31. Januar 2017

NDR Elbphilharmonie Orchester –
Thomas Hengelbrock.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:30 Uhr, Ebene 13, Bereich E, Reihe 4, Platz 10



Bedřich Smetana – Vlatana (Die Moldau)
Maurice Ravel – Tzigane (Patricia Kopatchinskaja – Violine)
Zugabe: Maurice Ravel – Sonate für Violine und Violoncello,
2. Satz " Très vif"
(Patricia Kopatchinskaja – Violine, Nicolas Altstaedt – Violoncello)

(Pause)

Richard Strauss – Suite aus „Der Rosenkavalier“ op. 59
Zugabe: Richard Wagner – Lohengrin, Vorspiel 3. Akt



Wer am Veranstaltungstag wach und online ist, kann momentan fast bei allen Konzerten in der Elbphilharmonie noch Glück haben und eine Karte erhaschen. So bekam ich am Dienstag spontan die Möglichkeit, das NDR Elbphilharmonie Orchester unter seinem Chefdirigenten das erste Mal live in ihrer neuen Heimstätte zu hören, nachdem ich das Eröffnungskonzert nur aus der Konserve erlebte (Link). Dabei besonders aufschlussreich: mein Platz war nahezu identisch mit jenem bei der Wiener Offenbarung vor ein paar Tagen (Link). Dann steht einer Prüfung auf Herz und Nieren nebst Vergleich also nichts mehr im Wege.

Ich muss sagen, dass ich die "Gefahr", der Saal verzeihe keine Unzulänglichkeiten (bzw. mehr als andere), weiterhin so nicht nachvollziehen kann. Neben der wohl unstrittigen Transparenz, zeichnet ihn meiner Ansicht nach eher aus, klangliches Potenzial besser ins Bewusstsein zu bringen, oder, wie ich den heutigen Eindruck zusammenfassen möchte: der Saal schmeichelt dem NDR. Stärken, wie der feine Streicherklang, den ich seit jeher an diesem Orchester schätze, werden noch verstärkt – homogen, strahlend, von zurückhaltend bis durchdringend, alles auf Abruf vorhanden. Aber auch Elemente, die mich in der Vergangenheit eher weniger zu Begeisterungsstürmen hinreißen ließen, wie eine relativ harmlose Posaunengruppe, erfahren in der Elbphilharmonie eine deutliche klangliche Aufwertung. Zumindest in der Gestalt, dass die Äußerungen runder, plastischer rüberkommen, sich (eben trotz besagter Transparenz) besser in das gesamte Gefüge integrieren.

Sowohl die Rosenkavalier-Suite als vor allem auch die Wagner-Zugabe bot hier erhellendes Testmaterial – allerdings auch in der Form, dass man sehr wohl hört, was weiterhin fehlt bzw. entwickelt werden muss: Persönlichkeit der Klangfarben und eben jenes ehrfurchtgebietende, satte Fundament, welches in anderen Orchestern von diesen Instrumenten ausgeht. Woran dies liegt, ob am Material und/oder der Spielweise, kann ich als musikalischer Laie nicht beurteilen – den Unterschied hören allerdings durchaus, und zwar in jeder Halle. Genauso wie den ein oder anderen Wackler oder unschönen Ansatz bei den Trompeten – das kann einem ziemlich wurscht sein, unter welchen akustischen Bedingungen man sich darüber auf die Lippe beißt. Aber lassen wir es mal mit dem Blech-Bashing gut sein, viel wichtiger: Insgesamt betrachtet war es ein richtig gutes Konzert!

Überhaupt scheint mir das ganze Konzept der "Konzerte für Hamburg"-Reihe sehr gelungen. Hengelbrock greift neben dem Taktstock immer wieder auch zum Mikrophon, um eingangs zu umreißen, was überhaupt auf dem Programm steht, und dann jedes einzelne Stück kompakt vorzustellen. Kein Fachchinesisch, sondern beispielsweise für die Moldau ein paar Hinweise zu eingesetzten Instrumenten und deren Funktion auf der sinfonisch gedichteten Fahrt Richtung Elbe – sympathisch und kurzweilig. Und auch wenn die Vermutung nahe liegt, dass sich ein Großteil der Besucher – wie ja ausdrücklich beabsichtigt – nicht aus dem Stammpublikum klassischer Konzerte rekrutiert (dem Aufruf nach legerer Kleiderordnung wird bereitwillig entsprochen, die Selfie-Dichte ist noch eine Spur höher und Haribo-Tüten sind sonst eher seltene Mitbringsel), ist die Atmosphäre während des Konzerts erfreulich konzentriert und weit weniger hustenbefrachtet als mancher Aboabend. Wahres Interesse schafft eben wahre Aufmerksamkeit.

Und die Musiker des NDR und ihr Chef verdienen diese auch, indem sie die Stücke mit klanglichen Finessen und überzeugender Lesart präsentieren. Die bereits unzählige Male befahrene Moldau sprudelt frisch und kräftig, die Mondschein-Passage verzaubert mit kristallenem Streichergewebe, feinen Holzbläsergirlanden und Harfenglanz; das Rosenkavalier-Konzentrat mundete als musikalische Kalorienbombe vorzüglich (hier haben mich vor allem die Hörner positiv überrascht). Hengelbrocks Dirigat ist durchweg überzeugend und gestaltet, beispielsweise wenn er die tänzerische Bauernhochzeit am Ufer der Moldau durch rhythmische Akzentuierung und leichte Verzögerungen schön derb und täppisch skizziert. Auch beim Strauss erreicht er eine bemerkenswerte Geschlossenheit der an sich losen Szenenfolge, selbst im Lerchenauischen Tumult greift alles ineinander, Rosenübergabe und Schlussterzett atmen den Zauber zum Stehen gebrachter Zeit. Einzig mit der leichten Tendenz, bei melodischen Steigerungen ein wenig ins Eilen zu verfallen, anstatt sie auszukosten, kann ich mich nicht anfreunden – ein Zug, der mir schon im Parsifal-Vorspiel der Eröffnung missfiel.

Meiner Bewunderung für Frau Kopatchinskaja habe ich zwar bei früheren Gelegenheiten bereits zur Genüge Ausdruck verliehen, doch auch der heutige Auftritt brachte wieder alles mit, um sich frisch in ihr Spiel zu verlieben. Feuereifer und Innigkeit; eine Spannung bzw. Gespanntheit, die alles unter 100 % Einsatz und Hingabe für das Werk ausschließt; rasende Virtuosität gepaart mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit. Daß sie für die Ravel-Zugabe den Solisten des kommenden Konzertes zum konspirativen Funkenschlagen auf die Bühne bat, unterstreicht, wie viel ursprüngliche Freude ihr das Musizieren bringen muss – und sowas überträgt sich leicht auf jede Zuhörerschaft.

Fazit: Die Konzerte für Hamburg halten das, was sie versprechen: Einen Abend komprimierte Einführung in die Welt der Klassik auf Spitzen-Niveau.

28. Januar 2017

Orchester der Hochschule
für Musik und Theater Rostock –
Hansjörg Albrecht / Christian Hammer.
St. Michaelis Hamburg.

