12. Februar 2016

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks –
Mariss Jansons. Gasteig München.

20:00 Uhr, Block H, Reihe 6, Platz 27/28



Überraschungsstück: Bohuslav Martinu – Mahnmal für Lidice
Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 7 C-Dur op. 60 „Leningrader“


Mein zweiter Ausflug in den oft gescholtenen Gasteig, diesmal auf ordentlichen Plätzen. Als Traumsaal geht dieser Riesentrichter sicher nicht durch, aber miserabel ist der Klang auf keinen Fall. Ich sehe eher Parallelen zur „objektiven“ Akustik der Berliner Philharmonie, bei der ebenfalls einiges an Energie auf der Bühne aufgewendet werden muss, um als Zuhörer angefasst zu werden.

Der erste Eindruck in Block H ist etwas dumpf, im weiteren Verlauf haben es die Streicher mitunter schwer, sich gegen den Rest zu behaupten, was sicher nicht an der Qualität von Material und Ausführenden liegt. Die Ortbarkeit ist ein Pluspunkt, eine differenzierte Wahrnehmung ist problemlos möglich, der Gesamteindruck ist homogen – vom Streicherproblem einmal abgesehen. Natürlich bleibt ein Höreindruck immer subjektiv und dem eigenen Geschmack verhaftet, ich persönlich würde jetzt nicht unbedingt für ein besonders interessantes Orchestergastspiel diesen Saal wählen, sondern lieber den Weg nach Köln antreten.

Die Reise nach München war in diesem Fall jedoch jeden Bahnkilometer wert. Mag ich auch noch so gespannt auf die Elbphilharmonie und ihre hoffentlich überragende Akustik sein, angesichts der hier erlebten unanzweifelbaren Weltklasse des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks fällt der Vergleich mit den nördlichen Rundfunkkollegen für die designierten Residenzler mehr als nüchtern aus. Da kann man noch so viele Marketingkniffe und Etikettenwechsel bei den Hanseaten bemühen, das bayrische Pendant spielt einfach in einer anderen Liga, das wurde heute wieder mehr als deutlich. Ich gönne den Münchnern jedenfalls von ganzem Herzen die Entscheidung für einen neuen Saal und hoffe auf viele Gastspiele an der Elbe.

Das Konzept des Überraschungsstückes ist mir als fester Bestandteil eines Abokonzert auch noch nicht begegnet, eher bei einer Gala oder anderen festlichen Anlässen und natürlich als Zugabe. Hier allerdings wird die musikalische Wundertüte mit Beginn des Konzerts geöffnet und von Maestro Jansons auch erst benannt, nachdem das Werk verklungen ist. Keine schlechte Sache, so blieben etwa zehn Minuten Spieldauer, um ein mir unbekanntes Werk kennenzulernen und gleichzeitig über seinen möglichen Urheber zu rätseln.

Ich muss gestehen, dass ich nicht darauf gekommen bin – ich habe das beeindruckende, tonale, aber immer wieder mit dynamischen Ausbrüchen und Dissonanzen versetzte Stück irgendwo bei Charles Ives oder einem Zeitgenossen einsortiert, obwohl mir Bohuslav Martinu durchaus ein Begriff ist. Wieder was gelernt. Schönes Detail: Nach dem Konzert erhält man beim Verlassen des Saales eine einzelne Seite mit Informationen zum Überraschungsstück, die wie ein großer Sticker an die entsprechende Stelle ins Programmheft geklebt werden kann. Auch in diesem Punkt zeigt München Substanz.

Die Schostakowitsch-Sinfonie nutzten Dirigent und Orchester gleichermaßen zur Einlösung der Definition von Weltniveau. Insbesondere die Präzision im Zusammenspiel innerhalb der einzelnen Stimmen und untereinander ist überwältigend. Hinzu kommen technische Perfektion und Klangfarben, die sowohl die in sich gekehrten, sehnsüchtigen Passagen, als auch die gewaltigen, teilweise brutalen Steigerungen idealtypisch abbilden und die Zerrissenheit dieser Musik auf das erschütterndste einfangen. Auch wenn es sich dabei nur um ein winziges Detail handelt, hätte ich beispielsweise kaum für möglich gehalten, wie zart das Piccolo-Solo klingen kann. In der Gesamtwirkung lässt sich kein Orchesterteil guten Gewissens hervorheben – die Vollkommenheit erstreckte sich über den kompletten Klangkörper.

