12. Juni 2016

Peter Grimes – Gabriel Feltz.
Theater Dortmund.

15:00 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 78, nach der Pause Platz 88


Den Kniff kannte ich so auch noch nicht: einfach im Programmheft dem Komponisten ein paar fingierte Aussagen in den Mund legen, um das eigene Regiekonzept gewissermaßen im Konjunktiv absegnen zu lassen. Schon klar, daß das Kurzinterview mit Britten nicht wirklich ernst gemeint und noch weniger zu nehmen ist, doch zeigt es schon, daß sich die Verantwortlichen offenbar selbst im Klaren sind, wie angreifbar ihre Interpretation ist. Dabei sind durchaus gelungene Ansätze und Details zu entdecken, mit dem kleinen Schönheitsfehler, daß leider das große Ganze nicht funktioniert – und das gleich auf mehreren Ebenen. Daß es Tilman Knabe nicht reicht, Peter Grimes als Einzelgänger und Knabenschinder zu porträtieren, sondern aus ihm gleich mal einen pädophilen Serienmörder macht, wäre dabei noch nicht einmal so schlimm, wie es sich provokanzbemüht anhört. Das Hauptproblem bei dieser Idee stellt – wie bei eigentlich allen übrigen des Regieteams – weniger das „Was“, als vielmehr das „Wie“ dar, denn auf letzteres scheint es in dieser Produktion nur eine Antwort zu geben: Von allem zuviel.

Willkommen in Asi-Town, einem kleinen Fischerdorf irgendwo an der Steilküste sozialer Norm nach der unwiederbringlichen Landnahme durch die stetig peitschende Brandung der Sittenlosigkeit. Fast könnte man meinen, einer mit aller Liebe zum Detail umgesetzten Bühnenfassung von „Mitten im Leben“ oder ähnlichen Perlen privatsenderlicher Menschenverachtung beizuwohnen. Hier wird pausenlos geraucht, gesoffen und geprügelt, die Klamotten sind so betont auf Konsumismus-Bodensatz abgestimmt, dass sich die zwei Nichten-Nutten optisch richtig anstrengen müssen, um überhaupt in puncto Vulgarität und billigem Auftreten noch halbwegs herauszustechen. Der Begriff Nichten-Nutte ist vielleicht nicht die feine englische Art, nicht gerade subtil gewählt, aber wenn diese Inszenierung eines NICHT ist, dann subtil. Gleich im Gerichts-Prolog geht es los mit einem hoffnungslosen Overacting, das erst irritiert und auf die Dauer einfach nur nervt. Jeder ist hier im Nu von Null auf Hundert. Aber noch mal hübsch der Reihe nach. Was genau ich mit dem „Zuviel“ meine, lässt sich in drei Teilbereiche einsortieren:

Ich bin ja ein großer Freund individueller Personenregie und hätte nie gedacht, dass sich deren Einsatz bei einer Überdosierung, wie sie heute verabreicht wurde, derart störend auswirken könnte. Einerseits gilt mein Respekt den Verantwortlichen, die offenbar davon getrieben sind, den handelnden Personen, insbesondere auch dem Chor, sinnvolle und somit glaubhafte Tätigkeiten auf den Leib zu inszenieren (Gelungenes Beispiel: Grimes nimmt während eines Dialoges Fische aus). Eigentlich genau das richtige Prinzip, um unmotivierte Rampensteherei zu vermeiden und Authentizität zu stützen. In Dortmund wird der Bogen allerdings in schöner Regelmäßigkeit überspannt, so daß vor lauter Gewusel und Nebensächlichem die eigentliche Handlung überdeckt wird.