18:00 Uhr, Südempore, Loge 2, Platz 5



Benjamin Britten – War Requiem op. 66
(Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor Hamburg, Chor der Hochschule für Musik und Theater Rostock, Kammerchor "Vocalisti Rostochienses", Knabenchor Uetersen, Fionnuala McCarthy – Sopran, Wolfgang Klose – Tenor, Klaus Häger – Bariton)



Auch einen reichlich besetzten Brocken wie Brittens War Requiem, sollte man nicht aus akustisch zweifelhafter Position angehen, kommt es doch bei diesem riesenhaften Werk gerade auf die harmonischen Zwischentöne und behutsam umzusetzenden Feinheiten an. Über deren Gelingen am heutigen Abend zu urteilen, entbehrt, angesichts eines Platzes, der kaum mehr als eine vage Teilhabe am in weiter Ferne produzierten Klang gestattete, nahezu jeglicher Grundlage. Beim nächsten Michel-Konzert ist man schlauer – und vor allem hoffentlich früher dran, um sich dann gern außerhalb einer kleinen bestuhlten Abstellkammer ein Konzert zu gönnen.

Es wäre daher ebenfalls unfair, von dieser Warte auf die generelle akustische Qualität des Michel und seiner Eignung für solch eine Veranstaltung zu schließen, da sich unmittelbar mit dem Bezug der Loge eine dumpfe Haube über das Gehör senkte. Auf einer der freien Emporen oder unten im Gestühl wird sich ohne Zweifel ein anderer Eindruck geboten haben. Dennoch schien es mir im Nachhinein ratsam gewesen zu sein, einen Platz nicht zu weit vom Altar entfernt gewählt zu haben, da von dort die angesprochenen Zartheiten des Kammerorchesters sowie die meist ebenfalls filigranen Beiträge von Tenor und Bariton ihren Weg ins Kirchenschiff fanden. Auch hier ist es schwer, eine aussagekräftige Einschätzung der individuellen Leistungen zu geben – über wahrgenommene Tonhöhen hinaus mussten Klangfarben und Ausdruck eher aus dem musikalischen Fundus im Geiste ergänzt werden.

Was bleibt es also festzuhalten? Daß sich trotz besagter Hemmnisse die Schönheit, der Ideenreichtum und die ungeheuer berührende Kraft dieser vielleicht größten und großartigsten Schöpfung Brittens, im Großen wie im Kleinen, in der gesamten Anlage und unzähligen Details, immer noch übertragen, erschüttern, Demut und Anteilnahme erwecken. Natürlich entfesseln die enormen Steigerungen und dynamischen Explosionen, etwa das sich martialisch hochschaukelnde "Dies irae", der goldene Supernova-Glanz des "Sanctus" oder das sich in schmerzverzerrter Klage mit der letzten mahnenden Widerkehr des Schlachtenlärms verzehrende "Libera me", aufwühlende, berückende, niederschmetternde Klangwelten. Aber allein die simple harmonische Wendung, die zum ersten Mal zum Ende des "Requiem aeternam" (Kyrie eleison) erklingt und auch das ganze Werk beschließt, ist von solch beseelter Eingebung, daß mir Britten allein für diese wenigen Takte zum Größten wird, Persönlichstes und allgemein Humanistisches vereint. Der Appell an das Menschliche, Barmherzige; Wut und Trauer angesichts der Schrecken und Sinnlosigkeit des Krieges, äußern sich in Tönen wie in Worten – die Gedichte Owens haben Britten zu einigen der eindringlichsten, intimsten Äußerungen inspiriert, die es für Vokalsolisten auszufüllen gibt.

Schmerzlich, von diesen fragilen Schlüsselstellen heute weitgehend ausgeschlossen zu sein. "Move him into the sun", das der Tenor anstimmt; das "After the blast of lightning" des Baritons, oder schließlich der Dialog beider im "Libera me", bei dem sich zwei gefallene Soldaten im Jenseits begegnen ("I am the enemy you killed, my friend") und durch ihr "Let us sleep now" den tieftraurigen, aber gleichzeitig tröstlich-hoffnungsvollen Ausklang der Komposition einleiten. Größten Respekt, dass sich der Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor gemeinsam mit weiteren Mitwirkenden aus dem Norddeutschen Raum und den Solisten der Mammutaufgabe gestellt und mit diesem Requiem auf den Krieg ein Zeichen für den wohl leider ewig aktuellen Wunsch nach Frieden in der Welt gesetzt hat.

23. Januar 2017

Wiener Philharmoniker – Ingo Metzmacher.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Anton Webern – Sechs Stücke für Orchester op. 6 / Erstfassung

 Karl Amadeus Hartmann – Sinfonie Nr. 1 für eine Altstimme
und großes Orchester (Gerhild Romberger – Alt)

(Pause)

Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 11 op. 103 „Das Jahr 1905“



Wie oft kommt man als Klassik-Pilger wohl in seinem Leben in Versuchung, das „beste Konzert“ zu postulieren? Sollte man wahrscheinlich generell sein lassen, schließlich ist der Vergleich zwischen dem Zustand aktueller Euphorie und verklärter Erinnerung in beide Richtungen eine unfaire Angelegenheit. Dennoch, wenn es Abende gibt, an denen es sich anbietet, die Superlative leicht aus der Hüfte zu schießen, dann war heute so einer. Leider ist es mit dem Unbeschreiblichen, dem unbeschreiblich Schönen, Erschütternden, Erfüllenden so eine Sache – eben eine unbeschreibliche, wie der Begriff ja nahelegt, wenn man ihn denn schon mal bemüht. Ich möchte es trotzdem versuchen, wohl wissend, daß die Wahrscheinlichkeit groß ist, sich zu verzetteln und/oder in Pathos zu versinken. Warum auch nicht.

Aufgeschnapptes Pausengespräch. Er zur Dame neben sich: „ Also ich hab meiner Frau ja ne SMS geschrieben – Katzenjammer!“ Auf ihren Hinweis, daß es oft schwer ist, sich auf Unbekanntes einzulassen: „Ja schon, aber warum spielt man den Katzenjammer, wo es doch so viel schöne Musik gibt?“ Sie, um Diplomatie bemüht: „Tja, man tendiert oft dazu, immer das hören zu wollen, was man kennt.“ Er: „Mag schon sein, aber solche Musik gehört hier nicht her, das sollen die für Kenner irgendwo anders spielen – ich will ja schließlich nicht nachdenken im Konzert!“

Abgesehen davon, daß mich gerade die letzte Bemerkung erst recht nachdenklich stimmte, komme ich zur Pause eher zu dem Ergebnis: Wenn Herr Webern und Herr Hartmann irgendwo hingehören, dann genau hierher. Gerade weil der offenbar von vielen für unabdingbar gehaltene Zugang über melodisch Vertrautes bei beiden Werken durch ihre Faktur manchem zugeparkt erscheint und die Möglichkeit des gemütlichen Konsums sich daher auch nicht zwingend aufdrängt, bietet die Elbphilharmonie mit ihrer fasslichen Transparenz jedem die Möglichkeit, tief in das Wesen dieser unterschiedlichen Stücke einzutauchen. Wenn man denn möchte. Man muß ja nicht. "Katzenjammer" ist eine zweifellos griffige Kategorisierung und der nächste Brahms kommt bestimmt (Ja, Brahms ist auch ganz toll).

