehr wahr, die festliche Maskerade gerät als Ansammlung verschiedener Boten der Vergänglichkeit zur Groteske. Überhaupt das einfache Element der Kapuzen, die, einmal übergeworfen, emotionale Abschottung der Träger ebenso simpel wie deutlich kennzeichnen. Die Inszenierung ist überreich an diesen kleinen Details mit großer Wirkung. Wie sich Werther endgültig des Pullovers und seiner Schuhe entledigt, als symbolische Geste für die Vorbereitung des Suizid. Wie er da einfach am äußersten Rand der kleinen Bühne steht, in einen imaginären Abgrund blickend, läßt das Nichts zum Schlund in ihm werden.

Wir als Zuschauer nehmen an diesen intimen Momenten Teil, verdeutlicht durch die Erleuchtung des Saales und begleiten das Paar auf seinem letzten gemeinsamen Weg. Hier ist kein Platz für Voyeurismus, dem Mitgefühl allein gehören die letzten Minuten eines denkwürdigen Abends.


Jules Massenet – Werther
Musikalische Leitung – Daniel Mayr
Inszenierung – Felix Rothenhäusler
Bühne – Natascha von Steiger
Kostüme – Elke von Sivers
Licht – Frédéric Dautier
Dramaturgie – Sylvia Roth
Kinderchor – Alice Meregaglia

Werther – Luis Olivares Sandoval
Charlotte – Nadine Lehner
Albert – Peter Schöne
Sophie – Marysol Schalit
Bailli, Vater von Charlotte – Loren Lang
Freunde von Bailli:
Schmidt – Christian-Andreas Engelhardt
Johann – Johannes Scheffler

Kinderchor des Theater Bremen
Bremer Philharmoniker

22. Mai 2016

Von Babelsberg nach Hollywood – Ana-Maria Dafova.
Theater Hagen.

15:00 Uhr, Rangloge links, Loge 4, Platz 1


Naked Gun Theme (Die nackte Kanone, USA 1988) – Ira Newborn
Sei hier Gast (Die Schöne und das Biest, USA 1991) – Alan Menken, Howard Ashman
Theme from Mission: Impossible (Mission; Impossible, USA, 1996) – Lalo Schifrin
Diamonds are a girl’s best friend (Blondinen bevorzugt, USA 1953) – Jule Styne, Leo Robin, Carol Channing
Return to sender (Girls! Girls! Girls!, USA 1962) – Winfield Scott, Otis Blackwell
Gonna fly now (Rocky, USA 1976) – Bill Conti
Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt / Ich bin die fesche Lola (Der Blaue Engel, D 1930) – Friedrich Holländer, Robert Liebmann
I wan’na be like you (Das Dschungelbuch, USA 1967) – Richard M. & Robert B. Sherman
Comptine d’un autre été (Die fabelhafte Welt der Amelie, F 2001) – Yann Tiersen
Who wants to live forever (Highlander – Es kann nur einen geben, USA 1986) – Brian May
La-Le-Lu / Wenn der Vater mit dem Sohne (Wenn der Vater mit dem Sohne, D 1955) – Heino Gaze
Miss Marple Theme (16 Uhr 50 ab Paddington, GB 1961) – Ron Goodwin
James Bond Theme (James Bond, GB 1962) – Monty Norman, John Barry
Goldfinger (James Bond: Goldfinger, GB 1964) – John Barry, Leslie Bricusse, Anthony Newley
Feather Theme (Forrest Gump, USA 1994) – Alan Silvestri
Chim-Chim-Cheree / Step in time (Mary Poppins, USA 1964) – Richard M. & Robert B. Sherman

(Pause)

20th Century Fox-Fanfare (USA 1933) – Alfred Newman
Star Wars – Main Title (Krieg der Sterne, USA 1977) – John Williams
Cheek to cheek (Ich tanze mich in dein Herz hinein, USA 1935) – Irving Berlin, Mark Sandrich
Ich brech die Herzen der stolzesten Frau’n (Fünf Millionen suchen einen Erben, D 1938) – Lothar Brühne, Bruno Balz
Das Boot (Das Boot, D 1981) – Klaus Doldinger
(Everything I do) I do it for you (Robin Hood – König der Diebe, USA 1991) – Bryan Adams, Robert John Lange, Michael Kamen
Men in tights (Robin Hood – Helden in Strumpfhosen, USA 1993) – Mel Brooks
The Good, the Bad and the Ugly (Zwei glorreiche Halunken, I 1966) – Ennio Morricone
Moonriver (Frühstück bei Tiffany, USA 1961) – Henry Mancini, John Mercer
Le Jazz hot (Victor/Victoria, USA 1982) – Henry Mancini, Leslie Bricusse
Pink Panther Theme (Der rosarote Panther, USA 1963) – Henry Mancini
Stayin’ Alive (Saturday Night Fever, USA 1977) – Barry, Robin & Maurice Gibb
Out here on my own (Fame, USA 1980) – Michael Gore, Leslie Gore
Live and let die (James Bond: Leben und sterben lassen, GB 1973) – Linda & Paul McCartney
Happy (Ich – einfach unverbesserlich 2, USA 2013) – Pharrell Williams
Zugabe: Always look on the Bright Side of Life (Das Leben des Brian, GB 1979) – Eric Idle



