21. Oktober 2017

Les Troyens – John Fiore.
Semperoper Dresden.

16:00 Uhr, Parkett rechts, Tür F, Reihe 5, Platz 23



Berlioz gehört ja zu meinen absoluten Lieblingen. Die ganze Figur des scharfzüngigen Feuerkopfs und experimentierfreudigen Orchesterinnovators fasziniert mich seit eh und je – und dann erst seine Werke! Ob Requiem, Fausts Verdammnis oder die unausweichliche Symphonie Fantastique, ob Harolds gebratschte Italiensehnsucht, der irisierende Streicher- und Harfen-Glitzer der Fee aus Romeo und Julia oder der bald lähmend düstere, bald machtvolle Bläsersatz der Grande symphonie funèbre et triomphale – Ein Komponist der feinen wie der großen Geste, ein Komponist der Kontraste. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass seine größte, zumindest ambitionierteste, zeitlich ausgedehnteste Beschäftigung mit dem Musiktheater meine Reiselust weckt, wenn es an solch exquisitem Hause gegeben wird.

Ich schreibe absichtlich „ambitionierteste“ und nicht „beste“ Arbeit, weil ich mir nach dem dritten Liveerlebnis dieses Werkes immer noch nicht ganz sicher bin, wie und wo genau ich es in mein Berlioz’sches Schwärmportfolio einzuordnen habe. Die Berliner Produktion ließ mich seinerzeit erst begeistert (Link), dann reserviert (Link) zurück, und auch heute bleibt ein ambivalentes Gefühl zurück. Die Partitur enthält fraglos jene Schön- und Kühnheiten, für die ich Berlioz so liebe, macht es dem Hörer angesichts ihrer Länge und Komplexität nicht gerade leicht, von diesem nach jenen wenigen und seltenen Begegnungen vollumfänglich erfasst und somit auch geschätzt zu werden. So verließ ich nach fünf Stunden die Semperoper mit der Frage, ob da an diesem Abend nicht doch mehr drin gewesen wäre.

Bei der Spurensuche diesbezüglich möchte ich mich in erster Linie auf die Inszenierung stürzen, da die musikalische Umsetzung ohne Zweifel kaum Anlass zur Beanstandung bot – im Gegenteil, aber dazu später mehr. Willkommen in Troja, oder besser gesagt, willkommen in Dresden, denn die seit zehn Jahren belagerte und nun nach dem scheinbaren Abzug der Griechen in Feierlaune befindliche Stadt ist in dieser Produktion die Elbmetropole Ende des 19. Jahrhunderts (Im Programmheft ist vom "Fin de siècle" die Rede, aber die preußische Pickelhaube hat bei Herrn Falaschi noch nicht Einzug gehalten). Die Feierlichkeiten zum trügerischen Frieden finden demnach auf dem Opernplatz statt, eine große Architekturzeichnung der Semperoper dominiert das Bühnenbild. Eine vielleicht erst mal befremdlich anmutende „Aktualisierung“, bei der sich Frau Steier und ihr Team aber sicher etwas gedacht haben werden. Nicht unspannend, das Problem nur: welche Absicht auch immer sich dahinter verbirgt – sie erschloss sich mir im weiteren Verlauf der Inszenierung leider nicht. Ich möchte gern glauben, dass mehr als ein lokaler Bezug hergestellt werden sollte, bleibe jedoch ratlos. Troja kann überall sein? Dafür brauche ich dann keine sächsischen Uniformen aus dem Militärmuseum, sorgsam ondulierte Schnurr- und Backenbärte bei den Herren sowie in der Mode der Zeit gekleidete Damen. Das Militär hat bei den Trojanern die Hosen an, schon klar, aber auch dafür ist diese örtliche und zeitliche Eingrenzung nicht relevant.

Abgesehen von jener Irritation muss man es den Verantwortlichen aber lassen, dass sie mit der gleichen Detailversessenheit der Maske und Kostüme ebenso die Personenregie bedacht haben, so dass es gerade bei der Fülle an Massenszenen mit Choristen und Statisten viel zu entdecken gibt. So ist das Volk nicht allein trunken des Sieges, sondern gibt sich frohgemut allerlei alkoholischen wie kulinarischen Genüssen hin – Der König selbst (Priamus hier folgerichtig als Albert von Sachsen) macht den Anstich, die Gulaschkanone dampft, Würstchen finden hungrige Abnehmer. Optisch ansprechend und räumlich clever gelöst ist die Szene, in der einzelne Tribünensegmente, einem kleinen Ballett gleich, über die Bühne dirigiert werden – eines für das Volk, eines für den Klerus und eines für den Hofstaat. Viele der Choristen scheinen kleine Rollen einstudiert zu haben, an jeder Ecke spielen sich Mini-Szenen ab, so dass man im Gewusel mitunter gar nicht alles mitbekommt.