Wie Mariss Jansons schließlich mit seinen außergewöhnlichen Musikern dieses Seelendrama in der legitimen Nachfolge Mahlers Gestalt werden lässt, erfüllt mich als Schostakowitsch-Liebhaber mit tiefer Dankbarkeit. Transparenz und Verdichtung, Zartheit und Unerbittlichkeit, Wehmut und Trotz – Jansons belässt es nicht bei oberflächlichen Kontrasten, sondern entlockt dem Notentext das innere Ringen, das Streben nach Menschlichkeit in einer unmenschlichen Welt. Eine Klage gegen Unterdrückung, die weit über die Geschehnisse der Entstehungszeit und vermeintlich einfache Deutungen hinausgeht (Das vorzügliche Programmheft hält dazu einiges Wissenswerte bereit), der eben jene Tiefe und Universalität innewohnt, die wahrhaft bedeutende Musik auszeichnet.

7. Februar 2016

Don Giovanni – Hendrik Haas.
Theater Ulm.

19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 60



Leporello spricht mir aus der Seele: „Die Musik kommt mir zu den Ohren raus!“ Zwei, drei schöne Stücke und ein brauchbarer Showdown, verteilt über mehr als drei Stunden Fluchtversuch-Variationen des Titelhelden – das ist also die „Oper der Opern“. Wenn die Häscher nur ein wenig mehr auf Zack gewesen wären, und Don Ottavio seine Knarre nicht bloß zur Zierde herumtrüge, hätte man sich den kompletten zweiten Akt und mir einen Sack voll Langeweile sparen können. Nun ja, alles in allem war es, abgesehen vom gebotenen Werk, an sich ein richtig guter Abend hier in Ulm, denn sowohl musikalisch wie szenisch durfte ich eine starke Produktion erleben.

Der Garten der Lüste wird ausgehoben – so könnte man den Grundgedanken der Inszenierung zusammenfassen. Exotische Flora dominiert anfangs die Bühne, ein kleiner Urwald, in dem die Pflanzen zum Teil den Wuchs weiblicher Rundungen angenommen haben. Ein sinnig-sinnliches Bild für den Bestäubungstrieb des Herzensbrechers. An eben diese gebrochenen Herzen gemahnen endlose Papiertaschentuch-Lianen, die vom Schnürboden herabhängen. Doch spätestens am Ende des ersten Akts kündigt sich die Zeitenwende an: in Form eines riesigen Bagger-Arms, der sich aus der Höhe bedrohlich auf die Szenerie senkt.

Mit Beginn des folgenden Aktes ist der Wandel vollzogen. Der Garten ist einer umzäunten Baustellengrube gewichen, über welcher der Bagger thront. Die Zeiten ändern sich – auch für adlige Schwerenöter – diese Erkenntnis greift nicht allein inhaltlich mit dem Fortschreiten der Handlung Raum, sondern eben auch äußerlich. Selbst die Erscheinung der Mitwirkenden zeugt davon. Hüllten sich jene im ersten Akt noch in schwarze, stilisierte Kostüme des Absolutismus, hat nach der Pause ein Garderoben- und Frisurenwechsel in Richtung Anfangsjahrzehnte des 20. Jahrhunderts stattgefunden. Wobei sich die Standesunterschiede interessanterweise immer noch in Details der Kleidung äußern – so trägt Masetto nun einen schlichten Anzug, während unter anderem die kunstvollen Applikationen auf Don Ottavios Hemd weiterhin Hinweis auf dessen gehobene Stellung geben.

Don Giovanni selbst tritt barfuß auf, den freien Oberkörper unter einem langen schwarzen Rock verborgen, der die Frivolität seines Auftritts wie eine Art Bademantel unterstreicht, den er jederzeit abzustreifen gewillt ist. Genau so wie ihn dieses Auftreten als Freigeist und Sinnesmenschen charakterisiert, nimmt es ihn von dem allgemeinen Wandel der Mode aus – im optischen wie übertragenen Sinne. Er ist und bleibt ganz Relikt einer überkommenen Zeit – das Adelsprädikat „Don“ in seinem Namen darf für den Erfolg seiner „Karriere“ sicher nicht unterschätzt werden. So ist denn die Einordnung als romantischer Edelmann und Herzensbrecher oder Wüstling, der seine Privilegien mißbraucht, um notorische Triebhaftigkeit zu befriedigen, immer auch eine Frage der Perspektive und des Grades an Verklärung, den man solchen „Heldentaten“ einräumt.