Mehr als 30 Programmpunkte in Hagen – neuer Rekord! Da sollte doch für jeden was dabei sein. Was sich vielleicht wie der süffisante Einstieg in eine naserümpfende U-Musik-Schelte ausnimmt, gerät im Gegenteil zur Wiederauffrischung des Faszinosums, was Filmmusik alles sein kann – und wen alles sie doch auf diesen verschiedenen Wegen anspricht. Dabei bildete jene bunte Revue wiederum nur einen kleinen Teil der Ausprägungen ab, welche in der Welt der Filmmusik anzutreffen sind, ging es doch heute in erster Linie um das Genre des Film-Songs oder eben Film-Schlagers – angereichert durch einige der beliebtesten Themen der Kinogeschichte. Ich persönlich hätte wohl lieber mehr vom instrumentalen Kaliber eines John Williams oder Ennio Morricone genossen, ja gern auch Werke von Max Steiner, Miklós Rózsa, Bernard Herrmann, Maurice Jarre, Jerry Goldsmith und wie sie alle heißen, aber das Konzept von Thilo Borowczak und Imme Winckelmann war ein anderes, nicht minder interessantes.

Lieder, Songs, Schlager – nicht allein für das Genre des Film-Musicals gab und gibt es Gesangsnummern, die, ob dramaturgisch in die Handlung eingebunden oder als Untermalung des Vor- oder Abspanns, zu beliebten Evergreens wurden, ja teilweise ein höchst vitales Eigenleben im kollektiven Gedächtnis führen. Aus diesen beliebten Nummern wiederum einen bunten Abend bzw. Nachmittag zu gestalten, wurde vom Theater Hagen mit sehr viel Aufwand, Energie und Liebe zum Detail realisiert. Dabei wurde jedes Stück mit einer eigenen Choreografie und/oder eigens gestalteten Videoclips bedacht. Zwischenzeitlich wähnte man sich im Musikteil vergangener großer Samstagabendshows, komplett mit Showtreppe, Ballett und flammenden Bühneneffekten. Meine Hochachtung, mit welcher Akribie und vor allem nicht ohne Humor die Ideen entwickelt wurden – gleich der Einstieg, der zu den Klängen der „Nackten Kanone“ analog zum Filmintro aus der vermeintlichen Dachperspektive eines Streifenwagens dessen „Fahrt“ durch Bühnentrakt und Foyers des Theaters Hagen präsentierte, machte deutlich, dass hier Filmenthusiasten am Werk waren.

Ob Rocky-Boxer-Pathos oder skurril-humoristisches Miss Marple-Ballett, ob affiger Dschungelbuchüberschwang oder innige Hepburn-Reminiszenz, Leises neben Lautem, Albernes neben Rührendem – die Zeit verflog angesichts eines abwechslungsreichen, kurzweiligen Bilderbogens, der in herzerfrischender Leichtigkeit beste Unterhaltung bot. Es war schon allein eine Freude, die „Ah“s und „Oh“s aus dem Publikums angesichts eines persönlichen Film-Favoriten zu erleben, hier wurde die Floskel „Für Jung und Alt“ spür- und sichtbar mit mehr als zwei Stunden Inhalt gefüllt. Ich habe zugegebenermaßen ein wenig gebraucht, um bei den Sängern gedanklich von Opernmodus auf, ich nenne es mal, Musicalzugang umzustellen, verstärkte Gesangsstimmen im Theater sind für mich doch etwas gewöhnungsbedürftig. Aber auch diese Hürde gab sich nach kurzer Zeit – Verve, Einfühlungsvermögen und Wandelbarkeit des Ensembles taten ihr Übriges. 