Auch wenn ich mir wohl keinen Starschnitt Weberns übers Bett hängen würde, sind diese Sechs kurzen Stücke eine wahre Fundgrube für all diejenigen, die wie ich in Klang und Klänge vernarrt sind. Die Riesenbesetzung steht im Dienste, ein über weite Strecken äußerst zurückgenommenes, feines, aber durchweg unter Spannung stehendes Gespinst auszubreiten, in dem Ausdruck und Stimmungen auf engstem Raum werden und vergehen. Eine Musik, die sich mehr dem "Als ob", denn dem konkret Greifbaren verhaftet zeigt. Diese Schattierungen von Schatten auszuloten, bedarf eines Klangkörpers, der jede noch so zarte Nuance differenziert umzusetzen weiß. Die Kombination aus Wiener Philharmonikern im Habitat dieses Forums akustischer Utopieverwirklichung ermöglichte einen Blick über die Partitur hinaus auf das Wesen jener Musik, die aus dem Wunsch heraus geschrieben wurde, eine Tradition weiterzuführen und weiterzuentwickeln, die für Komponisten wie Webern an der Grenze der Tonalität nicht halt machen durfte.

Metzmacher und die Wiener bedenken die Stücke mit der konzeptionellen Stringenz (allein die Bandbreite der Dynamikabstufungen!) und klanglichen Qualität, welche auch diese auf den ersten, ok, wohl auch auf den zweiten Blick spröden Miniaturen zu einem Erlebnis machen, das ich jedem nur hingeschlonzten Wagner vorziehe. Ohne das "Wie" ist das "Was" eben doch nichts. Allein für den Klang der vier gedämpften Posaunen, die so leise und gleichzeitig so nachdrücklich dräuten, hätte ich manch durchschnittliche Opernaufführung eingetauscht. Die Akustik des Saals verblüfft dazu im Sekundentakt. Die große Trommel unglaublich sonor und auch in geringer Lautstärke durchdringend. Desgleichen die Bässe. Edelster Violinensamt. Der Effekt, daß auch unter der heftigsten Entladung im Blech die Holzbläser noch klar und deutlich hervortreten. Und und und.

Von der Hartmann-Sinfonie hatte ich mir tatsächlich etwas mehr versprochen. Keinesfalls von der Ausführung, aber das Werk hat mich insgesamt (noch) nicht so angesprochen, wie es die wenigen bisherigen Berührungspunkte mit dem Komponisten eigentlich nahegelegt hatten. Zwar gibt es auch hier eher wenig Ohrwurmdisposition, aber der schwer ernstvolle, in seiner zur große Geste tendierenden Stilistik in gewisser Weise immer noch auf Mahlers Pfaden wandelnde Charakter müsste mir eigentlich mehr liegen, als es heute der Fall war. Vielleicht war ich dann doch zu sehr damit beschäftigt, den Eigenheiten des neuen Umfeldes nachzuspüren, als die Konzentration auf das mir unbekannte Werk an sich zu lenken. Flankiert von offenbar nachlassender Teilnahme bei manchem Mitsitzer (Herumgerutsche, Handtaschenkontrollblick, erhöhte Hust- und Glanzpapieraktivität) stellten sich leichte Unsicherheiten in der Beurteilung der Eindrücke bei mir ein: Der Fortissimo-Beginn eher überrumpelnd als überwältigend – gibt es womöglich doch Probleme mit dem Tutti-Klang? Sind die Streicher etwa hier und da zu matt oder zu leise? Die Holzbläser im Gegensatz dazu äußerst präsent. Aber auch hier wie schon bei Webern: gerade die leisen Töne sind es, die aufhorchen lassen – was für intime Reize umschmeicheln das Ohr. Gerhild Romberger trägt ihrerseits mit erdig-warmem Timbre einen nicht unerheblichen Teil zur Klangmagie bei und überzeugt darüber hinaus noch mit lupenreiner Diktion.

Sollten sich nun tatsächlich vage Zweifel eingeschlichen haben, wie weit es wirklich um die akustische Perfektion auf meinem nominell perfekt gelegenen Aboplatz bestellt sei, gab es nach der Pause das passende Gegenmittel – Schostakowitsch. Ich mach´s kurz: Ich bin im Himmel. Meine Wolke befindet sich auf Ebene 13. Man stelle sich das beste Orchester vor, welches mit der packendsten Interpretation unter akustisch idealen Bedingungen ein Werk höchster Intensität darbietet – und der resultierende Gedanke ist nicht halb so gut wie das, was mir heute auf meinem Platz widerfahren ist. Dabei ist die 11. nicht mal meine Lieblingssinfonie von ihm, bzw. bis heute keine derer, die ich besonders gut kannte. Vielleicht auch besser so. Einem alteingesessenen Herz- und Magen-Stück unter diesen Bedingungen ausgeliefert zu sein, kann eigentlich nur ein Ergebnis irgendwo zwischen Nahtoderfahrung und Schlaganfall bedeuten. Wobei heute nicht viel gefehlt hat.

Nachdem bereits die ersten markerschütternden Kulminationen ihre Wirkung nicht verfehlt hatten und jene das ungläubige Empfinden durchzuckende Frage aufwarfen, was denn bitte da noch kommen möge, sorgte der zweite Satz mit einer wahrhaften Orgie rhythmischer und dynamischer Exzesse für die zwischenzeitliche Beantwortung und eine regelrechte Neukalibrierung aller für die Bestimmung des Möglichen zuständigen Sinne. Höchste Präzision; makelloser, greifbarer Klang. In ihrer Ausdehnung wahrnehmbare Schallblasen; Gebilde, die sich ausdehnen, die Richtung ändern, erblühen, ersterben, ausfasern, ansatzlos abreißen, von weiche in feste Gestalt wechseln; Quecksilber, das plötzlich erstarrt. Kristallklare Flächen, die gleichzeitig unnahbar und doch unmittelbar berührend sind. Eine alles mitreißende Gewalt spüren und sich in der nächsten Sekunde in ihrem Auge befinden. Jawohl, der richtig gute Stoff. Wie muss das wohl für einen Synästhetiker sein, denke ich mir kurz vor dem Systemabsturz. Dann: Kein Anschluß unter dieser Nummer.

Bevor die Elbphilharmonie gebaut wurde, hieß es ja, sie sei notwendig, da sich die Laeiszhalle nur bedingt für die groß besetzte Orchesterliteratur, namentlich des 20. Jahrhunderts, eigne. Ich hatte durchaus ein bißchen Angst, daß solch eine Argumentation baulich zu einem hübsch hörgerätefreundlichen Stereoanlagensound mit angezogener Handbremse führen könnte. Bereits letzte Woche konnten die Hamburger Symphoniker diese Bedenken eindrucksvoll bei Seite räumen, der heutige Abend hat sie endgültig atomisiert.

21. Januar 2017

Einstürzende Neubauten.
Elbphilharmonie Hamburg.

21:00 Uhr, Etage 13, Bereich F, Reihe 4, Platz 17



Nimmt man mal den ganzen Hype um in Windeseile ausverkaufte Konzerte und Zusatzkonzerte, Witzchen über korrelierende Bandnamen und Spielstätten, sowie eine gewisse, grundbesoffene Übererwartungshaltung allerorten bei Seite, bleibt für mich als Quintessenz ein bemerkenswerter Abend, den ich mir irgendwie ganz anders vorgestellt hatte. Offenbar hatten nicht wenige Besucher den Weg in die Elbphilharmonie beschritten, ohne zwingend die Bezeichnung Neubauten-Fans auszufüllen, sei es, um der Neugier auf die vorgeblich ungewöhnliche Kombination aus Künstlern und Musentempel nachzugeben, oder einfach nur, um letzteren endlich selbst von Innen erkunden zu dürfen. Ich für meinen Teil falle dabei noch in eine weitere Zwischenkategorie – ich wollte diese Band gern einmal erleben, die in meinem musikalischen Bewusstsein schon immer eine feste, aber bislang weitgehend unbeschriebene Größe darstellte. Einzelne Stücke sind mir im Laufe meiner musikalischen Grundausbildung in Kindheit und Jugend begegnet. "Z.N.S." beispielsweise, oder viel später "Die Interimsliebenden", welche als Musikvideo vor der heimischen Glotze bestaunt wurden.