Zwei Beispiele: Als Ellen gegenüber den anderen Dorfbewohnern für Peter einsteht, wird sie von der wild gestikulierenden Meute regelrecht zugestellt, so daß ihr Apell, immerhin eine Schlüsselszene, visuell, aber vor allem auch akustisch verpufft. Noch unnötiger: wie sich Mrs. Sedley in plattester Agenten-Parodie stetig neue „Deckung“ (Gartenstuhl?!) sucht, um das Gespräch zwischen Ellen und Balstrode zu bespitzeln – dessen Inhalt durch diese Slapstick-Einlage fast zur Nebensache gerät. Ja, Mrs. Sedley steht auf Krimis, schon klar, was die Idee hinter dieser Nummer war, aber nö – einfach die Dame an der Ecke stehen und lauschen lassen – fertig. Wie gesagt, es gibt auch durchaus andere Momente, in denen die Inszenierung ihre Überfrachtung durchbricht und stimmige, wirklich lebensnahe Szenen kreiert, etwa wenn sich das schmerzlich-himmlische Quartett der Frauen über das Wesen der Männer entspinnt, genau nachdem Boles eine der Nichten geschlagen hat.

Das zweite „Zuviel“ leitet sich gewissermaßen aus dem ersten ab und betrifft das schon angesprochene Overacting. Ich kann durchaus nachvollziehen, dass man beispielsweise für die musikalische Entladung heftigster Energien in den Chorszenen auch szenisch eine Entsprechung gesucht hat. Ob jedoch die erlebte Form der Mob-Karikatur ein wirkungsvolles Mittel darstellt, wage ich zu bezweifeln. Die Fackeln, die gelynchte Sündenbockpuppe, die Bluthände – ich hab nur noch die Mistgabeln vermisst, wie sie in keiner Frankenstein-Verfilmung fehlen dürfen. Tötet das Monster! Auch hier: ja, kann man so machen – wenn man auf Holzhammer-Umsetzungen steht. Die Menschen reagieren wie Vieh, ok, hab ich verstanden. Hätte man ohne Bluthände und mega shocking im Hintergrund drapierte, kopulierende Statisten allerdings wohl auch. Ui, die ficken da! Tilman Knabes Dörfler sind aber auch Schlingel. Der Pastor macht sich gleich nach dem Gottesdienst ein Bier auf, in der Kneipe startet man in bester Bud Spencer-Manier aus dem Nichts eine Massenkeilerei, jeder begrapscht unentwegt die Nichten, die pausenlos Geld einsacken und bei Auntie abdrücken, damit man auch ja nicht vergisst, welcher Profession die beiden nachgehen, Peter scheuert Ellen nach ihrem Disput nicht nur eine, nein, er tritt ihr auch gleich mal mit Anlauf in den Bauch, kurz: alles Menschenmüll.

Womit wir bei Punkt drei des heutigen Scheiterns der Prämisse „viel hilft viel“ wären, dem inhaltlichen Versagen der Inszenierung. Mit der Charakterisierung der Dorfgemeinschaft als ein Haufen zügelloser Proleten beraubt man das Stück seiner Fallhöhe, die gerade darin liegt, dass Misstrauen, Vorverurteilung und schließlich Hetze von ganz normalen, braven Bürgern ausgehen können. Natürlich hat das auch ganz viel mit ländlichen sozialen Strukturen zu tun, mit Enge und Engstirnigkeit, aber wer wie hier einfach nur die Dorfdeppkarte ausspielt, macht es sich viel zu leicht. Ausgrenzung, unterlassene Hilfeleistung, Sündenbockmechanismen sind Themen, die uns alle angehen – die hier porträtierte Gesellschaft geht mich gar nichts an. Ist ja logisch, dass es unter diesen Umständen so kommt, kommen musste. Abschaum gebiert Abschaum. Diese Inszenierung berührt nicht, lädt eher dazu ein, mit einer Mischung aus Ekel und Selbstgefälligkeit zu gaffen, anstatt zu reflektieren. Ein Unfall, bei dem man nicht wegsehen kann. Wie schön, dass sowas bei uns nicht vorkommt – Thema verfehlt, würde ich sagen. Daß die Bewohner keine Heiligen sind, wird an vielen Punkten des Librettos deutlich, spätestens das nächtliche Treiben zeigt die Bigotterie der frommen Kirchgänger. Bei Knabe geht diese Ambivalenz im asozialen Grundrauschen einfach unter.