Die Ulmer Inszenierung bezieht hier recht eindeutig Stellung. Ihr Don Giovanni ist zweifellos charismatisch, aber kein Übermann, eher allzu sehr von sich überzeugter Egomane, der den Bogen diesmal überspannt hat. Zu viele angefangene oder auch nur angestrebte Techtelmechtel verstricken den Macho in ein Netz, dem er sich eigentlich nurmehr pausenlos zu entwinden sucht, anstatt seiner unendlichen Eroberungsliste tatsächlich neue Einträge des Vollzugs hinzuzufügen. Diverse Türen mit darüber leuchtendem Notausgangsschild verweisen auf dieses Dilemma, doch der Flüchtige nimmt keine der Optionen wirklich wahr.

Die finale Freveltat der Toteneinladung ist dann der Sargnagel dieser Komme-was-wolle-Attitüde, zuvor mehrfach angedeutet im Auftreten immer weiterer Inkarnationen des Komturs, schwarze, gesichtslose Todesboten, die Don Giovannis Treiben beobachten und langsam einkreisen. Am Ende ist jeder ein Teil dieser Racheengel-Auflösung, während der Bagger als Symbol einer neuen Zeit die dekadente Tafel mitsamt des unbelehrbaren Gastgebers zertrümmert. Der Epilog beschert dem Verführer einen letzten bezeichnenden Auftritt: Don Giovanni steht am Bühnenrand und versucht, eine weitere junge Dame zu betören, indem er ihr eine exotische Blume – letztes Relikt seines Zaubergartes – entgegenstreckt. Doch die potenzielle Eroberung würdigt ihn keines Blickes und läßt ihn stehen, die Magie wirkt nicht mehr.

Was mir an der Ulmer Umsetzung besonders gefällt, ist die Liebe zum Detail, mit der auch die übrigen Rollen beleuchtet und ihre jeweiligen Beweggründe plausibel dargelegt werden. Dies wird in erster Linie durch eine intelligente Personenregie gelöst, welche die Protagonisten besonders auch in den ariosen Momenten narrativen Stillstandes abseits jeder Rampensteherei szenische Tiefe verleiht. Spannend, wie sich Don Ottavio beispielsweise seine – wohl gemerkt von Donna Anna – zur Faust geballte Hand ansieht, sich gewissermaßen mit dem Gedanken der Rache anzufreunden scheint, um in der darauf folgenden Arie, angesichts der notwendigen Konsequenzen, sein schwankendes Herz erst zur Entschlossenheit führen muss – illustriert durch die mittels akzentuierten Lichteinfall akzentuierte Waffe, die er erst zögerlich, dann mit festem Griff an sich nimmt.

Oder die ganze Anlage der Rolle der Donna Elvira, deren kugelrunder Bauch anfangs sehr deutlich ihre Motivation erklärt, den Womanizer so hartnäckig an seine Pflichten zu erinnern und andere Damen vor ihm zu warnen. Eine tragische Färbung bekommt dieser Charakter in dem Moment, da sie im zweiten Akt ein Kissen unter ihrer Kleidung hervorzieht und wir den Inhalt des Reisekoffers gewahr werden, den sie permanent mit sich führt: Ein transportabler Schrein für den Verflossenen. Diese Donna Elvira ist einerseits, wie die übrigen Verfolger, getrieben von Rachegelüsten gegen Don Giovanni, kann andererseits jedoch auch nicht von ihm und der Erinnerung an die gemeinsame Zeit lassen. Täuscht sie eine Schwangerschaft vor, um ihn zurückzugewinnen, oder hat sie gar ein gemeinsames Kind verloren? Letzteres könnte man vermuten, wenn sie einer weiteren Komtur-Inkarnation eine Säuglingspuppe aus ihrem Koffer überreicht. So oder so, diese Frau ist zerrissen, das wird in der Arbeit des Regieteams sehr deutlich und anrührend gestaltet.