Der König ist ein Stoffel, der erst von seiner Gattin ermahnt werden muss, beim Erscheinen der Witwe Hektors Haltung anzunehmen, Aeneas versucht den Halbwaisen mit einem Luftballon aufzuheitern und durch eine Partie Stein-Schere-Papier auf andere Gedanken zu bringen. Die Mutter verliert beim Anblick eines Säuglings vollends die Fassung und muss gewaltsam von dem fremden Kind getrennt werden. Die Tragik der Szene wird andererseits durchaus gebrochen, beispielsweise wenn der Soldat der derangierten Witwe verschämt ein Würstchen anbietet. Manche Grausamkeit wird wiederum mit einem Hyperrealismus zelebriert, so etwa bei der Präsentation Laokoons, dessen entstellter Leib direkt der Pathologie entnommen scheint, oder wenn Cassandra einer Trojanerin in der Gewalt der Griechen mit einem Hieb den Bauch aufschlitzt, dem daraufhin ein ordentliches Bündel blutiges Gekröse entspringt.

Die Schreckensvisionen der besagten Seherin tauchen die Bühne jeweils in ein gespenstisches, gelbes Licht; während Cassandra versucht, Einfluss auf ihre Mitbürger zu gewinnen, bewegen sich diese in Zeitlupe, unbeeindruckt, verlachen sie. Bei dem vergeblichen Versuch, ihren Verlobten zur Flucht zu bewegen, ist ihr verstorbener Sohn als Gespenst allgegenwärtig. Letztlich kann sie weder ihren Liebsten retten noch verhindern, dass das Pferd der Griechen in die Stadt gebracht wird – in dieser Inszenierung ist es eine Kopie des Reiterstandbildes auf dem Opernplatz. Warum auch immer, mehr als einen Gag konnte ich darin nicht erkennen. Das trojanische Pferd ist ein Fremdkörper, eine scheinbare Opfergabe der Griechen – das Reiterstandbild ist ein Teil Dresdens, somit Trojas. Egal.

Der theoretische Hauptcharakter Énée bleibt erst mal unauffällig. Er ist ein Tunichtgut, der sich mit Damenbesuch auf seinem Zimmerchen vergnügt, während die Griechen die Stadt in Schutt und Asche legen. Die unstrittige Zentralfigur der ersten beiden Akte stellt hingegen Cassandra dar. Aus meiner Sicht hat Berlioz für sie auch die beste Musik des Trojaner-Teils der Oper geschaffen, namentlich ihre Überzeugungsversuche, besonders ergreifend in der Dialogszene mit ihrem Verlobten Chorèbe, bevor sie schließlich in wahnhaftem Eifer zum Massenselbstmord der Trojanerinnen aufruft. An vielen Details der Instrumentation wird deutlich, wie effekt- und wirkungsvoll Berlioz für das Theater komponierte, etwa anhand des langsam aus Fernorchesterweiten anschwellenden Triumphmarsches oder der Erscheinung des toten Hektors – erst düstere, leise Klänge der Vorahnung, dann ein greller Beckenschlagblitz aus dem Nichts.

Nach der Pause geht es in Karthago ähnlich aufwändig weiter, wir erleben das emsige Treiben der Tyrer, ihrerseits eine Art Studie des vorrevolutionären Russlands – orthodoxe Priester, Trachten, Flechtfrisuren. Hammer und Sichel im Gebrauch künden vom Arbeiter- und Bauernstaat. In diese Idylle stranden die Dresdner Militärs, Pardon, die Trojaner. Zweifel daran, wie zwingend diese Bemäntelung der beteiligten Parteien ist, wohin sie führt, mehren sich. Aller Akribie der Personenregie – die Dresdner/Trojaner richten sich in Karthago häuslich ein, hissen ein Semperoperbanner und befeuern die Gulaschkanone nach erfolgreichem Feldzug gegen die nubischen Aggressoren – steht doch überraschend wenig Idee gegenüber.