Bliebe da noch Peter Grimes selbst. Wahrscheinlich dachte man auch hier, bei all dem präsentierten Ranz und Siff eine Schippe drauflegen zu müssen, um die Außenseiterexistenz der Titelfigur dem reißerischen Ganzen anzupassen. Die Brücke von der Gewalt an Kindern zum Kindesmißbrauch zu schlagen, ist aus meiner Sicht ebenso überflüssig wie inhaltlich bemüht, hätte jedoch durchaus funktionieren können – sofern es der Regie eingefallen wäre, sich nicht allein in plumper Effekthascherei zu ergehen. Tiefpunkt der Plattheit: Während der Sturmszene bestritt ein Grimes-Double die Wirtschaft und entblößt seinen Missetäterleib: Ein blutiges „Pädo“ in die Brust geritzt, auf dem Rücken der Aufruf „Kill him“. Seufz. Warum dann nicht gleich noch Zwischentitel wie beim Stummfilm: „Dieser Mann ist eine Gefahr für sich und andere aber niemand kann oder will es sehen!“ Für wie beschränkt hält das Regieteam seine Zuschauer, dass es zu einem solchen Wink mit dem Zaunpfahl ausholt?

Ganz zerfahren wird die Sache dann nach der Pause, wenn wir in Grimes Hütte Zeuge des Ergebnisses seiner Wildbretbehandlung werden, die er dem Lehrjungen bereits hat angedeihen lassen. Kunstblut im Sonderangebot, alles muss raus! Abgesehen davon, dass die Szene in ihrer übertriebenen Machart eher Kopfschütteln als Gänsehaut verursacht, ergibt sich daraus gleich das nächste Problem: Der Bursche ist also schon tot, folgerichtig sind Grimes Worte an ihn lediglich Ausdruck eines bereits vollends verwirrten Geistes. Ganz anders als im Stück angelegt, wo nach dem noch so hoffnungsvollen „In dreams I ’ve build myself some kindlier home“, Grimes von den Erinnerungen an den ersten toten Jungen heimgesucht wird und die Stimmung kippt. Hier und heute sehe ich nur einen armen Irren, Identifikation Fehlanzeige. Blöd auch, dass die eigentliche Tragik der Szene, welche Grimes erst durch die nahenden Dorfbewohner derart in Brass geraten und den Absturz des Jungen verschulden lässt, so natürlich komplett abhandenkommt. Er lässt die Leiche verschwinden (wozu übrigens dann noch der Schrei?), die Häscher sind zu doof, Ned Keene deckt Grimes – was auch immer.

Hatte ich nicht eingangs irgendwas von gelungenen Ansätzen und Details fabuliert? Ja, die gab es tatsächlich. Die Konsequenz und Mannigfaltigkeit, mit der diese – leider fehlinterpretierte – Dorfgemeinschaft gezeichnet wird, sucht Ihresgleichen. Bühnenbild, Ausstattung, Kostüme, alles atmet glaubhaft und allumfassend Trostlosigkeit, Rohheit, eine verlorene Gesellschaft. Seefahrerromantik hat hier folgerichtig keinen Platz. Das Meer als solches ward nicht gesehen, verborgen hinter dem kalten Beton der Kaianlagen, deren soziales Zentrum ein schäbiger Kiosk darstellt, links die elende Spelunke. Plastikgartenstühle, Maschendrahtzaun, Unrat, Verfall. Sehr eindringlich dann in diesem Zusammenhang auch das Bild, als Peter die Leiche des Jungen auf einer Müllhalde entsorgt. Von der Intensität gerät der Schluss der Inszenierung generell am stärksten. Wenig Platz für Ablenkung, alles fokussiert sich auf Grimes Schicksal und seine Freunde, die ihn fallen lassen. Einziger Wermutstropfen hier: Durch den unsinnige Regieeinfall, der zuvor Balstrode Ellen küssen lässt, bekommt dessen Motivation ein unnötiges Kalkül. Überhaupt bizarr der Transfer, dass in diesem sozialen Milieu ein Motorradrocker als „Respektsperson“ herhalten muss.