Darüber hinaus muss ich sagen, dass Frau Rosendorfsky diese Gestalt auch durch die Kraft ihrer darstellerischen Präsenz sowie zauberhaften Stimme prägt und in meinen Augen daher das heimliche Zentrum des Abends darstellte. Gerade auch ihre innigen Momente boten – neben der Arie „Dalla sua pace“ Don Ottavios, hervorragend dargeboten durch Herrn Sigurdsson – die musikalischen Höhepunkte, Inseln wahrer Einbindung und Anteilnahme, beachtlich vor allem vor der Tatsache, dass mich dieses Werk, wie bereits erwähnt, weitgehend kalt lässt. Generell hat mir die Ulmer Besetzung gut gefallen, auch Kwang-Keun Lee überzeugt in der Titelpartie mit Wohlklang und Charisma, einzig I Chiao Shih wies als Zerlina hier und da eine leichte Schärfe in der Stimme auf, war aber nichts Dramatisches.

Das wirkliche Drama ist und bleibt mein Verhältnis zu Mozart. Nach all meinen mehr oder minder glücklosen Konzertbegegnungen mit diesem Komponisten hatte ich mir ein Herz gefasst, es noch einmal mit Musiktheater zu versuchen; Die wenigen Don Giovanni-Eindrücke von CD in die lebendige Wirkung der Bühne zu überführen – letztlich leider nur ein weiteres gescheitertes Experiment. Ich denke, ich belasse es fürs Erste dabei. Wenn nicht einmal diese Oper zündet, werde ich von den übrigen Figaros, Entführungen oder Così fan tuttes lieber die Finger lassen, gerade auch angesichts der Unmengen spannender, reichhaltiger Werke, die sich wohlbekannt oder noch unentdeckt in den Spielplänen tummeln. Der Kontrast zum gestrigen Meyerbeer in Karlsruhe hat mir da wieder die Augen geöffnet.


Wolfgang Amadeus Mozart – Don Giovanni
Musikalische Leitung – Hendrik Haas
Inszenierung – Matthias Kaiser
Bühne – Marianne Hollenstein
Kostüme – Angela C. Schuett
Licht – Marcus Denk
Choreinstudierung – Hendrik Haas
Dramaturgie – Benjamin Künzel

Don Giovanni – Kwang-Keun Lee
Il Commendatore / Masetto – Mario Klein
Donna Anna – Edith Lorans
Don Ottavio – Thorsten Sigurdsson
Donna Elvira – Maria Rosendorfsky
Leporello – Tomasz Katunzy
Zerlina – I Chiao Shih

Opernchor des Theaters Ulm
Statisterie des Theaters Ulm
Das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm
Alfredo Miglionico – Cembalo

6. Februar 2016

Der Prophet – Johannes Willig.
Badisches Staatstheater Karlsruhe.

15:00 Uhr, Parkett Mitte, Reihe 4, Platz 123



















Manchmal sollte man einfach mal die eigenen Unterlagen konsultieren, bevor es auf Tour geht. Man prüft ja gern Besetzung und Kapellmeister auf seine Vorlieben, mit ein wenig Recherche hätte es aber in diesem Fall beim Regieteam klingeln müssen – zeichneten Tobias Kratzer und Rainer Sellmaier doch bereits beim genialen Bremer Rosenkavalier verantwortlich (Link). So überrascht es im Nachhinein wenig, daß diesem Team auch in Karlsruhe mit dem Propheten Außergewöhnliches gelingt.


Die Verlegung der Handlung in die Gegenwart einer französischen Banlieue gerät ebenso natürlich wie sinnfällig. Der soziale Brennpunkt der Vorstadt wird zum plausiblen Nährboden für die Heilsversprechen der religiösen Eiferer und den Aufstieg ihrer Leitfigur als manipulierbares Racheprodukt einer korrupten Staatsgewalt. Gerade vor dem Hintergrund aktueller religiöser und kultureller Ressentiments resultiert aus dieser Aktualisierung ein spannender, nachdenklich stimmender Perspektivenwechsel, der die Mechanismen und Folgen eines Fundamentalismus offenlegt, der sich hier – ganz dem Libretto folgend – nicht etwa auf den Halbmond, sondern das Kreuz beruft.