Sicher, ein ganz wesentlicher Eingriff der Regie besteht darin zu zeigen, wie sich die Krieger nicht allein an Bier und Würstchen, sondern auch an den karthagischen Frauen gütlich tun, und das in bester Besatzungsmachtmanier. Das ist ja auch nicht dumm, kommt den Frauen in diesem Werk doch eine, wenn nicht die zentrale Rolle zu, als Einzelpersonen (Cassandra/Dido) wie im Kollektiv. Um allein auf diesen Umstand hinzuweisen, hätte es aber nicht dieser Pseudo-Aktualisierung bedurft, die eher in die Irre führt. Das Leid, welches Krieg – und Krieger – gerade bei der weiblichen Bevölkerung verursachen, ist ein leider allgemeiner, ja ewiger Gegenstand menschlicher Geschichte. Ich weiß nicht, was dieser falsche Realismus dem hinzufügt. Die Unterredung der beiden Trojaner über die Vorzüge des Müßiggangs in der Fremde in einer Vergewaltigung gipfeln zu lassen, legt den Finger in die richtige Wunde – den ganzen Kostümfundus-Mummenschanz braucht es da gar nicht (Bezeichnenderweise rief gerade diese Szene den Unmut einiger Besucher hervor – das alte Thema: man möchte sich die selbst geschaffene Illusion belangloser Oberflächlichkeit, bemäntelt als „Schönheit“, im Theater nicht zerstören lassen).

Vollends entglitt die Kostüm-Charade dann bei der Abwendung des Überfalls auf Karthago. Die Nubier als Krummsäbel schwingende Klischeearaber, denen in Karl-May-Festspiel-Qualität der Garaus gemacht wird. Während des nachfolgenden Zwiegesprächs zwischen dem Minister und Didos Schwester ist es schwer, bei aller ausinszenierten Leichenfledderei und minutiösen Abtransports der Gefallenen überhaupt noch etwas vom Inhalt der Unterhaltung mitzubekommen. Zur Walzerseligkeit der Liebesmusik von Dido und Aeneas treiben trojanische Wachen das karthagische Volk über die Bühne – gelangweilte Krieger sind eine Zeitbombe, ich hab's begriffen. Vorher schon. Die Ballettszenen scheinen gekürzt, dafür gibt es ein paar Artisten – Szenenapplaus, natürlich.

Der letzte Akt schließlich wartet mit weiteren Ärgernissen – warum müssen die Trojaner an solch leiser Stelle an den Segeln ihrer Requisiten-Schiffchen rumfummeln? – aber auch mit der stärksten Szene des Abends auf: die Idee, die verstorbene Cassandra und ihren Sohn der verzweifelten Dido als tröstende Geister an die Seite zu stellen, ist ebenso zwingend wie ergreifend. Ansonsten endet die Inszenierung unbefriedigend – der Sockel des Reiterstandbild-Zitats muss als Scheiterhaufen herhalten, Dido bekommt noch ein neues dekoratives Kleid und geht mit Aeneas´ Waffenrock in den Tod.

Kommen wir nach so viel Ambivalenz des Szenischen zur erfreulich homogenen und erwartet hohen Qualität der musikalischen Umsetzung. Konfrontiert mit einem doch eher überschaubaren Orchestergraben, geriet die üppige Besetzung zur räumlichen Herausforderung – Teile des Blechs, an einer Stelle gar des Chores, wurden daher ins Proszenium ausgelagert. John Fiore hatte die Klangmassen dennoch bestens im Griff, sorgte für Momente kolossaler Energieentladungen, hatte aber eben gleichermaßen das feine, zarte der Partitur im Blick. Die Staatskapelle Dresden, abgesehen von minimalen Schönheitsfehlern im Blech, mit einer bärenstarken Leistung. Die Chöre druckvoll, ekstatisch.