Musikalisch besonders interessant war der vielseitige Einsatz des Orchesters, welches vom Bigbandsound über Rockhymne bis hin zu „klassischer“ Sinfonik jeweils den ureigenen Charakter der Werke unter der umsichtigen Stabführung Frau Dafovas stilsicher traf. Das Theater Hagen zeigt mit dieser Produktion, dass es im Zusammenspiel all seiner Abteilungen, Chor und Ballett inbegriffen, Großes und Großartiges auf die Beine zu stellen vermag. Ich hoffe inständig, dass die Diskussion über Sparmaßnahmen, die ich am Rande mitbekommen habe, den hier empfundenen Elan nicht ausbremsen wird.


Idee und Konzept: Thilo Borowczak, Imme Winckelmann
Arrangements: Andres Reukauf sowie Thomas Guthoff, Julius Czwakiel, Rolf Discher

Musikalische Leitung – Ana-Maria Dafova
Inszenierung – Thilo Borowczak, Ricardo Fernando
Choreografie – Ricardo Fernando
Bühne – Jan Bammes
Kostüme – Christiane Luz
Video – Volker Köster
Licht – Martin Gehrke
Chor – Wolfgang Müller-Salow
Studienleitung – Steffen Müller-Gabriel
Musikalische Einstudierung – Ana-Maria Dafova, Andrey Doynikov, Silvia Vassallo Paleologo

Solisten:
Marilyn Bennett
Carina Sandhaus
Richard van Gemert
Kenneth Mattice
Tillmann Schnieders
Hannes Staffler

Philharmonisches Orchester Hagen
Chor des Theater Hagen
Ballett des Theater Hagen
Statisterie des Theater Hagen

21. Mai 2016

Die tote Stadt – Patrik Ringborg.
Staatstheater Kassel.

19:00 Uhr Einführung, 19:30 Uhr, Orchestersessel rechts, Reihe 1, Platz 9



Selten erfüllte sich die abgegriffene Binsenweisheit, man möge ein Buch nicht nach dem Einband beurteilen, eindrucksvoller, als heute im Staatstheater Kassel. Der Einband besteht in Kassel aus dem Zusammenspiel verschiedener Gebäudekompartimente, die in einer besonders traurigen Symbiose aus 5oer-Bahnhofsvorhallenoptik und drangehusteter Gewerkekaserne in abwaschbarer Nullästhetik an Trostlosigkeit kaum zu überbieten ist. Weder imposant noch elegant, weder triumphal noch radikal biedert es am Rande einer Sandeinöde in Documenta-Spuckweite vor sich hin, bekrönt von lustig bunten Lettern, die wie eine ironische Replik auf den staatstragenden Titel wirken. Und doch sollte sich just unter dem provinziellen Dach dieser Abtörner-Architektur Musiktheater auf höchstem Niveau ereignen.


Die Entscheidung der Regie, Marie durch eine Schauspielerin als stumme Rolle nahezu permanent am Geschehen teilhaben zu lassen, gibt diesem Phantom, oder vielleicht treffender der Projektionsfläche für Pauls Erinnerung und Hoffnung, selbstkasteiende Verklärung und ungebrochenes Verlangen, mehr als nur ein gerahmtes Gesicht. Eva Maria Sommersberg ist nicht allein auf Fotografien und bühnenfüllenden Videoinstallationen allgegenwärtig, sondern interagiert direkt und indirekt als geisterhafte Bewohnerin der Kirche des Gewesenen, die nur Paul tatsächlich wahrzunehmen vermag, mit den Sängerdarstellern. So flüstert sie Paul die zweite Strophe des traurigen Liedes ein, in welcher der Auferstehungsgedanke ausgesprochen wird oder lastet ganz konkret wie Füsslis Nachtmahr schwer auf Brust und Gewissen des Witwers und appelliert nicht minder verführerisch als ihre lebendige Konkurrentin an die gemeinsam gelebte Lust. Den Höhepunkt dieser Verkörperlichung der Zerrissenheit Pauls markiert die Erscheinung Mariens als blutbefleckte Gekreuzigte in seiner fieberhaften Prozessions-Vision. „Mysterium corporis“ raunt der Chor am Ende dieser Szene, die die Regie somit ganz wörtlich ebenso drastisch wie plastisch als Kulmination der Privatreligion Pauls umsetzt. Die Leistung Sommersbergs sowie ihr Stellenwert für diese Inszenierung kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Charisma, Hingabe, Verausgabung – ihre intensive Darstellung allein macht den Besuch zum Gewinn.