Wobei die Diktion der Wiedertäufer in erschreckender Weise ein Abbild der Phrasen darstellt, mit denen vorgeblich religiös motivierte Agitatoren auch heute die Welt in Atem halten. Das ganze Vokabular des Hasses ist vertreten: Die Abgrenzung zu den Ungläubigen und Fehlgeleiteten, der Ruf nach deren Blut, die Verheißung rechtmäßiger, paradiesischer Zustände schon auf Erden. Und für all das muss das große Wort Gott herhalten. Man kennt das. Es ist das Verdienst dieser Inszenierung, das Offensichtliche zu formulieren: Es spielt keine Rolle, in welchem Gewand die Volksverhetzer und Manipulatoren in Erscheinung treten, Hass bleibt Hass und Leid bleibt Leid, egal durch welche Ideologie sie verbrämt werden.

Kommen wir zu den einzelnen Faktoren, die diese Produktion zu etwas Besonderem werden lassen. Das Bühnenbild ist nicht allein stimmungsvoll, sondern vor allem sehr dienlich, da es in Kombination mit der Drehbühne die stetigen Wechsel zwischen intimen Momenten und Massenszenen nahtlos gewährleistet. Auf der einen Seite haben wir einen zweigeschossigen Komplex, unten die trostlose Einfahrt eines Parkhauses nebst Garage, darüber die einfachen Räumlichkeiten von Fidès und Jean mit der Gastwirtschaft bzw. in diesem Falle eine Café-Bar. Die Rückseite des Aufbaus beinhaltet zusätzlich eine urbane, von einer Straßenlaterne illuminierte Hinterhofszenerie mit großer Freifläche (aufsteigende Stufen rahmen ein Basketballspielfeld), die sich für die Tableaus bestens eignet.

Gerade in der Ausgestaltung der Massenszenen zeigt sich die besondere Qualität der Regiearbeit. Hier wird nicht bloß dekorativ herumgestanden, die Personenregie umfasst bis ins letzte Detail alle Beteiligten, Choristen und Statisten eingeschlossen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür ist die Aufwiegelung der Menge durch die drei Prediger. Der musikalischen Steigerungsdramaturgie folgend, in der sich mit dem unheilvollen Choral das Gift erst schleichend und sublim ausbreitet, ist es eine Wonne, den einzelnen Reaktionen der einfachen Leute zu folgen. Nicht alle gehen sofort auf die Bibeln verteilenden Fremden ein, manche machen sich lustig oder spielen weiter Basketball, andere begegnen ihnen mit sichtbarem Argwohn. Doch nach und nach wird die Menge von den Einflüsterungen erfasst und gerät schließlich ihrerseits in einen Taumel soghaften Fanatismus, wie ich ihn selten auf einer Bühne eindringlicher und bedrohlicher dargestellt erlebt habe.

Und auch an den Details der Ausstattung merkt man, wie viel Mühe man darauf verwendet hat, das Milieu und seine Bewohner treffend abzubilden. Angefangen bei der Kleidung, die mit der ganze RTL 2-Bandbreite von Jogginghose-Unterhemd-Kombi, Ghetto-Gangster-Style bis Ed Hardy-Billig-Chic aufwartet, zu den Chromhockern und bunten Reklameschildchen der Bar, in der natürlich auf dem obligatorischen TV Fussball flimmert, beweist das Regieteam hier ein ausgesprochenes Händchen für Lokalkolorit. Die biedere Erscheinung der drei Prediger in ihren kurzärmligen Hemden, irgendwo zwischen Zeugen Jehovas und Staubsaugervertreter angesiedelt, bildet dazu den passenden Kontrast.

Hinzu kommt der dramaturgisch bereichernde Einsatz von Videosequenzen und Live-Kamera. Besonders letztere sorgt vor allem durch die eingefangenen Close-Ups der Darsteller für eine deutliche Intensivierung bestimmter Schlüsselszenen, allen voran während des „Wunders“ respektive der Leugnung der Mutter, da die Kamera die erschütternde Verzweiflung Fidès’ einfängt. Aber auch für die Demaskierung des Schmierentheaters, das Jean unter der Mitwirkung seiner Prophetenmacher veranstaltet, eignet sich dieses Medium perfekt, wenn der Zuschauer dem lächerlichen Bruch zwischen der dem Volk vorgegaukelten, triefend kitschigen Blue-Screen-Aura und tatsächlich berechnend-ausgeklügelter Studio-Propaganda-Arbeit parallel beiwohnt. Demagogen von Format wissen die Medien halt für sich zu nutzen, und Heilsversprechen verbreiten sich in TV und sozialen Netzwerken heutzutage nun mal schneller als auf Büttenpapier.