Meine Elektrofrickel-Sozialisation der Achtziger und frühen Neunziger hat bei mir unterschwellig den Verdacht nahe gelegt, daß auch diese geräuschversessene Gruppe eigentlich etwas für mich sein könnte. Eine tiefergehende Beschäftigung hat sich grundloserweise allerdings nie ergeben. Heute also gewissermaßen die Nachhilfestunde, lange nachdem man das Lehrinstitut verlassen hat. Ich kann meine Erwartungshaltung zwar nicht exakt definieren, aber auch fehlgeleitet durch das, seit jeher bei der um griffige Schlagzeilen und leichtgängige Schubladen bemühten Berichterstattung ausgetretene, Klischee des Krawall-Ensembles, würden mir im Nachhinein eine Vielzahl anderer Bezeichnungen für die Band einfallen: Atmosphäriker, Klangfetischisten, Lyriker, Avantgardisten zum Beispiel. Spannend, wie sehr diese Musik Parallelen zu von mir geschätzten Vertretern der elektronischen Hemisphäre aufweist, wobei eine derartige Trennung natürlich per se schon hinkt. Die Mittel sind das eine, die Verfahrensweisen und Muster das andere.

Oftmals wird hier wie dort mit relativ simplem, sparsamem Material als Grundlage durch die Stilmittel der Wiederholung und Variation ein Fluß erzeugt, der mitunter tranceartige Züge annimmt und eine Basis für die verschiedensten Klangkombinationen- und Wirkungen schafft. Komplexität tritt somit weniger strukturell, als vielmehr in Bezug auf die Instrumentation, durch Anreicherung und Verdichtung, auf; groß angelegte Crescendi oder Schichtungen sorgen für Steigerungen größter Intensität. Das Amalgam aus "klassischem" Rockbandinstrumentarium (Bass, Gitarre, Schlagzeug ...) und Line-up (Frontman etc.), sowie elektronischer wie mechanisch-analoger Mittel der Geräuscherzeugung, bietet eine Erweiterung des Klangvokabulars, welche mit schlichtem "Lärm machen" rein gar nichts zu tun hat. Etwaige reißerische Umschreibungen in dieser Richtung greifen definitiv ins Leere, dafür ist diese Musik bei weitem zu komplex und intelligent angelegt – Krach kann man deutlich einfacher haben. Schade, daß ich die einzelnen Kompositionen nicht schon vorher kannte, so sind mir ohne Zweifel noch viele Feinheiten entgangen. Ein Grund mehr, diesen bei einer ausgedehnten Zeitreise durch das Schaffen der Band, Album für Album, nachzugehen.

Ach ja, fast vergessen: Auch akustisch gesehen hat mir das "Experiment" sehr gefallen, zumal von einem eher gewöhnungsbedürftigen Platz neben der Bühne aus. Besonders beeindruckend dabei die Vereinbarkeit von direkt Wahrgenommenem (z.B. nackter Fuß auf Bühnenparkett; knisternde Rettungsfolie) und Verstärktem, das immer noch durch eine gewisse Illusion der Ortbarkeit die Nähe zur Bühne herstellte. Oder ebenfalls darauf bezogen: Krach geht anders.

20. Januar 2017

Ensemble Resonanz – Emilio Pomàrico.
Elbphilharmonie Hamburg, Kleiner Saal.

19:30 Uhr, Reihe 9, Platz 11



Georg Friedrich Haas – Release
Alban Berg – Sieben frühe Lieder (Bearbeitung – Johannes Schöllhorn, Sandrine Piau – Sopran)

(Pause)

Béla Bartók – Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta SZ 106



Nach den ersten gelungenen Stresstests im großen Saal heute also die Premiere im kleinen. Das Ensemble Resonanz, Residenzler der neuen Kammermusikadresse, hatte geladen, seine zukünftige Wirkungsstätte mit einem Programm des 20. Jahrhunderts und einem Auftragswerk einzuweihen. Während das zuströmende Publikum noch ein wenig mit Startschwierigkeiten bei der Platznahme zu kämpfen hatte und sich der Raum nur schleppend füllte, waren aus der Höhe bereits wunderliche Klänge zu vernehmen. Eine brummende, summende Geräuschkulisse von teils infernalischer Lautstärke ließ den Blick irritiert nach Lautsprechern fahnden, die man als Ursprung jenes akustischen Phänomens in Betracht zu ziehen geneigt war – es hätte jedoch gereicht, das Augenmerk auf das Programmheft zu richten, in dem Georg Friedrich Haas davon berichtet, wie ihn der Rohbau des Saales zu jenem Stück inspiriert hatte, das nun in Wellen auf die Hörer einwirkte. Schließlich entdeckte man auch die Musiker, die ringsum auf einer Art umlaufenden Empore unter der Decke postiert waren und ganz unverstärkt Kraft ihrer Bögen und Saiten für diesen verblüffenden Klangkokon sorgten. Nach und nach verließ jedes der Ensemblemitglieder seinen luftigen Arbeitsplatz, um sich an ein auf der Bühne bereitstehendes Zweitinstrument zu begeben – womit sich langsam aber sicher auch der Klang auf die gewohnte Wirkungsrichtung verlagerte. Alles andere als gewohnt, mitnichten gewöhnlich, sind Klangfülle und -Qualität, welche dieser neue Saal dem geneigten Hörer bietet, und darin seinem großen Bruder im Hause in nichts nachsteht. Wärme, Volumen, Klarheit.

Auf Haas` mikrotonalen Soundcheck folgten mit Bergs Liedern sieben Argumente gegen pauschale Distanzängste in Bezug auf Tonsetzer aus dem Dunstkreis Schönbergs. Wobei es mir persönlich ohnehin viel leichter fällt, Bergs weitere Entwicklung zu begleiten als jene seines Lehrers. So sehr mich Gurre-Lieder und Verklärte Nacht – beides noch tief dem 19. Jahrhundert verbundene Werke – begeistern, so wenig habe ich für den späteren Schönberg übrig. Ganz anders bei Berg, der als Wanderer zwischen Spätromantik und freier Tonalität beide scheinbar unvereinbaren Welten versöhnt, vielmehr vereint und etwas schafft, das durch eine ganz leicht wiederzuerkennende persönliche Handschrift und gleichzeitig universelle Modernität besticht.

Diesen Berg des Wozzeck oder des Violinkonzertes treffen wir am heutigen Abend jedoch nicht an. Die sieben frühen Lieder folgen in ihrer Klangsprache den Vorbildern Strauss, Schreker, Mahler oder Wolff, über allem schwebt das Erbe Wagners. Am ehesten noch im ersten Lied, Nacht, mit seinen leicht dissonant-verwunschenen Reibungen, und in der düster-verzehrenden Begleitung der Nr. 6 Liebesode wird der Einfluß der neuen Zeit spürbar. Die von Johannes Schöllhorn eingerichtete Streicherfassung entwickelt auch ohne den Einsatz der Bläser enormen Klangfarbenreichtum, woran natürlich auch die Qualität des Ensembles großen Anteil trägt. Sandrine Piau besitzt einen schönen, klaren, lyrischen Sopran, der jedoch von Zeit zu Zeit vom Tutti-Überschwang verdeckt zu werden drohte.