Und gewonnen wird hier in Kassel auf jeder weiteren Ebene. Die Sänger, allen voran Charles Workman in der Rolle des Paul, tragen ihren Teil zum Gelingen einer intensiven, körperlichen Personenregie bei, in der äußerst realistisch mit einander und sich selbst gerungen wird. Brigitta zwischen Treue und heimlicher Zuneigung, Frank zwischen Freundschaft und Verrat, Marietta zwischen Spiel und Ernst, Paul schließlich zwischen Wahn und Wirklichkeit – immer vor dem Hintergrund, daß wir hier wohl mehr die inneren Dämonen Pauls, als seine Mitmenschen erleben. Traum bleibt Traum, trotzdem auch eine spannende Ambivalenz, wenn beispielsweise der „Rivale“ Frank nach Ende der Illusion beim Abgehen Mariettas ganz real mit ihr flirtet. Die heilsame Wirkung des Traumes für Paul scheint mir in dieser Inszenierung weniger zweideutig angelegt, als ich es sonst oft erlebt habe, wenn der Versuch, die tote Stadt zu verlassen, als Suizid-Absicht angedeutet wird. Hier verabschiedet sich Paul mit einem Kuss von seiner Marie, erstickt die Erscheinung damit, befreit sich in einem schmerzhaften, gewaltsamen Akt von ihr und verlässt die Bühne durch mehrere leuchtende Rahmen. Melancholie bleibt, aber auch Hoffnung.

Stimmlich hat mir Herr Workman besonders gut gefallen. Sein Organ zeichnet sich nicht unbedingt durch Schmelz und heldisches Gepräge aus, vermittelt allerdings unglaublich viel Charakter. Mag es ihm bei manchem Spitzenton vielleicht an Strahlkraft mangeln, hält sein Vortrag doch genau jene Nuancen und Intensität bereit, die aus einer gesungenen Partie eine Persönlichkeit machen. Darüber hinaus ist Workmans Artikulation vorbildlich, die Textverständlichkeit zu hundert Prozent gegeben. Aus einem durchgehend starken Ensemble wußte sich Hansung Yoo mit seinem kurzen Auftritt als Fritz in Herz und Erinnerung zu verankern, indem er die Arie des Pierrots so voller Wohlklang und Sehnsucht darbot, wie ich sie zumindest live noch nicht erleben durfte. Das Staatsorchester Kassel unter der Leitung Patrik Ringborgs unterstrich eindrucksvoll die Qualität dieses Hauses und brachte die Partitur stellenweise regelrecht zum Glühen. So sehr ich über die äußere Erscheinung des Theaters gelästert haben mag, so nachhaltig hat mich doch seine umwerfende Akustik in seinen Bann gezogen. Einzig ein bestimmter, wiederholt verwendeter Klangeffekt – vielleicht das Harmonium oder eine (simulierte?) Orgel – wollte sich nicht so recht in den Gesamtklang integrieren, zumindest fiel mir dies von der ersten Reihe aus auf. Bei einer solch differenzierten, wuchtig-mitreißenden Leistung allerdings nur eine unbedeutende Randnotiz.

Fazit: Wer die tote Stadt liebt, kommt um Kassel nicht herum.


Erich Wolfgang Korngold – Die tote Stadt
Musikalische Leitung – Patrik Ringborg
Inszenierung – Markus Dietz
Bühne – Mayke Hegger
Kostüme – Henrike Bromber
Dramaturgie – Jürgen Otten
Choreografische Mitarbeit – Lillian Stillwell
Video – Michael Lindner
Licht – Albert Geisel
Chor – Marco Zeiser Celesti
CANTAMUS-Chor – Maria Radzikhovsky

Paul – Charles Workman
Marietta, Tänzerin / Erscheinung Mariens – Celine Byrne
Marie, stumme Rolle – Eva Maria Sommersberg
Frank, Pauls Freund – Marian Pop
Brigitta, Haushälterin bei Paul – Marta Herman
Juliette, Tänzerin – Lin Lin Fan
Lucienne, Tänzerin – Maren Engelhardt
Victorin, Regisseur in Mariettas Truppe – Paulo Paolillo
Fritz, Pierrot – Hansung Yoo
Graf Albert – Johannes An

Staatsorchester Kassel
Opernchor und CANTAMUS-Chor des Staatstheaters Kassel

17. Mai 2016

Kopatchinskaja, Hinterhäuser,
Ensemble Gilles Binchois.
St. Katharinen Hamburg.