Die Sea Interludes mit Traumsequenzen zu koppeln, ist nicht ganz doof, unterstreicht dies doch die seelisch-psychologische Komponente jener nicht allein als Naturillustrationen zu verstehenden Zwischenspiele. Grimes’ Ringen mit seiner düsteren Seite, Ellens Utopie einer glücklichen Ehe, da hat sich das Team durchaus plausible Bilder einfallen lassen, sieht man einmal vom möchtegern-schockierenden buchstäblichen Leichenschmaus in Eyes-Wide-Shut-Abklatsch-Optik ab. Gelungen dann noch das Schlussbild. Der tote Grimes auf leerer Bühne, der Dörfler-Chor kommentiert lapidar aus dem Zuschauerraum, postiert auf der Galerie, Seegeräusche sind zu hören, dann abrupt Stille.

Ich würde gern über die musikalische Wirkung mal wieder ähnlich ausführlich werden, wie zu szenischen Aspekten, leider gab der Abend in dieser Hinsicht nicht viel mehr her als Standardware. Das Ensemble war in Ordnung, der Sänger der Titelrolle trotz erkennbarer Bemühung um Lyrik (z.B. Plejaden-Monolog) wie so oft Welten von dem entfernt, was die Partie auszulösen imstande ist. Tut mir leid, eine derart harmlose, farblose Stimme kann den gebührenden Anspruch an Ausdruck einfach nicht leisten, da hilft es wenig, dass sehr wohl einiges in eine intensive Darstellung investiert wurde. Musikalisch unkaputtbar in ihrer Wucht sind auch dieses Mal die Massenchorszenen, in denen sich der Dirigent mit knackiger Handschrift und zügigen Tempi um eine energiegeladene Umsetzung verdient gemacht hat. Das Orchester klingt gut, Wunderdinge sind allerdings keine zu vernehmen. Hier und da wurde der Bogen mitunter etwas überspannt, der ein oder andere hektische, zerfahrene Moment war die Folge. Alles in allem eine solide Leistung.

Was nimmt man aus einem solchen Abend mit? Das Hadern über eine vertane Chance? Das Wissen um die Qualität eines Werkes, das dem Durchschnitt trotzt? Die Absicht, bei Herzenzangelegenheiten in Zukunft doch lieber auf den Faktor Überraschung zu verzichten und auf bewährte Kräfte und Häuser zu bauen? Wahrscheinlich von all dem ein bißchen, aber so ist das nun einmal mit Segen und Fluch des lebendigen Musiktheaters: Hoffnung ersetzt Gewißheit, das Sehnen nach der Einlösung der Möglichkeit des Unwahrscheinlichen wiegt mehr als jede mögliche Enttäuschung. Irgendwie ist das ein bißchen das Thema von Peter Grimes selbst, vielleicht werde ich auch aus diesem Grund nie müde, es wieder und wieder gerade mit dieser zarten Skizze einer uneinlösbaren Utopie zu versuchen.