Höhepunkt des Abends war für mich der Programmpunkt Bartok – und das nicht allein aufgrund der cineastischen Reminiszenz, die das Stück angesichts der kongenialen Verwendung durch Kubrick in Shining auslöst. Gleich der Beginn des ersten Satzes gab, mit dem sukzessiven Einsatz der geteilten Streicher, ein Beispiel von der vorbildlichen Ortbarkeit und Transparenz des neuen Saales, in den sich das stetige Crescendo ergoss; gesanglich, dann geradezu hymnisch, zu beachtlicher Fülle anschwellend, um schließlich wieder zu entschwinden. Hinzu kommt, daß Herr Pomàrico ein Händchen für moderne Musik zu haben scheint, der unter seinen taktstocklosen Händen nichts Technisches oder Verkopftes anhaftete, im Gegenteil eine zutiefst bewegende Erfahrung bot. Die rhythmische Kraft der Sätze zwei und vier wurde vom Ensemble Resonanz mit Virtuosität und Leidenschaft auf das Treffendste eingefangen.

Das Adagio ist noch mal ein Fall für sich. Ganz entgegen meiner ausgeprägten Krawall-Ader habe ich eine besondere Schwäche für langsame, ruhige Sätze. Der beklemmend schleichende Aufbau bei Bartok ist ebenso faszinierend wie die Breite der klanglichen Palette, die trotz der limitierten, oder besser stark spezialisierten Instrumentation ungeheuerliche Wirkungen hervorruft. Ok, wirklich ruhig geht es tatsächlich nicht lange zu. Schroffe Kontraste stellen sich ein. Die Steigerungen begleitet das Donnergrollen von großer Trommel und Tamtam, schließlich der Blitzschlag des Beckens, auf dem Weg dahin glühen die Streicher, flankiert von den schreitenden Schlägen des Pianos und Xylophons; Harfe und Klavier rauschen um die Wette, bekrönt durch die gespenstisch-entrückte Celesta. Welch Töne, Klangzauber in diesem holzbewellten Schuhkarton! Und wenn dann das Thema des einleitenden Andante im letzten Satz mit Verve wieder aufgegriffen wird, weiß man, daß sich ein glanzvolles Eröffnungskonzert für Hamburgs neue erste Adresse in Sachen Kammermusik leider dem Ende neigt, letztendlich aber nur der Auftakt für Größtes im Kleinformat war.

18. Januar 2017

Klavierabend – Mitsuko Uchida.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich D, Reihe 3, Platz 4



Wolfgang Amadeus Mozart –Sonate C-Dur KV 545 "Sonate facile"
Robert Schumann – Kreisleriana / Acht Fantasiestücke für Klavier op. 16

(Pause)

Jörg Widmann – Sonatina facile (Uraufführung)
Robert Schumann – Fantasie C-Dur op. 17
Zugabe: ?



Das Spannungsfeld zwischen Raumakustik und individueller Wahrnehmung ist schon eine spannende, vertrackte Sache. War ich mir anfangs nicht ganz sicher, ob der Flügel nicht doch ein klein wenig dumpf klingt, gab es auf demselben Platz nach der Pause keinen Moment, daran weitere Gedanken zu verschwenden. Vielleicht ist dieses Phänomen einfach dem unterschwelligen Schlummermodus geschuldet, in den mich Mozarts Musik regelmäßig überführt. So auch bei der drolligen Sonate und den sich anschließenden Kreisleriana-Stücken Schumanns, der ja eine ähnlich dimensionierte Rolle in meiner privaten musikalischen Hausapotheke spielt wie sein Salzburger Kollege. Oder war es doch das frech angehurzte Stilkopiegulasch Widmanns, das in der Manier "Hans Liberg in Donaueschingen" zum aufmerksamen Ohrenspitzen einlud? Unerheblich.

Wichtig und beruhigend allein, daß der große Saal der Elbphilharmonie auch Klavierabende zu einer akustischen Wohltat macht. Von Bereich D der zwölften Etage hat man optimale Sicht auf die Künstlerin und ihre Fingerfertigkeit, generell fühle ich mich gleich wohl mit der leicht erhöhten Sitzposition – in Laeiszhallen-Maßstäben eher ein Zwitter aus Parkett und erstem Rang. Und man hört wunderbar fokussiert, obgleich der Klang ausgesprochen rund und warm das Auditorium füllt. Auch noch das kleinste Summen, welches dem Flügel, einem zarten Echo oder organischer Rückkopplung gleich, entweicht, ist deutlich zu vernehmen, das ganze Klangspektrum wirkt ungemein differenziert und lebendig.

Frau Uchidas Spiel ist dabei über jeden Zweifel erhaben. Die Schumann-Fantasie lässt auch einen Ignoranten wie mich aufgewühlt zurück – hier möchte ich keinen der drei Sätze missen, die jeder für sich genommen wie ein erhabener Gipfel dieses pianistische Massiv bilden. Gleich mit dem Beginn sprudelt und schäumt sich die Musik in einen Rausch, der inzwischen sehnendem Drängen und nach innen gerichteter Kontemplation gebettet ist. Begeistert der zweite Satz mit seiner kompromisslos-auftrumpfenden Art und daraus resultierenden Sogwirkung, ist mir der dritte doch der liebste – aufsteigende Harmonien, die Gemüt und Zustand von Plateau zu Plateau emporheben, eine ungeheure Steigerung, die in einzelnen, verhallenden Melodie-Schlägen Auflösung findet. Die Definition von Romantik.

An deren Interpretation gab es nichts zu kritisieren, einzig mein persönlicher Geschmack tendiert nun mal eher zur Gespanntheit und Wucht eines Grigory Sokolov als zur heute gehörten leichtfüßig-lieblichen Duftigkeit. Wobei die kleine Dame durchaus zulangen kann. Aber das ist ja gerade das Schöne: Daß sich große Werke auf mehr als eine Weise schlüssig und berührend vermitteln lassen. Auf die kommenden Klavierabende in diesem großartigen Saal!

17. Januar 2017

Symphoniker Hamburg – Sir Jeffrey Tate.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich K, Reihe 1, Platz 27

Ludwig van Beethoven – Missa Solemnis D-Dur op. 123

(Philharmonia Chorus, Camilla Nylund – Sopran, Sarah Conolly – Mezzosopran, Klaus Florian Vogt – Tenor, Luca Pisaroni – Bassbariton)



















Die erlösende Erkenntnis vorweg: Die Elbphilharmonie macht glücklich. Zumindest, wenn man von einem wunderbaren Platz aus Jeffrey Tate und seine Symphoniker, unter Mithilfe vorzüglicher Solisten und eines atemberaubenden Chores, mit Beethovens Missa Solemnis als erstes Hörbeispiel genießen darf – soviel gilt es nach diesem rauschhaft rauschenden Abend schon mal festzuhalten. Dabei muss ich zu meiner Schande gestehen, daß mir dieses Werk bis heute zwar ein Begriff, aber kein akustischer war, vom Liveerlebnis ganz zu schweigen. Aber besser spät als nie, um eine ebenso naheliegende, wie bereits abgegriffene Anspielung auf das neue Haus einzustreuen. Aber nein, an einem Tag wie heute habe ich keine Lust über gebogene Rolltreppen oder ebensolches Glas zu sinnieren, selbst über Weinberge und weiße Häute nicht. An einem Tag, der das Ende von jahrelangem Warten, Hoffen und Bangen markiert und gleichzeitig den Beginn, klassische Musik zumindest in Hamburg ganz neu und anders aufnehmen zu können.