20:00 Uhr, Mittelschiff rechts, Reihe 10, Platz 2


Anonymus – Mundus vergens / Conductus quadruplum
Anonymus – Deus pacis / Conductus duplum
Anonymus – O Maria, mater pia / Motette triplum
Leoninus, Perotinus – Benedicamus domino / Organum duplum
Galina Ustwolskaja – Sonate für Violine und Klavier
Perotinus – Beata viscera / Conductus 
Anonymus – Ave maris stella / Conductus triplum

(Pause)

Perotinus – Sederunt principies / Organum quadruplum
Galina Ustwolskaja – Duett für Violine und Klavier

(Patricia Kopatchinskaja – Violine, Markus Hinterhäuser – Klavier, Ensemble Gilles Binchois)


Wer besucht ein solches Konzert? Neugierige? Mittelalterfreunde? Donaueschingen-Devotionalisten? Oder ist das Gros der Besucher – wie ich selbst – einfach dem Namen des charismatischen Wirbelwinds ins Gestühl St. Katharinens gefolgt? Wie dem auch sei, mit dem Dargebotenen hätte ich jedenfalls so nicht gerechnet. Gut, hätte ich halt den Fahrplan vorher konsultiert, soll ja helfen. Auf der anderen Seite werde ich in der Regel nicht müde, mangelnde Offenheit zum Gegenstand meiner mit Liebe gepflegten Kopfschütteleien zu kiesen. Also die Lauscher aufgestellt und Konzentration für ein besonderes Kontrastprogramm.

Spannen wir den Bogen von einer Zeit, als die Mehrstimmigkeit mit großen Schritten ihren Kinderschuhen in die weite Musikwelt entstieg, hin zum widerborstigen Privat-Kosmos der Galina Ustwolskaja. Beides läuft bei mir ein bisschen unter Telekolleg Musik ohne TV-Gerät, aber gegen Weiterbildung sollte man sich im Übrigen nicht sperren. Die Sänger des Ensemble Gilles Binchois überraschen den Bombast-gewohnten Konzertgänger mit maximal einer Vierzahl von Stimmen, die in einem Akt musikalischer Askese das enorme Kirchenschiff diskret aber mit erhabener Intensität beschallen. Diese Reduktion auf das Nötigste, man könnte auch sagen Wesentliche, lenkt den Fokus auf die Wechselwirkung der Stimmfächer und die Gestalt des unter diesen akustischen Gegebenheiten entstehenden Klanges. Keine Überwältigungsmusik, sondern ein stetiger Strom der Ausgewogenheit. Spannend: Selbst die einzelne Stimme klingt unter diesen Bedingungen nicht „allein“ – der gewaltige Nachhall lässt unmittelbar Entstehendes und parallel Vergehendes aufeinander wirken, der Solist folgt seinem eigenen Abbild in harmonischem Abstand. Ich kann nicht sagen, dass die Kompositionen selbst eine starke Anziehungskraft auf mich ausüben würden, dennoch geht eine gewisse abstrakte Faszination von ihnen aus. Spricht auch nichts dagegen, sich interessehalber mal einen Quastenflosser anzuschauen – nichts desto trotz muss man ihn ja nicht zwangsläufig in den persönlichen Speiseplan integrieren.

Ob es sich bei den Werken Galina Ustwolskajas um Kiemen- oder Lungenatmer handelt, kann ich nicht sagen, der vielleicht erste Eindruck anorganischer Materie hat allerdings nicht darüber hinwegtäuschen können, dass wir hier eine tief empfundene Musik erleben dürfen. Ins Herz schließen werde ich wohl auch diese Areale der musikalischen Landkarte nicht, aber ich bin doch froh, sie zumindest für die Dauer des Abends erkundet zu haben. Die Vehemenz, vielmehr Penetranz im Sinne einer stetig bohrenden, nicht nachlassenden Intensität, in welcher sich ein erschütternd-erschüttertes fragiles Etwas über unzählige Stufen hinweg dem Hörer einhämmert, bisweilen auch kaum wahrnehmbar einritzt, nötigt mir definitiv Respekt ab. Ich weiß nicht, ob der Begriff Bewunderung hier zulässig ist – unzweifelhaft allerdings bezogen auf den kompromisslosen Vortrag der beiden Solisten. Irisierende Klänge der Violine, kristallklares Flageolett, verlöschend, am anderen Ende der Ausdruckspalette spröde, trotzige Hiebe mit dem Bogen, Pendant zu den erbarmungslosen Schlägen des Klaviers, welches genauso unvermittelt verwunschenen Harfenklang annimmt. Strukturell und klanglich sind das ohne Zweifel zwingende, fesselnde Werke, stilistisch holt mich das Ganze weniger ab, bindet mich – zumindest nach dem ersten Hören – emotional kaum, ich bleibe an der äußerlichen Geste hängen und vermag nicht zum Kern vordringen. Oder anders ausgedrückt: Ustwolskaja beschäftigt, aber berührt mich nicht.

Fazit: Zwei Wegmarken der Musik, zweimal Staunen statt Schwelgen.