Peter Grimes – Benjamin Britten
Musikalische Leitung – Gabriel Feltz
Regie – Tilman Knabe
Bühne – Annika Haller
Kostüme – Eva-Mareike Uhlig
Chor – Manuel Pujol
Licht – Florian Franzen
Dramaturgie – Georg Holzer

Peter Grimes, Fischer – Peter Marsh
Ellen Orford, Lehrerin – Emily Newton
Balstrode, Kapitän – Sangmin Lee
Auntie, Wirtin – Judith Christ
Erste Nichte – Tamara Weimerich
Zweite Nichte – Ashley Thouret
Bob Boles, Fischer und Methodist – Fritz Steinbacher
Swallow, Bürgermeister und Richter – Karl-Heinz Lehner
Mrs. Sedley, eine Witwe – Martina Dike
Rev. Horace Adams, Pfarrer – Ks. Hannes Brock
Ned Keene, Apotheker – Morgan Moody
Hobson, Fuhrmann – Thomas Günzler
John, Grimes’ Lehrling – Simon Daiber
Dr. Crabbe – Hans-Peter Frings
Fischer, Bürger – Hitomi Breitzmann, Hans Werner Bramer, Gerontiy Chernyshev, Hiroyuki Inoue, Johannes Knecht, Henry Lankester, Ian Sidden

Opernchor des Theaters Dortmund
Extrachor des Theaters Dortmund
Statisterie des Theaters Dortmund
Dortmunder Philharmoniker

11. Juni 2016

Death in Venice – Pawel Poplawski.
Theater Bielefeld.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 1, Platz 11



Schon ernüchternd, wenn bereits nach ein paar Takten klar ist, daß es mit diesem Aschenbach nicht funktionieren wird. Zu glatt in Erscheinung und Stimme – darstellerisch bemüht, aber blaß, gesanglich ohne nennenswerte Tiefe. Dann also flugs in den Protokollmodus gewechselt. Mal schauen, was sich noch verwerten läßt.

Die Inszenierung ist ästhetisch wie konzeptionell sehr interessant, vermag jedoch nur selten zu berühren. Könnte aber auch am musikalischen Ertrag liegen. Der fällt insgesamt eher durchwachsen aus. Herr Poplawski kann nur bedingt an den makellosen Eindruck anknüpfen, den sein „Midsummer Nights Dream“ seinerzeit in Magdeburg auf mich gemacht hatte (Link). Offenbar bieten die dortigen Philharmoniker deutlich mehr Potenzial für das delikate Britten’sche Gespinst als ihre Bielefelder Kollegen. Bei den Sängern stechen zwei rühmliche Ausnahmen aus einem sonst unauffälligen Ensemble hervor: Nienke Otten besitzt eine wirklich schöne, reine und feine Stimme, mit der sie als Erdbeermädchen und in ihren weiteren Rollen für Inseln zarten Wohllauts sorgt. Die Inkarnationen des Todesboten sind mit Evgueniy Alexiev stimmlich wie darstellerisch auf der Höhe des Stückes besetzt. Umso bedauerlicher, daß seine sinistre Interpretation kein entsprechendes Gegengewicht in der Hauptrolle erfährt, sein stets intensiver Einsatz vermag die Produktion naturgemäß kaum alleine zu tragen.

Damit also zurück zur Inszenierung und dem, was von ihr hängen blieb. Nadja Loschky legt Aschenbachs letzte Reise als Kampf mit sich selbst und den eigenen Dämonen an, wobei wir mehr dem inneren Fiebertraum eines Selbstmordkandidaten als seinem physischen Weg zum Tod in der Fremde folgen. Wirklich voran kommt dieser Mann ohnehin nicht mehr, das impliziert auch das Bühnenbild, welches sich in Variationen der immer gleichen Räumlichkeit eines angedeuteten Hotels (oder vielleicht doch der Wohnung des Dichters?) per Drehbühne um den gebrochenen berühmten Künstler windet. Der besagte Todesbote zeigt sich das erste Mal im Badezimmerspiegel als Doppelgänger des Lebensmüden, so daß hier ganz klar ein Teil von Aschenbachs Ich die lange Reise initiiert, deren an sie geknüpfte Selbstfindungsabsicht bekanntermaßen nicht in Rekreation, sondern (Selbst-)Auslöschung gipfelt.