Nicht falsch verstehen – ich bin ein großer Freund der Laeiszhalle und freue mich bereits auf weitere fulminante Konzerte dort, vor allem mit den geschätzten Symphonikern. Daß es sich auch bei der Suche nach dem „Weltklasseklang“ letztlich um eine höchst subjektive Angelegenheit, um nicht zu sagen Geschmackssache und viel mehr um die erhoffte Verwirklichung eigener Vorlieben als irgendwelcher „objektiven“ Nennwerte handelt, sollte sich jeder Musikfreund – ob Berufs- oder Hobbykritiker – ehrlicherweise eingestehen. Nur weil mich persönlich die hochgelobte Philharmonie in Paris akustisch enttäuscht und die allseits verehrte in Berlin nie sonderlich animiert hat, der Hauptstadt überproportional häufig einen Besuch abzustatten, heißt es ja nicht, daß die Akustik dort anderen Ohren unmöglich Verheißung bringen kann. Andererseits möchte ich die vielen unvergesslichen Sternstunden in der alten Dame Laeiszhalle nicht missen, in der man einfach nur wissen muss, wo man bei welcher Besetzung sitzt und wo besser gar nicht.

Das heutige Konzert gab jedenfalls viele Hinweise darauf, daß hier ein Saal erbaut wurde, der in vielen Punkten meinen Hörvorlieben entspricht: Nicht zu groß von der Grundfläche, damit ordentlich Dampf abgerufen werden kann. Und mit Dampf meine ich nicht reine Lautstärke in Dezibel sondern Druck, physische Präsenz, die einen anfasst und dann auch physisch im wahrsten und doppelten Sinne mitnimmt. Im Gasteig kann ein Orchester Gas geben, wie es will, da kommt nicht viel rüber. Und ich erinnere mich mit Grausen an Mahler in Berlin, bei dem ich das Gefühl hatte, einen Sturm hinter einer Glasscheibe domestiziert wüten zu hören, aber nicht zu spüren. Als Höchststrafe waren es die Berliner Philharmoniker selbst, deren schier unausschöpfliches Potenzial an diesem Tag nicht zu mir durchzudringen vermochte – ein objektiv fantastisches Konzert ohne die geringste Wirkung. Wenn diese Art der Objektivität Weltklasse bedeutet, bleibe ich liebend gern Provinzler. (Ein Wort zur Güte: Mittlerweile weiß ich aus eigener Erfahrung, dass es durchaus vernünftige Plätze in der Berliner Philharmonie gibt). Aber zurück an die Elbe.

Der Saal scheint nicht nur mein Krawall-Faible zu befriedigen, sondern bietet vom anderen Ende der dynamischen Skala noch bis in Forte-Regionen jene ersehnte Transparenz, die solistischen Äußerungen Ortbarkeit und Gegenwärtigkeit verleiht, sowie dem Zusammenspiel der einzelnen Instrumentengruppen räumliche Bezugnahme ermöglicht, ohne daß der Gesamtklang dabei auseinanderfiele. Auch das leiseste Holzbläsersolo oder eine einzelne gedämpfte menschliche Stimme können so gleichzeitig an der Grenze des Wahrnehmbaren und dennoch klar adressiert ihre Wirkung entfalten. Der große Saal der Elbphilharmonie ermöglicht dies mit beeindruckender Intensität. Verblüffend beispielsweise, wie klar und nah die vier eher untypisch zwischen Orchester und Chor positionierten Gesangssolisten zu vernehmen waren. Das lupenreine Solo des Konzertmeisters gab bereits eine Ahnung davon, wie bei einem Violinkonzert der Höreindruck sein wird – auch hier das ausschlaggebende Zauberwort: Präsenz. Selbst auf die Gefahr hin, diesen Begriff inflationär zu verwenden, lässt sich für mich Hören, das zu bewegender Empfindung führt, letztendlich immer darauf herunterbrechen.

Und ein bewegender Abend war es ohne jeden Zweifel. Gleich mit den ersten Takten etablieren Tate und seine Musiker eine weit schwingende Atmosphäre, lassen Beethovens Werk mit so viel Güte und Menschlichkeit aufblühen, daß ich von Beginn an mit den Tränen zu kämpfen habe. Wahrscheinlich hat es auch nicht wenig mit jener Über-Erwartungshaltung zu tun, von der ich mich in den letzten Tagen nicht freisprechen konnte, und die nun in diesen auf Anhieb berührenden Klang mündet, aber das, was hier so wunderbar klingt, sind eben die guten alten Symphoniker Hamburg. Viel ist darüber philosophiert worden, wie heikel doch jene alles offenbarende Akustik sei, die keinen Fehler verzeihe. Ich für meinen Teil sehe das etwas anders: Wer Ohren hat, konnte und kann auch in der Laeiszhalle, der MUK oder der Glocke durchaus registrieren, wenn sich ein Musiker verspielt, ein Sänger den Ton nicht trifft oder ein ignoranter Zeitgenosse das Pianissimo zum Anlass nimmt, sein Hustenbonbon vom Papier zu befreien. Bedauerliches bleibt hier wie dort bedauerlich, Ärgerliches ärgerlich. Was ich für die wichtigere Erkenntnis halte: Ein Orchester, das in der Lage ist, durch überzeugende Klangfarben, oder schlicht Persönlichkeit und Herz zu begeistern, wie ich es an den Symphonikern schätze, kann damit die Elbphilharmonie und sein Publikum erfüllen.

Sicher gab es heute viele spannende Details zu erleben – beispielsweise wie klar die ganze Rhythmik und abschließende Fuge im Gloria gelang; wie himmlisch die Celli, von samtweichen Bläsern grundiert, zu Beginn des Sanctus sangen, als wollte Beethoven einen freundschaftlichen Gruß an Elgar und die Zukunft richten; wie knackig die Pauke rüberkam; wie schön abrundend die Bässe als Fundament in Erscheinung traten; wie facettenreich der Chor alle Dynamikstufen ausfüllte; wie edel die Gesangssolisten für sich und homogen im Zusammenspiel mit Orchester und Chor agierten. Doch der Abend hat wieder gezeigt, daß sich die Einlösung des Erhofften oft auf ein schlicht empfundenes „Ja“ oder „Nein“ reduzieren lässt. Das heutige „Ja“ füllte den neuen Saal und schickt sich an, eine Nachhallzeit zu entwickeln, die auch der beste Akustiker nicht in seinen Diagrammen finden wird.

11. Januar 2017

Eröffnungskonzert
NDR Elbphilharmonie Orchester –
Thomas Hengelbrock.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Oberdeck Salonschiff auf der Elbe / links auf dem heimischen Sofa



Benjamin Britten – Nr. 1 "Pan" aus: Sechs Metamorphosen nach Ovid op. 49 
(Kalev Kuljus – Oboe)

Henri Dutilleux – Mystère de l'instant (I. Appels – II. Échos – III. Prismes)

Emilio de‘ Cavalieri / Antonio Archilei – "Dalle più alte sfere" aus "La Pellegrina" (Philippe Jaroussky – Countertenor, Margret Köll – Barockharfe)

Bernd Alois Zimmermann – Photoptosis, Prélude für großes Orchester (Iveta Apkalna – Orgel)

Jacob Praetorius – Motette "Quam pulchra es" (Ensemble Praetorius)

Rolf Liebermann – Furioso für Orchester (Ya-ou Xie – Klavier)

Giulio Caccini – "Amarilli mia bella" aus "Le nuove musiche" (Philippe Jaroussky – Countertenor, Margret Köll – Barockharfe)