Aus der Sängerriege stachen die beiden großen Damenpartien nicht allein aufgrund ihrer Anteile und Bedeutung wegen heraus. Zum einen Jennifer Holloway als Cassandra, die mich heute am meisten beeindruckt hat – feinstes Mezzo-Timbre mit einer gehörigen Portion Feuer und – trotz der tragischen Anlage der Rolle – Erotik, zudem eine Sängerin mit außergewöhnlicher Bühnenpräsenz. Zusammen mit dem wunderbar weich-samtigen Bariton Christoph Pohls, lyrisch und voller Schmelz, bildete sie für meine Ohren das Paar des Abends, in jedem Fall die besten Stimmen der beiden Troja-Akte. Das eigentliche Traumpaar (oder Albtraumpaar, angesichts des Ausgangs ihrer Beziehung) Dido und Aeneas, konnte mich zuerst nicht in gleichem Maße fesseln, da ihre Verkörperer stimmlich doch aus etwas anderem Holz geschnitzt schienen. Bryan Register besitzt einen warmen, angenehm edlen Tenor ohne Schärfe, aber gleichzeitig auch ohne die letzte heldische Strahlkraft, was sich insbesondere bei Spitzentönen bemerkbar machte. Christa Mayers Stimme ist im Gegenzug zu Frau Holloway weniger von sinnlicher Leidenschaft geprägt, ihre Dido hat etwas mütterlich-gütiges, ich höre hier weniger vom Feuer der Liebe, als es die Partie vielleicht verlangt – halt mehr Brangäne als Isolde. Mayers Stunde schlägt jedoch dann, wenn der trojanische Thronflüchtling längst über alle Berge ist. Die Verzweiflung, Wut und tiefe Traurigkeit der Königin in ihrem nicht enden wollenden Abschied von ihrer Liebe, sich und der Welt, kann man intensiver, nuancenreicher wohl kaum transportieren – überragend. Aus einer Fülle weiterer sängerischer Glanzlichter möchte ich Simeon Esper hervorheben, der mit dem Lied des Hylas seinen fein-edlen Tenor erstrahlen ließ.

Am Ende gelange ich wieder zu Berlioz und der Frage, ob diese Oper einmal einen ähnlichen Stellenwert bei mir innehaben wird, wie so viele andere seiner Werke. Ich bewundere auch hier den Instrumentationsmagier. Die zweite Geistererscheinung toppt die erste noch an Ungeheuerlichkeit – Flageolett, höchste Höhen gegen tiefsten Bassgrund. Klingt so einfach, das Ergebnis lässt die Nackenhaare tanzen. Ebenso zeigt sich wieder der Schöpfer von Kühnheiten – die Intervalle direkt vor dem Liebesduett machen mich in bestem Sinne fertig. Und dann sind da diese unglaublichen Schönheiten, scheinbar aus dem Nichts, beispielsweise wenn jene unfassbar anrührenden Holzbläserfiguren, vor allem die der Flöten, Dido auf ihrem letzten Weg begleiten. Überhaupt Dido – was für ein unerhört endloses Ende. Die Trojaner sind ein Werk, das nicht leicht zu knacken ist, soviel habe ich gelernt. Aber ich möchte es gern weiter versuchen.

PS: Es mag vielleicht banal klingen, aber mir ist erst heute die verblüffende Ähnlichkeit im Grundkonflikt aufgegangen, welche die Trojaner mit der fast zeitgleich entstandenen Afrikanerin/Vasco de Gama von Meyerbeer teilt – hier wie dort dreht sich alles um eine Exotische Königin, die einem fremden Eroberer Asyl gewährt, sein Herz an ihn verliert und schließlich ihren Leben selbst ein Ende setzt, nachdem er sie verlassen hat. Zweimal Grand opéra – zweimal ganz große Oper.


Hector Berlioz – Les Troyens
Musikalische Leitung – John Fiore
Inszenierung – Lydia Steier
Bühnenbild – Stefan Heyne
Kostüme – Gianluca Falaschi
Licht - Fabio Antoci
Chor – Jörn Hinnerk Andresen
Leitung Kinderchor – Claudia Sebastian-Bertsch
Dramaturgie – Anna Melcher

Énée – Bryan Register
Chorèbe – Christoph Pohl
Panthée – Ashley Holland
Narbal – Evan Hughes
Iopas – Joel Prieto
Ascagne – Emily Dorn
Cassandre – Jennifer Holloway
Didon – Christa Mayer
Anna – Agnieszka Rehlis
Hylas / Hélénus – Simeon Esper
Priam – Chao Deng
Der Schatten Hectors / Mercure – Alexandros Stavrakakis
1. trojanischer Soldat / ein griechischer Führer – Jirí Rajniš
2. trojanischer Soldat / Soldat – Mathhias Henneberg
Hécube – Ute Selbig
Polyxène – Roxana Incontrera
Andromaque – Angela Schlabinger

Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Sinfoniechor Dresden – Extrachor der Sächsischen Staatsoper Dresden
Kinderchor der Sächsischen Staatsoper Dresden
Sächsische Staatskapelle Dresden

Artisten
Damen, Herren und Kinder der Komparserie