Dabei wird Kleidung sehr konsequent leitmotivisch verwendet. Der fremde Reisende ist ganz wie Aschenbach in einen türkisen Anzug gewandet, Versatzstücke dessen begegnen uns immer wieder an verschiedenen Stellen der Handlung, etwa beim Hotelmanager, der die gleiche Farbgebung zu bevorzugen scheint oder nicht weniger bedeutungsvoll bei Tadzios Jacke. Neben Aschenbachs Anzug spielt ein rotes, besticktes Kleid eine handlungsimmanente Rolle und kreiert gleichermaßen besondere Signalwirkung, da alle übrigen Kostüme in schlichtem Schwarzweiß gehalten sind. Zum ersten Mal erscheint es auf der Überfahrt, wenn der Dichter in der Runde der vergnügungshungrigen Männer mit dem ältlichen Geck in eben jenem Kleid konfrontiert wird, der Aschenbach verstört zurücklässt, nachdem er ihm eine Puppe überreicht hat – ein Abbild Tadzios, wie man später erfährt.

Auch das Erdbeermädchen tritt in dem gleichen roten Kleid auf, dessen farbliche Entsprechung die verlockenden Früchte darstellen, mit denen ein weiteres Leitmotiv der Versuchung, letzten Endes der Verderbnis, etabliert wird. Bemerkenswert dann auch die Szene, in der sich die venezianischen Beteiligten, allesamt mit Aschenbach-Masken versehen, regelrecht mit den signalroten Köstlichkeiten vollstopfen, die sich im weiteren Verlauf als Krankheitsbringer erweisen werden. Für Aschenbach selbst wird das rote Kleid zum Ausdruck seiner eigenen Begierde. Anlässlich des apollinischen Wettstreites träumt er sich damit in die Rolle als Tadzios Braut, die mit ihrem siegreichen Bräutigam fiebert.

In diesen Duell zwischen Tadzio und dem Todesboten werden einfache, aber intelligent die Leitmotivik aufgreifende Bilder für die Disziplinen gefunden, etwa im Erdbeerwettessen oder der Aufgabe, möglichst viele Exemplare von Aschenbachs Bestseller zu stapeln, dessen Bedeutung für den Dichter bereits zuvor die Tatsache unterstrichen hat, daß er die Reiselektüre eines jeden Hotelgastes darstellt. Ein weiteres wiederkehrendes Element ist Sand, der sich langsam aber sicher in den Ecken der Rezeption sammelt, sich auch in der Gondel befindet, Aschenbach durch die Finger rinnt – auch dieses Detail atmet Vergänglichkeit.

Mehrfach wird in der Inszenierung mit Puppen oder dem Puppenhaften gearbeitet, wie bereits erwähnt beim Aufritt des grell geschminkten und kostümierten ältlichen Gecks, dessen Erscheinung Aschenbach schließlich konsequent im Sinne der so bereits im Libretto angelegten Parallele vollends übernimmt. Tadzio tritt danach als seine Puppe auf, ganz wie es mit der kleinen Puppe auf dem Schiff schon vorbereitet wurde. Eine weitere Szene zeigt die Tänzerin (im roten Kleid) und Tadzio als Puppenpaar. Kontrolle über sich und die eigene Begierde, über das Ziel des Begehrens selbst, Eigen- und Fremdsteuerung, Aufgabe der eigenen Persönlichkeit, all diese Gedanken schwingen hier mal mehr, mal weniger offensichtlich mit.