Olivier Messiaen – Turangalîla-Sinfonie, 10. Satz (Finale) (Ya-ou Xie – Klavier, Thomas Bloch – Ondes Martenot)

(Pause)

Richard Wagner – Vorspiel zu "Parsifal"

Wolfgang Rihm – Reminiszenz, Triptychon und Spruch in memoriam Hans Henny Jahnn (Uraufführung) (Pavol Breslik – Tenor, Iveta Apkalna – Orgel)

Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125, 4. Satz, Presto – Schlusschor über Schillers Ode "An die Freude" (Hanna-Elisabeth Müller – Sopran, Wiebke Lehmkuhl – Alt, Pavol Breslik – Tenor, Bryn Terfel –Bassbariton)



Da in Bezug auf das Eröffnungskonzert der Elbphilharmonie die alte Feststellung geradezu schraubstockartig zu greifen scheint, daß zwar bereits alles gesagt ist, nur eben nicht von jedem, möchte ich heute selbst in diesen Chor einstimmen und bei der Gelegenheit gleich mal mit einer Tradition brechen – nämlich über ein Konzert schwadronieren, das ich selbst gar nicht besucht habe. Sofern ein in Regen und Wind ertrotzter Stehplatz an Deck eines radiolosen Seelenverkäufers nicht doch in Teilen als Besuch zählt. Aber wer braucht schon Ahnung, wenn er eine Meinung hat – ein Wesenszug, der mich mit Myriaden von Facebook- und Sofakommentatoren verbindet. Und wofür gibt es schließlich den Mitschnitt. Also frisch ans Werk.

Meine Lieblingsfloskel als "kritische" Reaktion auf das Eröffnungskonzert ist, noch weit vor "Bonzenveranstaltung!" und "Wie viele Kitas mit musikalischer Früherziehung für obdachlose Tierbabys hätte man mit all dem Geld finanzieren können!" ganz klar "Die Stückauswahl war eine vertane Chance, den Menschen klassische Musik näherzubringen." – beziehungsweise die gebräuchlicheren Derivate "Katzenmusik!" oder "Scheiß Mucke!!1!". Eine Vielzahl der von Herrn Hengelbrock ausgewählten Stücke scheint demnach nicht ganz den Geschmack aller getroffen zu haben. Das Programm liest sich in der Tat auch für halbwegs erfahrene Konzertgänger wie mich überraschend unvertraut. Womit ich dezidiert den ersten Teil des eigentlichen Konzertes meine, nicht die mit den üblichen Verdächtigen Beethoven, Mendelssohn und Brahms bestückte musikalische Rahmung der Reden des vorangegangenen Festaktes.

Obwohl ich mir über den wichtigsten Aspekt einer jeden Aufführung, die akustische Wirkung im Raum, wie bereits bedauert, leider kein Urteil erlauben kann, muss ich doch meiner Begeisterung über die Konzeption des Konzertprogramms Ausdruck verleihen, die mit jedem Stück wuchs. Den Auftakt macht mein geliebter Britten, allerdings mit einem Stück, das bislang ein ungehörtes Dasein in meinem Plattenschrank fristete. Kalev Kuljus intoniert "Pan" aus den sechs Metamorphosen nach Ovid von einer höher gelegenen Etage ins Dunkel des gedimmten Saales. Am Anfang war die Melodie, stellvertretend vorgetragen von der Oboe – dem intonationsgebenden Instrument eines jeden Konzerts, das auch hier den Beginn markiert. Der folgende Dutilleux ist eine Ohrenweide für alle Freunde kristalliner Streicherklänge, ein schwebender Hauch, zeitweise getragen vom satten Fundament der Bässe, kontrastiert durch Pizzicato-Tropfen und die das feine Gewebe durchschneidenden Schläge der Zymbal.

Einschub: Mein Kompliment an die Regie – die währenddessen gezeigten Nahaufnahmen der Wandstrukturen, mit minimaler Schärfentiefe gefilmt, zeugen wie viele weitere an diesem Abend noch folgende Einstellungen von der äußerst geglückten Unternehmung, die Architektur der Spielstätte ästhetisch höchst virtuos in den audiovisuellen Fluss der Übertragung einzubinden. Vielleicht sogar mehr noch als der eigentliche programmatische Blickfang der mit Licht und Projektionen in Szene gesetzten Fassade.

Zurück zu Dutilleux. Klar, der Name ist mir oft begegnet, aber wer konnte ahnen, welch großartige, atmosphärische Musik das ist. Klarer Punkt für Hengelbrock. Über die interpretatorische Qualität lässt sich mangels Vergleichsmöglichkeiten wenig sagen, jedoch wüßte ich nicht, wie man dieses fragile Material besser vermitteln könnte.

Einen besseren Vermittler für die Kunst der Countertenöre als Philippe Jaroussky wird man jedenfalls schwerlich finden. Technische Brillanz und Flexibilität, gepaart mit feinst nuancierter Phrasierungskultur lassen diese überirdische Stimme zum Ereignis werden. Nein? Man ist irritiert? Warum singt der Mann da wie eine Frau und kommt das womöglich häufiger vor? Bei Gedanken wie diesen einfach getrost weiterspulen oder die Begriffe "Countertenor" und "Altus" googeln. Weiter im Text. Allein von der Harfe begleitet liefert Jaroussky eine Definition von Stimmbeherrschung und transportiert die uns auf den ersten Blick unendlich weit entfernten Stücke der Renaissance bzw. des Frühbarock beseelt ins Hier und Jetzt. Ruft man sich zudem das Faible des NDR-Chefs für sogenannte alte Musik ins Gedächtnis, sind diese Programmpunkte ebenso wie die später vom Ensemble Praetorius dargebotene Motette ihres Namensgebers weit weniger überraschend.

Bernd Alois Zimmermann ist vielleicht der dickste Brocken für all diejenigen, für die Klassik irgendwo zwischen der kleinen Nachtmusik und der letzten Biegung der Moldau abgesteckt ist. Eine große Albtraummusik, mag der ein oder andere bei dem Stück denken, in dem sich zum ersten Mal an diesem Abend auch das Blech Gehör verschafft und das mit Macht. Aber auch hier zeigt sich – unabhängig vom Stilmittel der stetigen Steigerung der eingesetzten Mittel, gegenübergestellt jeweils mit kammermusikalischen Werken von der Empore – die Stringenz in der Stückwahl durch Hengelbrock. Dem geneigten Klassikfreund werden die splitterhaft auftretenden Zitatfetzen nicht entgangen sein: Die Trompeten skandieren den Moment der Klimax aus Beethovens Neunter, kurz bevor der Bass mäßigend seine Stimme erhebt – der Weg zum Finale des heutigen Abends ist hier bereits vorgezeichnet. Und wir lauschen weiter: Wagners Parsifal huscht als Schatten an uns vorbei – im Anschluss an die Pause wird das komplette Vorspiel zu erleben sein. Weitere Bruchstücke sind zu hören, unter anderem Skrjabin und Tschaikowsky, eine weitere Stelle aus der Neunten, genauer dem Scherzo, eine zerrüttete Collage durch Zeiten und Stile, gefasst von bedrückenden Klängen der Moderne. Orchester und Orgel rauschen auf in einem Taumel physischer Gewalt.