Aber auch was die Choreographie der Tanzeinlagen anbelangt, ist diese Produktion im hier und heute angekommen – Breakdance statt Ballett. Und die jungen Herren verstehen ihr Hand- bzw. Tanzwerk, Szenenapplaus für eine beeindruckende virtuose wie athletische Leistung.

Musikalisch ist diese Oper eine wahre Fundgrube, wie ich es schon bei bis jetzt jedem Werk aus der Feder Meyerbeers erleben durfte. Der Prophet folgt in meiner persönlichen Kennenlern-Reihenfolge auf Robert der Teufel und Vasco da Gama/die Afrikanerin, die berühmten Hugenotten stehen noch aus. Ich muß gestehen, daß ich an dieser Musik einen Narren gefressen habe, Koloraturenseligkeit hin oder her, bietet sie doch eine Fülle großartiger Eingebungen und beeindruckenden Abwechslungsreichtum. Gerade aus Wagnerianer-Sicht eine erfrischende Alternative für all diejenigen, welche mit den Drehorgelmelodien Verdis nicht viel anfangen können, aber einfach mal einen Abend voll inspirierter Musik ohne mythologischen Setzkasten im Gepäck genießen wollen. Wobei das nicht heißen soll, das Meyerbeers Tonkunst von schlichterer Faktur sei, ganz gewiß nicht. Mir persönlich macht es einfach Spaß, von der dramaturgischen Achterbahnfahrt in Partitur und Handlung mitgerissen zu werden – eine gute Show ist eine gute Show.

Und die wird einem hier in Karlsruhe geboten. Darstellerisch und sängerisch, ohne dabei jemanden aus dem sehr homogenen Ensemble hervorheben oder gar die immense Leistung des Chores vernachlässigen zu wollen, und ebenfalls bezogen auf Orchester und Dirigat. Angesichts solcher Abende wird es mir weiter ein Rätsel bleiben, warum eine flächendeckende Meyerbeer-Renaissance noch immer nicht abzusehen ist. Und jetzt bitte nicht mit „Es gibt kaum Sänger für diese Rollen“ kommen – wenn es danach ginge, dürfte beispielsweise auch der Tristan deutlich mehr das Schicksal einer bedrohten Spezies fristen, als es sein tatsächliches Erscheinen in den Spielplänen landauf landab abstreitet. Mut zur Innovationskraft aus dem angeblich Überkommenen, Mut zu Meyerbeer!


Giacomo Meyerbeer – Der Prophet
Musikalische Leitung – Johannes Willig
Regie – Tobias Kratzer
Bühne und Kostüme – Rainer Sellmaier
Video – Manuel Braun
Licht – Stefan Woinke
Choreografie – TruCru / Incredible Syndicate
Chor – Ulrich Wagner
Einstudierung Kinderchor – Anette Schneider
Dramaturgie – Boris Kehrmann

Jean van Leyden – Marc Heller a. G.
Fidès, seine Mutter – Giovanna Lanza a. G.
Berthe, seine Verlobte – Agnieszka Tomaszewska
Zacharias – Avtandil Kaspeli
Jonas – Matthias Wohlbrecht
Mathisen – Renatus Meszar
Graf Oberthal – Ks. Armin Kolarczyk
Wiedertäufer / 2. Offizier – Mehmet Altiparmak
1. Bäuerin – Maike Etzold
2. Bäuerin – Ursula Hamm-Keller
1. Bauer – Jan Heinrich Kuschel
2. Bauer – Marcelo Angulo
1. Wiedertäufer – Doru Cepreaga
2. Wiedertäufer – Alexander Huck
1. Bürger – Ks. Johannes Eidloth
2. Bürger – Peter Herrmann
3. Bürger – Wolfram Krohn
4. Bürger – Alexander Huck
Kinder – Markus Heinen, Gabriel Mende, Moritz Prinz, Lea Siegrist, Moritz Warnecke
1. Offizier – Andreas von Rüden
3. Offizier – Oliver Reichenbacher
Policier – Alhagie Cham
TruCru / Incredible Syndicate – Levent Gürsoy, Mohamad Khamis, Faton Kurtishaj, Michael Massa, Trung Dun Nguyen, Hakan Özer
Live-Kamera – Achim Göbel, Arne Grässer

Badische Staatskapelle, Badischer Staatsopernchor, Extrachor, Cantus Juvenum Karlsruhe e.V., Statisterie des Staatstheaters Karlsruhe