So wie die fauligen Erdbeeren letztlich aus dem eigenen Selbstmörderblut gespeist werden, nimmt Aschenbach folgerichtig am Schluß an seinem eigenen Begräbnis Teil. Umso überraschender oder enttäuschender, wieso diese an zwingenden Einfällen reiche Produktion emotional nicht derart involviert, berührt, erschüttert, wie es in diesem Stück eigentlich durch Britten genetisch festgelegt ist. Natürlich gibt es auch fraglos dürftige Momente der Inszenierung, wie die schwache Umsetzung des Kulminationspunktes, wenn Dionysos über Apoll obsiegt – immerhin eine Schlüsselszene für Aschenbach und das Werk, aber mit einigem Abstand betrachtet gelange ich am Ende der Reise wieder bei meiner Eingangsbeobachtung – alles steht und fällt mit Aschenbach. Seinen Niedergang stimmig psychologisch aufzuarbeiten ist keine geringe Leistung, bleibt ohne einen entsprechenden Darsteller, der diesen Weg in aller Unerbittlichkeit zu gehen vermag, leider doch ein gescheitertes Unterfangen.


Death in Venice – Benjamin Britten
Musikalische Leitung – Pawel Powlawski
Inszenierung – Nadja Loschky
Choreografie – Thomas Wilhelm
Bühne – Ulrich Leitner
Kostüme – Gabriele Jaenecke, Moritz Haakh (Mitarbeit)
Licht – Ralf Scholz
Dranaturgie – Larissa Wieczorek
Choreinstudierung – Hagen Enke

Gustav von Aschenbach, Schriftsteller – Alexander Kaimbacher
Der Reisende/ältliche Geck/alte Gondoliere/Hotelmanager/Coiffeur des Hauses/Anführer der Straßensänger/die Stimme des Dionysos – Evgueniy Alexiev
Die Stimme Apollos/ Priester – Clint van der Linde
Tadzio – Gieorgij Puchalski
Erdbeerverkäuferin/Französisches Mädchen/Straßensängerin – Nienke Otten
Lido-Bootsmann/Restaurantkellner/Reisebüro-Angestellter – Caio Monteiro
Hotelportier/Straßensänger – Lianghua Gong
Russisches Kindermädchen/Bettlerin – Hasti Molavian
Russische Mutter/Spitzenverkäuferin – Elena Schneider
Englische Frau/Zeitungsverkäuferin – Christin Enke-Mollnar
Deutsche Mutter – Patricia Forbes
Französische Mutter – Evelina Quilichini
Dänische Frau – Franziska Hösli
Glasbläser/Polnischer Vater – Krzysztof Gornowicz
Hotel-Kellner/Fremdenführer – Tae-Woon Jung
1. Amerikaner/1. Gondoliere – Bogdan Sandu
2. Amerikaner – In-Kwon Choi
Russischer Vater – Mark Coles
Deutscher Vater/2. Gondoliere – Lutz Laible
Double der Erdbeerverkäuferin (Tanzszene) – Miriam Pielsticker
Die polnische Mutter (Tadzios Mutter) – Nicole Borgmann
Ihre zwei Töchter (Tadzios Schwestern) – Margarethe Keitel, Miriam Pielsticker
Die Erzieherin – Mélissa Quiering
Kinder – Josephine Franke, Martin Gerecke, Nathanaël Jucquois

Bielefelder Opernchor
Bielefelder Philharmoniker

1. Juni 2016

Concentus Musicus Wien – Diego Fasolis.
Laeiszhalle Hamburg.

19:15 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16


Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125

(Arnold Schönberg Chor, Genia Kühmeier – Sopran, Wiebke Lehmkuhl – Alt, Steve Davislim – Tenor, Luca Pisaroni – Bassbariton)



Ein Wort zur historischen Aufführungspraxis: Nein. Auch wenn ich durchaus nicht wenig Interesse an der geschichtlichen Entwicklung der Musik hege, ist mir Beethovens Neunte für ein Seminar Instrumentenkunde des frühen 19. Jahrhunderts einfach zu schade. Weder das eingesetzte Material noch die Spielweise tragen etwas dazu bei, dem Werk bzw. der Konzeption des Komponisten näher zu kommen, sondern quälen mit eigentlich glücklicherweise überwundenen Unzulänglichkeiten und verstellen den Blick auf das Wesentliche: Daß Musik eben mehr ist als die Summe leidlich getroffener Töne.