Und wieder: dieser Kontrast, den die anschließende kontemplative Polyphonie der Motette schafft, ist mehr als nur Effekthascherei. Quam pulchra es – Wie schön! Es folgt meine persönliche Entdeckung des Abends. Rolf Liebermann war mir zwar als langjähriger Hamburger Intendant und Namenspatron des oft besuchten Saales in der Oberstraße geläufig, aber mir war nicht bewusst, was mir da musikalisch durch die Lappen gegangen ist. Das dreiteilige Stück beginnt und endet, wie es der Titel erahnen lässt, mit einem drängenden Sturmlauf des Orchesters. Eilende Streicher, fast schon jazzige Harmonien erinnern ein wenig an Bernstein. Und dann erst dieser wunderschöne Mittelteil, der ruhige Beginn mit den solistisch eingesetzten Holzbläsern gemahnt an Hindemith (Mathis der Maler), sich in stetigem Crescendo unter Mitwirkung schmachtender Streicher und ehernem Blech hymnisch steigernd – ein bislang unbekannter Triumph der Tonalität aus dem Jahre 1947. Und in den Ecken ist ordentlich Dampf drin, Hengelbrock treibt sein Orchester zu knackiger Virtuosität; das bei mir latent unter NDR abgespeicherte Menetekel der Beamtentruppe zerstob unter präzisen Läufen und forschem Charakter.

Nach dem zweiten Auftritt Jarousskys fungiert das Finale der Turangalîla-Sinfonie als Rausschmeißer zur Pause. Das Werk Messiaens ist als Ganzes ein etwas häufigerer Gast in den Programmen, trotzdem beweist Hengelbrock auch mit diesem vorläufigen Schlussstein seiner Reise durch die Jahrhunderte einen Geschmack für das Extravagante. Gut so! Unter vollem Einsatz des Orchesters, bekrönt von Piano, Schlagwerk und den elektronischen Jauchzern des Ondes Martenot findet die erste Konzerthälfte nach einem majestätischen Choral mit einem beeindruckenden Tutti-Crescendo, das in den neuen Saal verhallt, seinen würdigen Abschluß.

Nach der Pause das Parsifal-Vorspiel, dessen Auftreten sowohl Kraft der irisierenden Klangwirkungen, die es bereithält, als auch Aufgrund seiner Motto-gebenden Funktion für das ganze Konzert begründet ist, welches Hengelbrock mit dem Gurnemanz-Zitat "Zum Raum wird hier die Zeit" belegt hat. Wenn man denn unbedingt etwas herummäkeln möchte, dann hier, bzw. rein an der technischen Ausführung . Ja, die Posaunen setzen nicht wirklich unisono ein, ja, die Trompete produziert einen unschönen Wackler an exponierter Stelle, etc., aber hier sollte man auch mal den Gral in der Burg lassen – Unsauberkeiten wie diese sind erstens keine Seltenheit und kommen zweitens auch bei den besten Orchestern vor. Süß der Verweis aus der Süddeutschen, daß die beste Akustik aus einem Durchschnittsensemble nicht die Wiener Philharmoniker macht. Unabhängig davon, ob beispielsweise deren naturhornbedingte Kiekseranfälligkeit gerade hier für den Vergleich taugt, liegt natürlich darin die Crux, dass mit dem NDR zumindest nominell kein sogenanntes Orchester von Weltgeltung das Heimrecht in der Elbphilharmonie genießt. Alles was ich jedoch per Kopfhörer daheim vernommen habe, konnte sich klanglich und, von den angesprochenen, zugegebenermaßen unschönen Patzern abgesehen, ebenfalls technisch durchaus hören lassen. Ich denke, auch für das NDR Elbphilharmonie Orchester beginnt mit ihrer neuen Spielstätte eine Reise, deren Entwicklung man erst in ein paar Jahren wird absehen können. Klar, mit der Umbenennung allein ist noch nichts gewonnen. Kurz zur Lesart durch Hengelbrock: Durchaus behutsam, transparent gestaltet, in der Ausformulierung manches Melodiebogens mir persönlich etwas zu hastig, kurzatmig, insgesamt aber definitiv nicht einfach nur langsam hingenudelt, wie es der Tod für dieses Wunderwerk der Opernliteratur wäre. Kann man definitiv so machen.

Der nahtlose Übergang zum Rihm wirkt verblüffend homogen. Das Auftragswerk bringt uns einen weiteren Hamburger Künstler nah, von dem zumindest ich auch nur den nach ihm benannten Weg in Uhlenhorst kenne: Hans Henny Jahnn. Die vier Stücke taugen nicht unbedingt als Stimmungsheber zum Mitschunkeln, spiegeln offenbar aber die Persönlichkeit Jahnns wider, welche die Vertonung eigener und fremder Verse umreißt. Düster, grüblerisch mäandert die Musik dahin, durchaus melodisch, im Grenzbereich zwischen Tonalität und Atonalität changierend. Mir gefällt´s. Dazu Pavol Bresliks strahlend-feiner Tenor, weniger heldisch als der eigentlich vorgesehene Jonas Kaufmann, aber klar und ausdrucksstark mit guter Textverständlichkeit – soweit man das über Mikrophon beurteilen kann. Währenddessen entwickelt das Werk einen schmerzverzerrten Furor, die Orgel kommt zu ihrem Recht – vielleicht eine Anspielung auf Jahnns Liebe zu diesem Instrument. Mir erscheint es bemerkenswert zur Eröffnung eines neuen Hauses eine solch nachdenkliche Arbeit vorzulegen. Aber warum nicht, gewissermaßen das Pendant zu Brahms: Vier ernste Gesänge über die Vergänglichkeit.

Zumal Hengelbrock es nicht bei diesem toten Punkt beläßt – mit schmetterndem Blech und energischen Bässen sorgt Beethoven für den letzten großen Kontrast des Abends und mahnt: "O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!" Ich will nicht ausschließen, daß er damit auch all jenen aus dem Herzen spricht, von denen eingangs die Rede war. Nun ja, was den einen abstößt, ist für den anderen eine der stringentesten Programm-Konzeptionen seit langem. Klar, man hätte auch einfach ein bisschen Mozart, Beethoven und Brahms hinter einander wegdudeln lassen können, wie man das sonst so in tausendfach durchgekauter Ödnis kennt – zumindest wenn man von Zeit zu Zeit einen Konzertsaal von innen gesehen hat. Der ganzen Fraktion "Warum nicht was Gefälliges, das auch Laien mitnimmt?" möchte ich nur sagen, daß meiner Ansicht nach generell niemand bei Klassik im vorbeigehen mitgenommen wird. Das ist Mumpitz. Phrasen wie "Das ist so schöne Musik, die begeistert auf Anhieb" gehören meiner Erfahrung nach ins Reich der Märchen und Sagen. Selbst das sogenannte Klassik-Klientel findet in der Regel das prima, was es bereits kennt, und tut sich schwer mit allem "Neuen". Dabei ist es mit der Klassik wie mit so vielem: erst intensive Beschäftigung damit bringt Erlebnisse jenseits der Oberflächlichkeit hervor. Nicht daß das jeder so zu handhaben hat, man kann in der Musik natürlich auch nur eine nette Nebensache sehen, die im rechten Moment die Stimmung hebt oder die Zeit am Bügelbrett verkürzt – warum nicht. Schön aber, daß Herr Hengelbrock seine Funktion als künstlerischer Leiter des Abends tatsächlich mit dieser, zugegebenermaßen anspruchsvollen, Konzeption wahrgenommen und sich, sein Orchester und nicht zuletzt den neuen Saal in einer Art und Weise persönlich vorgestellt hat, wie ich es bei einem Ereignis der Randgruppen-Sparte Klassik, das so im Fokus der Öffentlichkeit stand, nie für möglich gehalten hätte. Meinen tiefsten Respekt.