Beethoven als Holzschnitt. Ich bin deutlich zu wenig Masochist, um mir all den Reichtum nehmen zu lassen, der in dieser Partitur steckt. Und Reichtum meint nicht Fülle. Orchester wie die Kammerphilharmonie Bremen beweisen eindrucksvoll, dass eine Reduzierung der Besetzung auf zeitgenössisches Maß durchaus Wunder wirken kann in Bezug auf Transparenz, Fasslichkeit und Ursprünglichkeit. Die heutige Präsentation stimmt mich eher traurig als nostalgisch. Früher war eben nicht alles besser, der Orchesterklang schon mal ganz sicher nicht – wie schade, dass die großen Komponisten ihre Werke wohl nie in der Qualität erleben durften (sofern sie überhaupt aufgeführt wurden), die wir heute gewohnt sind. Natürlich kann man letztlich nur vermissen, was man kennt, aber ich wäre überrascht, wenn es in Beethovens taubem Kopf so unbehauen und profan zugegangen ist.

Mehr noch als die technische Minderwertigkeit, stört dabei die klangliche Unvereinbarkeit der verschiedenen Instrumentengruppen, welche ein rohbauartiges Klanggerippe ergibt, das sich partout nicht zu einem harmonischen Ganzen fügen möchte. Ich mag es gern knackig und schroff, aber hier fällt einfach alles auseinander. Sind die schmalbrüstigen Violinen überhaupt einmal im Tutti zu vernehmen, fisteln sie im Verbund mit ihren tieferen, knarzenden Geschwistern konsequent an den Bemühungen der spröden Holzbläser vorbei, jeder für sich in seiner eigenen, trostlosen Welt, überkreischt vom durchdringenden Blechschaden der Kollegen aus der letzten Bank. Ich möchte den anwesenden Musikern sicher nicht Talent und Hingabe absprechen, aber wenn ich derart mit der Nase darauf gestoßen werden möchte, mit wie viel Mühe und Schwierigkeiten den Instrumenten ihr Tagewerk abgerungen werden muss, höre ich mir lieber ein Schülerorchester an, da greift zumindest der Welpenschutz.

Glücklicherweise ließ sich der Chor nicht von der instrumentalen Schonkost verunsichern und lieferte zuverlässig und angemessen. Ja warum eigentlich? Es wird sich doch sicher in irgend einem Archiv zwischen zwei verstaubten Deckeln der Hinweis finden lassen, dass die Chöre zu Beethovens Zeit eine ganz andere Artikulation besaßen, Lispeln oder Wiener Idiom wären auch nicht schlecht, klingt doch gleich viel authentischer. Zu den vier Solisten gibt es nicht viel zu sagen, außer dass zumindest Tenor und Bariton für meine Begriffe mehr Durchsetzungsvermögen gut zu Stimme gestanden hätte.

Bleibt noch das Dirigat. Falls Herr Fasolis, wie ich las, tatsächlich mit der Witwe Harnoncourts besprochen hat, wie das Konzert im Sinne des verstorbenen Maestros durchzuführen sei, erscheint mir dies in zweifacher Hinsicht befremdlich. Zum einen erschließt sich mir nicht, wie eine solche Harnoncourt-Simulation funktionieren soll, zum anderen sollte Herr Fasolis als Dirigent doch selbst genug einzubringen haben. Was auch immer ihn an diesem Abend maßgeblich geleitet haben mag, von einer übermäßig inspirierten Lesart der Sinfonie habe ich kaum etwas mitbekommen. Kann man so machen. Nicht mehr, nicht weniger. Der Kopfsatz geht dramatischer, das Scherzo pointierter, das Adagio feinfühliger und nuancierter, das Finale kontrastreicher und beseelter.

Fazit: Kein krönender Abschluß für Aboreihe und Musikfest Hamburg, sondern Beethoven für Erbsenzähler. Sei’s drum – neue Neunte, neues Glück.